Der Ork der Königin (The Queen's Orc)
von jodancingtree, übersetzt von Cúthalion

Kapitel Achtzehn
Die unerwartete Gefahr

Von Edoras wandten sie sich nach Norden, über die weite Ebene von West-Emnet; sie war mit kleinen Dörfern gesprenkelt, jedes mit einer Reihe Gatter, von denen sich eines in das nächste öffnete, wo die Stuten weideten, bis sie ihre Fohlen warfen. Aber auf der offenen Ebene kamen sie an großen Pferdeherden vorbei, Die Hirten waren Knaben auf der Schwelle zum Mann, die wagemutig und auf dem bloßen Rücken ihrer Pferde ritten; sie ließen ihre Tiere sich aufbäumen, um vor den Soldaten von Gondor zu prahlen. Gelegentlich sah einer der Jungen den Ork, der mitten in der Kompanie rannte, und seine Späße nahmen ein jähes Ende, während er offenen Mundes hinter ihnen her starrte.

Jeden Abend schlugen sie eine gute Weile vor Sonnenuntergang ihr Lager auf; es nahm einige Zeit in Anspruch, die Zelte aufzuschlagen und das Essen für so viele vorzubereiten, und sie waren nicht in Eile. 

„Ich möchte, dass die Königin so bequem reist, wie wir es bewerkstelligen können, und wenn wir Lórien nicht vor dem Mittsommertag erreichen, dann macht das wenig aus,“ sagte Elladan, und Canohando stimmte zu.

Je länger auf der Straße, desto besser, dachte er, denn wie lange wird sie noch durchhalten, wenn sie sich einmal unter den Mallorns befindet? Er wollte nicht, dass sie litt, und er konnte in ihren Augen sehen, dass sie es tat; und doch schnürte sich angesichts der Gewissheit, dass die Königin dahinscheiden würde, die Kehle zu.

Sie überquerten die Entwäsche ohne Schwierigkeiten; sie war breit und flach genug, dass die Pferde hindurch waten konnten, fast ohne schwimmen zu müssen, außer ganz in der Mitte. Canohando biss die Zähne zusammen und ging an Arwens Seite in den Fluss, aber als das Wasser ihm bis zum Hals stieg, fiel er ein wenig zurück, packte ihr Pferd am Schweif und ließ sich von dem Tier durch den tiefsten Teil ziehen. Niemand sagte irgend etwas zu ihm, als sie auf der anderen Seite heraus kamen, aber Arwen bemerkte sein angespanntes Gesicht und zog ihre eigenen Schlüsse daraus. Bei der Überquerung des nächsten Flusses bestand sie darauf, dass er hinter ihr ritt. 

Das Land wurde wilder, während sie weiter nach Norden kamen, und sie erreichten eine Gegend mit wogenden Hügeln. Sie verbrachten den halben Tag damit, einen langen, steilen Abhang zu erklimmen, nur um beim Erreichen der Spitze festzustellen, dass sich auf der anderen Seite eines schmalen Einschnitts ein weiterer Hügel erhob, und jenseits davon noch mehr, soweit sie sehen konnten. Es gab wenige Bäume, nur das neue Frühlingsgras, das sich durch das tote Stroh des letzten Jahres schob. Aber in den geschützteren Vertiefungen schmiegten sich Blumen aneinander: Veilchen, weiß und purpurn, und Feenlilien in zartem Rosa mit goldenen Stempeln.

Im Westen saß ein dunkler Fleck auf dem Horizont. „Der Fangornwald,“ sagte Arwen, als Canohando sie darauf hinwies. „Zwei von den Hobbits, die mit Frodo gereist sind, gingen während des Ringkrieges dort hin.“

Canohando grunzte.

„Ich weiß; Neunfinger hat es mir erzählt. Ich begreife nicht, wie sie lebend wieder herausgekommen sind, aber er sagte, sie hätten es getan. Mein Vater hat uns immer mit den Ents gedroht, wenn wir nicht schnell genug gehorcht haben.“

Arwen betrachtete ihn überrascht. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass Canohando einen Vater gehabt haben musste, eine Familie.

„Hattest du Brüder und Schwestern?“ fragte sie.

Er lachte freudlos. „Dutzende,“ sagte er. „Orks vermehren sich wie Ungeziefer. Wir waren nicht so wie du und deine Brüder, Herrin.“ 

„Nein,“ sagte sie leise. „Ich vermute nicht.“

„Nein. Die Älteren schlugen die Jüngeren, und die Schwachen rotteten sich zusammen, um sich an den Stärkeren zu rächen. Wenn wir zu wild wurden, schlug mein Vater uns alle, und meine Mutter auch. Manche von uns haben nicht lang genug gelebt, um in den Krieg zu ziehen.“

Seine Stimme klang mühsam, und als Arwen die Hand ausstreckte, hielt er sich daran fest und klammerte sich selbst dann noch an ihre Finger, als er neben ihr her rannte.

„Was hast du gesagt, Lieber?“ Er murmelte etwas, das sie nicht mitbekam.

„Ich habe einen meiner – Brüder getötet. Er hat mich zum Scherz an einen Baum gebunden, zwei Tage, ohne Essen und Wasser. Endlich befreite ich mich, und dann habe ich ihm aufgelauert. Ich habe ihn durch das Herz geschossen.“

Er versuchte, Arwen seine Hand zu entziehen und starrte mit einem Gesicht wie Eisen geradeaus, aber sie wollte ihn nicht loslassen.

„In jenen Tagen warst du nicht Canohando, Lieber. Dieses Leben hast du hinter dir gelassen.“

Er sagte nichts mehr, aber er klammerte sich noch eine weitere Meile oder zwei an ihre Hand, bis sie anhielten, um die Pferde zu tränken. Als sie für die Nacht das Lager aufschlugen, kam er, nachdem sie gegessen hatte, und setzte sich im Feuerschein zu ihr.

„Kannst du mir trauen, Herrin, sogar jetzt noch? Nachdem du weißt, was ich getan habe?“

Sie spähte durch das Dämmerlicht und versuchte, in seinem Gesicht zu lesen. „Du bist mein Schatten,“ sagte sie. „Du bist Frodos Bruder, du bist der Kommandant der Kompanie der Königin, du wirst geehrt und geliebt von Arwen Abendstern, wie du es auch von Elessar dem König wurdest. Und du wolltest  nicht an den Wachleuten Rache nehmen, die versucht haben, dich umzubringen.“ Sie legte ihre Handfläche gegen seine Wange, und er seufzte, lehnte sich in ihre Hand hinein und schloss die Augen.

„Ich bin dein Schatten, Herrin,“ sagte er zustimmend.

Arwen wollte den Fangornwald nicht besuchen, als Elladan es vorschlug. „Ich bezweifle, dass die Ents froh wären, diese ganze Gesellschaft von Menschen und Pferden zu sehen, obwohl sie aus Höflichkeit versuchen könnten, sich das nicht anmerken zu lassen. Und Canohando wäre dort nicht Willkommen.“

Der Ork schnaubte, und Elladan betrachtete ihn neugierig. „Was weißt du von den Baumhirten, Ork? Von Mordor aus ist es ein langer Weg bis Fangorn!“

„Der Vater meines Vaters kam aus Moria. Es gab Händel dort zwischen den verschiedenen Orkrassen, und eine Gruppe von ihnen flüchtete in Richtung Mordor; sie begegneten Ents, auf der Ebene nördlich von Fangorn. Mein Großvater entkam, mit drei oder vier anderen. Danach hat er immer wieder Geschichten von den schrecklichen Ents erzählt.“ 

„Wir werden keinen Abstecher nach Fangorn machen,“ sagte Arwen.

Sie überquerten den Limklar; auf den Befehl der Königin hin saß Canohando auf dem Pferd hinter Elladan. Die Nordseite des Flusses war nicht so hügelig wie das Land, das sie gerade durchquert hatten, aber es war in dichten Wald gehüllt.

„Nun müssen wir wachsam sein“, sagte Elladan, „denn ein Trupp Orks könnte sich hinter diesen Bäumen verbergen, um uns überraschend aufzulauern.“

Der Weg durch die Wälder war schmal, und die Kompanie bildete eine lange Linie, zwei oder drei Männer nebeneinander. Sie sandten Kundschafter aus, die voraus und seitlich der Hauptgruppe ritten; doch trotz dieser Vorsichtsmaßnahmen erwarteten sie nicht wirklich, Feinde anzutreffen. Sie näherten sich Lothlórien, und es hatte jetzt seit vielen Jahren Frieden geherrscht. Als sie am zweiten Nachmittag weiter voraus Schreie hörten, dachten sie einen Moment lang, dass die Kundschafter Elben aus dem Goldenen Wald begegnet wären, die kamen, um die Königin Willkommen zu heißen und sie nach Hause zu geleiten.Dann hörten sie das Wehgeschrei zerfetzter Pferde und wussten es besser. 

„Zurück, Herrin! Zurück – aus ihrem Weg, Männer – fallt zurück!“ Canohando hatte Arwen bereits den halben Weg bis zum Ende der Kolonne gebracht, ehe Elladan noch damit fertig war, seine Männer zwischen den Bäumen zu verteilen.

„Wir stellen uns hier auf,“ sagte Elladan, während er sie postierte, „das ist besser, als ihnen in schmaler Linie entgegen zu marschieren, damit sie uns zu ihrem Vergnügen nieder hauen. Sie werden zu uns kommen, wer immer sie auch sind, und wir werden bereit sein!“

Sie warteten. Von den Kundschaftern weiter vorn kam kein Laut mehr, und die Männer, die seitlich Streife geritten waren, stießen zu ihnen, von den Schreien aufgeschreckt, aber gesehen hatten sie nichts. Der Wald war totenstill und starr, und dann drang ein Krachen aus dem Unterholz direkt nördlich des Weges, und eine monströse Gestalt stand zwischen den Bäumen. 

Elladan, der größte unter ihnen, hätte vielleicht die Gürtelschnalle dieser Kreatur berühren können, wenn er sich so hoch gereckt hätte, wie er reichen konnte. Nicht dass er sich an einen solchen Wahnsinn gewagt hätte, denn das Monstrum war so breit wie drei Männer und trug eine Keule, so dick wie der Oberschenkel eines einzelnen Mannes. Ein Bergtroll...

Während sie da standen und starrten, den Herzschlag ein Hämmern in den Ohren, erschien ein weiterer Troll neben dem ersten, und dann ein dritter. Elladan befeuchtete seine trockenen Lippen. Er hatte einmal gegen einen Troll gekämpft, aber das war lange her – in dem Krieg gegen den König von Angmar, und er war nur einer in einem großen Heer von Menschen gewesen. Und während er noch überlegte, wie er seine kleine Kompanie gegen diese Bedrohung führen sollte, kam ein vierter Troll den Weg entlang gemächlich auf ihn zu. Er hielt sich einen blutigen Knochen vor den Mund; unmöglich zu sagen, ob es der eines Menschen oder eines Tieres war. Ein hörbares Einatmen kam von den Männern, und sie fingen an, zurück zu weichen... dann drehten sie sich um und rannten blindlings davon. Sie stießen gegen Bäume und prallten zusammen, sie stolperten und fielen, rappelten sich aber sofort wieder auf, um weiter zu flüchten...

„Stehen bleiben!“ schrie Elladan. Er packte den Soldaten, der ihm am nächsten war und zerrte ihn herum, dem Feind entgegen. „Überlasst euch nicht der Furcht; wir haben schon früher gegen sie gewonnen!“ Der Mann, den er am Kragen hielt, schien sich wieder zu fassen; er straffte die Schultern und zog sein Schwert, und Elladan wandte sich zurück, um noch mehr von seiner zersplitterten Streitmacht zu sammeln.

Einige der Männer hatten sich zu kleinen Haufen zusammen gedrängt und sahen geradeaus, die Schwerter bereit; andere zauderten noch zwischen Mut und Flucht, und Elladan rannte zwischen ihnen hin und her und versuchte, sie bei der Stange zu halten; die ganze Zeit blickte er über seine Schulter zu den Trollen. Sie hatten sich um den Kerl auf dem Weg versammelt; sie stießen ihn herum und versuchten, ihm dem Knochen weg zu schnappen. 

Von hinten kam ein Schrei, und Canohando stürmte auf die Trolle zu; er duckte sich zwischen den Bäumen herein und heraus, von seinen Bogenschützen gefolgt. 

„Gebt es ihnen!“ brüllte er. „In die Augen – zielt auf die Augen!“ Fünfzig Bogensehnen sangen, und die Luft war voller Pfeile. Zwei Trolle stürzten kreischend hin, aber die anderen drangen vor. Die Bogenschützen wichen seitlich zur Rechten und zur Linken aus und schossen wieder und wieder, aber jetzt standen sie ihren Feinden nicht mehr direkt gegenüber; es war nicht leicht, ihre Augen zu treffen. Die Pfeile prallten von der dicken Haut der Trolle ab oder bohrten sich in Baumstämme, und die Trolle verließen den Weg und griffen an.

„Äxte!“ rief Elladan, seine Stimme eine Trompetenfanfare über dem Lärm, und ein Dutzend Männer mit Äxten stürzten vor. Der Fürst packte selbst eine Axt und schloss sich der Attacke an, und Canohando stellte seine Bogenschützen in einem weiten Kreis auf, so dass sie den Trollen erneut gegenüber standen, bereit zu schießen, wenn die Kämpfer mit den Äxten ins Hintertreffen gerieten. 

Ein weiterer Troll fiel den Äxten zum Opfer, aber der vierte entschlüpfte ihnen und stürmte den Weg hinunter, wo die Königin saß, von ihren Reitern umringt. Canohando warf sich nach vorne und rief: „Fort, Herrin! Bringt sie fort, ihr Männer!“, und die Pferde wendeten wie eines und galoppierten davon, Arwen in ihrer Mitte. Der Troll drehte sich unbeholfen herum, um den Bogenschützen entgegen zu treten, aber jetzt war er wachsam. Mit einer Hand schwang er einen stachelbewehrten Knüppel vor sich hin und her, die andere jedoch hielt er sich vor die Augen und beschirmte sie. Die Männer mit den Äxten kamen nicht in seine Nähe, und die Pfeile prallten harmlos von seinem massiven Arm ab.

Sechs oder acht Schritte drang er vor, und sie konnten ihn nicht zum Stehen bringen. Dann wich er aus; noch immer schwang er seinen Knüppel in weitem Bogen, um sich vor den Äxten zu schützen; nun machte er sich daran, die Königin zu verfolgen. Trotz seiner Körpermasse war er flink, und die Männer mussten rennen, um mit ihm Schritt zu halten.  Canohando hetzte voran; er ließ Elladan und alle anderen weit hinter sich. Als er sich dem Troll näherte, machte er eine seitliche Finte, und die Bestie schwang ihren Knüppel zu einem mächtigen Hieb, der ihn zerschmettern sollte. Doch der Ork sprang in die andere Richtung, ließ seinen Bogen fallen und warf sich gegen den riesigen Leib. Er fand Halt an der Kleidung des Trolls und zog sich Hand über Hand nach oben, als kletterte er ein Seil hinauf.

Jetzt saß er dem Geschöpf auf dem Rücken, und es konnte die Arme nicht weit genug nach hinten bringen, um ihn zu erwischen. Dann klammerte er sich an die Schultern des Trolls und schlang ihm einen Arm um den Hals. Er trieb sein Messer in die Kehle des Monsters, und das Blut schoss hervor – für einen langen Augenblick krallte und fummelte der Troll an dem Messer herum, doch dann – selbst noch im Fallen – pflückte er sich Canohando von den Schultern und schleuderte ihn zu Boden. Der Ork lag reglos und betäubt da; der Troll kippte nach vorne und direkt auf ihn, wobei er die Erde zum Beben brachte.

Die Männer der Kompanie hatten wie angewurzelt da gestanden, während sie gebannt Canohandos Zweikampf beobachteten; jetzt starrten sie entsetzt auf ihren gefallenen Feind. Sie wussten, der Kommandant lag unter dem hingeschlagenen Kadaver, aber sie konnten nichts von ihm sehen. Kein Laut war zu hören; sogar der Hufschlag der Männer, die Arwen fort und in Sicherheit brachten, war in der Entfernung verhallt.


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