Der Ork der Königin (The Queen's Orc) Kapitel Dreiundzwanzig Sie begruben Arwen dort, wo sie entschlafen war, im Ring der Bäume. Die Nachricht verbreitete sich niemand wusste, wie dass sie tot war; vielleicht gaben die Mallorns selbst sie flüsternd von Ast zu Ast weiter. Die Elben, die in Lórien geblieben waren, fanden den Weg nach Cerin Amroth, um Lebewohl zu sagen, darunter einige, die sich bisher nicht gezeigt hatten... aber selbst so waren es nicht mehr als insgesamt zwanzig. Und die Männer der Kompanie, die in Caras Galadhon gewesen waren, brachen sofort auf, als der Bote sie erreichte. Sie marschierten die Nacht hindurch, so dass sie in der Morgendämmerung eintrafen und Gras und Blumen unter ihren Füßen zertrampelten, während die Köche und ihre Gehilfen unter den Bäumen nach Feuerholz suchten. Elladan kam aus Arwens Pavillon, das Gesicht von Kummer und Schlafmangel gezeichnet. „Wo ist der Kommandant?“ wollte er wissen, und einer der Soldaten zeigte es ihm. Canohando saß ein wenig abseits, den Kopf auf die Brust gesunken. Auf der Erde neben ihm lag Malawen und schlief; sein Mantel war über sie gelegt worden wie eine Decke. Elladan stutzte einen Moment ungläubig; in seiner Angst um Arwen hatte er nicht bemerkt, dass Malawen dem Ork folgte wie ein Schatten. Tatsächlich war die kleine Elbin so zurückhaltend und scheu, dass er ihre Existenz beinahe vergessen hatte. Er machte einen Bogen um sie und legte dem Ork eine Hand auf die Schulter. Canohando schreckte hoch und sprang auf die Füße. „Bruder der Königin...“ Der Ork schien auch nicht geschlafen zu haben, es sei denn im Sitzen und bolzengerade, und Elladan wurde angesichts des Elends in seinen Augen von Mitleid bewegt. „Deine Kompanie ist hier, Kommandant,“ sagte er sanft. „Willst du den Befehl übernehmen? Ich möchte eine Ehrenwache für die Königin haben, und ein paar Männer, die das Grab schaufeln.“ Canohando holte tief Atem und nickte, ohne etwas zu sagen, Er beugte sich über Malawen. „Steh auf, Elbchen, bevor noch jemand auf dich tritt.“ Sie wurde munter und krabbelte auf der Stelle weg von ihm, die Augen vor Entsetzen geweitet. Canohando richtete sich auf und trat zurück, aber sie hatte sich bereits erholt. „Ist es Morgen? Schon gut, ich habe mich nur erschreckt, als du beim Aufwachen so dicht vor mir warst, das ist alles.“ Er führte sie zu einem der Frühstücksfeuer hinüber, ehe er sich seinen eigenen Pflichten zuwandte. „Gib ihr etwas zu Essen,“ sagte er zu dem Koch. „Sie ist zu dünn.“ Er rief Soldaten für die Ehrenwache auf und befahl einem Untergebenen, sie zu drillen, aber er allein ging hin, um das Grab zu schaufeln. Ein paar der Männer sahen ihn auf der Kuppe des Hügels und kamen ungefragt, um ihm zu helfen. Er wies sie nicht ab, doch er schuftete wie ein Besessener, begradigte die Ecken und sprang in das Loch hinunter, um die Seiten und den Boden zu glätten. Der Tag verstrich. Canohando bewegte sich mit gefasstem Gesicht unter den Männern und befehligte die Kompanie; er ließ sie die Waffen und Rüstungen polieren, bis sie wie Spiegel glänzten und sorgte dafür, dass die Zelte hinten bei den Bäumen aufgeschlagen wurden, so weit außer Sicht wie möglich. Endlich rief er nach Wasser und duckte sich in ein Zelt hinein, um den Schmutz abzuwaschen, aber der Soldat, der ihm reine Kleidung brachte, stand zögernd im Eingang und wagte nicht, herein zu kommen: der Ork saß auf einer Decke, flocht sich das nasse Haar und weinte mit rauem, erstickten Schluchzen. Als die Sonne hinter die Bäume sank, nahmen sie ihre Plätze draußen vor dem Pavillon der Königin ein. Der Kompanie formierte sich davor und dahinter, doch die Elben gingen hinein und brachten sie in einer Kiste aus Mallornholz nach draußen, poliert und eingelegt mit Mustern aus Blumen und Blättern, Kristall und Silber, und während sie sie den Hügel hinauf trugen, sangen sie Klagelieder in der uralten Elbensprache. Und Canohando ging Seite an Seite mit Elladan, ihrem Bruder, aber die, die zuschauten, hätten nicht sagen können, wessen Trauer die größere war. Sie waren Krieger, alle beide, grimmig und gefährlich von Erscheinung, und doch liefen ihnen die Tränen ungehemmt über das Gesicht. Sie öffneten den Sarg, damit jeder, der den Wunsch hatte, noch einmal einen Blick auf Arwen Abendstern werfen konnte, und Elladan und Canohando standen ihr zu Häupten und zu Füßen, während Elben und Menschen kamen, um ihr die letzte Ehre zu erweisen. Aber als alles vorüber war, beugte sich Elladan vor und küsste sie ein letztes Mal auf die Wange, und der Ork kniete neben dem Sarg nieder und hob ihre Hand an seine Lippen. Dann zogen sie ihr den Umhang über das Gesicht, befestigten den Deckel und ließen die Kiste in die Erde hinab. Danach, als das Grab aufgefüllt war, als alle Lieder gesungen waren und das Licht erstarb, da zogen sie einer nach dem anderen wieder den Hügel hinunter; alles war still bis auf das schlurfende Geräusch der Schritte. Doch auf der Wiese brannten die Kochfeuer; das Essen war fertig und Decken waren auf dem Boden ausgebreitet worden, auf denen sie sitzen konnten. Die Trauernden versammelten sich zum Leichenschmaus. Elladan saß bei den Elben und stocherte ohne Appetit in seinem Fleisch herum; aber reden wollte er. „Sind die anderen über das Meer gegangen?“ fragte er. „Über das Meer, oder nach Osten, um sich Thranduils Volk in Eryn Lasgalen anzuschließen.“* „Aber ihr seid nicht gegangen. Warum seid ihr zurück geblieben, wenn Lórien rings um euch Tag für Tag vergeht? Wie könnt ihr das ertragen?“ Der Elb, den er ansprach, war einer von denen, die gekommen waren, um Arwen zu dienen, bis sie sie alle fort schickte. „Wir wollten den Goldenen Wald nicht ganz und gar ausgestorben zurücklassen, für den Fall, dass Undómiel endlich zu uns zurückkehren würde. Aber nun, da sie zur Ruhe gelegt ist, will ich die Anfurten suchen. Es gibt nichts mehr, auf das man in Lórien noch hoffen kann.“ Und als Elladan die anderen befragte, hörte er die selbe Antwort wieder und wieder. „Nun werden wir fortgehen, ehe die Mallorns uns tot umstehen, ehe sie zu wanken beginnen und fallen...“ Ein paar wenige hatten die Absicht, sich zu Thranduils Königreich aufzumachen, aber die meisten würden dem Geraden Weg nach Valinor folgen. „Und du auch, Sohn von Elrond,“ sagten sie. „Komm mit uns in das Segensreich.“ Aber er gab ihnen keine Antwort. Als er allerdings zu Malawen kam, starrte sie ihn trotzig an. „Ich werde in Lothlórien bleiben! Es ist mein Zuhause!“ Und obwohl er versuchte, sie zur Vernunft zu bringen und sie daran erinnerte, dass sie ganz allein sein würde in diesem leeren Land, presste sie den Mund fest zusammen und wollte nichts mehr sagen. Endlich gab er auf und wandte sich Canohando zu; es verwunderte ihn nach wie vor, sie zusammen zu finden. „Du reist weiter ins Auenland? Das war der Wunsch der Königin.“ Der Ork nickte. „In das Land meines Bruders, aber zuerst nach Bruchtal, wie die Herrin mir befohlen hat,“ sagte er, und Elladan warf ihm einen scharfen Blick zu. „Bruchtal? Also, ich frage mich, warum - “, aber der Ork zuckte die Achseln. „Sie bat mich, dort hin zu gehen, Bruder der Königin.“ Doch nachdem Elladan weiter gezogen war, um mit jemand anderem zu sprechen, nahm Canohando Malawens Hand in seine beiden Hände. „Warum gehst du nicht nach Valinor mit deinem Volk? Du wirst hier ganz allein sein, und du bist frei, diesen Weg zu gehen.“ Er war verwirrt und besorgt, aber sie wandte den Kopf ab. „Ich bin von Orks gezeichnet. Ich passe nicht nach Valinor.“ Er runzelte die Stirn. „Du trägst Narben, Kleine - “ begann er, aber sie riss ihre Hand weg. „Ich bin ausgestoßen! Kannst du irgend einen Elb sehen, der meine Nähe sucht? Und ich bin kein Kind; ich bin nur verkrüppelt, entstellt - “ Er schüttelte den Kopf. „Für einen Elb bist du klein... wenn das deine volle Größe ist, aber entstellt bist du nicht. Ich bin weit schlimmer vernarbt als du.“ Sie hob abwehrend eine Schulter. „Du bist ein Ork, meinst du. Aber du siehst auch nicht übler aus als andere von deiner Art, und ich habe sowieso noch nie gehört, dass Orks auf Schönheit achten.“ Als Antwort stand er auf und zog sich die Tunika über den Kopf; er blickte sie an, nackt von der Mitte aufwärts. Selbst im Feuerschein konnte sie sehen, dass seine Brust kreuz und quer von bleichen Linien übersät waren, tief in die graue Haut gezeichnet, manche schmal, manche breit: Spuren der Peitsche. „Meine Hauptmänner haben mir etwas gegeben, das mich an sie erinnert,“ sagte er trocken, „und das Feuer hat es auch getan.“ Dann drehte er sich um und sie schnappte nach Luft und schlug sich die Hand vor den Mund; sein Rücken war von der Mitte bis zu den Schultern eine Masse runzeliger Narben, nicht rot wie die auf ihrer Wange, sondern schwarz, als wäre die Haut verkohlt. „In einer Sache hast du Recht, Elbchen: Orks sollten eher furchterregend aussehen als stattlich! Doch niemand trägt Narben wie diese ohne Schmerzen.“ Er streifte seine Tunika über und setzte sich wieder neben sie. „Geh mit deinem Volk in das helle Land,“ drängte er. „Es ist dein Geburtsrecht; wieso willst du es fortwerfen?“ Aber er konnte sie nicht überzeugen, und nach einer Weile sprang sie auf und schlüpfte zwischen den Bäumen davon. Canohando seufzte und kam auf die Beine. Noch immer saßen Leute auf der Wiese, Soldaten der Kompanie in kleinen Gruppen und die Elben abseits für sich; sie redeten leise miteinander. Er mied sie alle, stieg allein den Hügel hinauf und setzte sich dicht neben das frische Grab. Es war mit einem großen Felsbrocken markiert, ohne Aufschrift, aus einem weißen Stein, der schwach in der Dunkelheit leuchtete. „Dein Bruder wird deinen Namen in goldenen Buchstaben darauf setzen lassen,“ sagte er, als könnte die Königin ihn hören. Er hakte die Trommel von seinem Gürtel. „Ich werde ein Lied für dich machen, Herrin.“ Er beugte sich über die Trommel; seine Hände liebkosten sie beinahe, seine Stimme klang leise wieder von den kehligen Klicklauten und dem Zischen seiner Muttersprache. ***** Sie hielten sich nicht länger an diesem Ort auf. Am Tag nach dem Begräbnis standen die Elben bei Elladan, um Abschied zu nehmen; noch immer mahnten sie, er solle mit ihnen zu den Anfurten gehen. „Ich kann meine Männer nicht führerlos in der Wildnis zurücklassen,“ sagte er endlich, gerührt von ihrem Drängen, obwohl er von Zweifeln zerrissen war, was die richtige Entscheidung sein mochte. „Abgesehen davon erwartet mich mein Bruder in Minas Tirith. Doch ist er selbst eifrig darauf bedacht, den Geraden Weg zu nehmen, also kann es sein, dass ich euch wiedersehen werde.“ Als die Elben aber fortgegangen waren, suchte Elladan nach Canohando. „Marschier mit uns zurück nach Caras Galadhon,“ sagte er. „Wir müssen die Pferde holen und uns auf die Heimreise vorbereiten, und es liegt auf deinem Weg.“ Doch die Wahrheit war, dass es ihm widerstrebte, sich von dem Ork zu trennen. Er wünschte sich seine Kameradschaft noch ein wenig länger, und er wunderte sich sogar dann noch über diesen Wunsch, als er ihm bereits nachgab. Also ging Canohando mit ihnen, aber wenn die Soldaten in guter Ordnung marschierten, so tat er es nicht; er ging einmal neben diesem Mann und einmal neben dem anderen, denn mit vielen von ihnen hatte er in gewisser Weise Freundschaft geschlossen, obwohl er der Kommandant aller war. Doch nach ein paar Tagen in Caras Galadhon war alles bereit, und die Trennung konnte nicht länger aufgeschoben werden. „Ich sollte nicht um dich fürchten, Ork, nachdem ich dich im Kampf gesehen habe, und doch hasse ich den Gedanken, dich ohne Schildbruder in die Wildnis zu schicken,“ sagte Elladan. Er hielt Canohando eine Bronzenadel hin, so lang wie seine Hand, das Metall am Ende zu einem verwickelten Knoten gedreht. „Steck dir das durch die Tunika dort, an der Schulter. Es ist das Abzeichen der Waldläufer, an dem sie einander erkennen.“ Canohando nahm sie entgegen, aber er lächelte grimmig. „Damit wirst du mich umbringen, Bruder der Königin. Niemand wird mich mit einem Waldläufer verwechseln, aber sie werden leicht glauben, ich hätte einen ihrer Kameraden erschlagen und ihm seinen Schmuck abgenommen.“ Elladan zog eine Grimasse. „Das ist wahr. Also schön, steck sie weg, und ich werde dir als sicheres Geleit einen Passierschein mitgeben, den du vorzeigen kannst, wenn du sie so lange davon abhältst, sie zu töten, dass du die Gelegenheit dazu hast. Das Nördliche Königreich ist wohl bewacht und du wirst vorsichtig sein müssen. Ich wünschte, ich könnte mit dir gehen, aber Elrohir erwartet meine Rückkehr, und ich habe ihm mein Versprechen gegeben.“ In den Augen des Orks lag Humor, aber auch Zuneigung. „Du bist ein guter Mann, Bruder der Königin. Gern würde ich mit dir reisen, wenn unser Weg in die selbe Richtung führte, aber hab keine Angst um mich. Ein einsamer Krieger mag ungesehen durchkommen, wo ein Trupp Männer Feinde von allen Seiten anzieht. Gib mir dein Zeichen, wenn du willst, und ich habe die Karte der Herrin. Ich werde lebend in das Land meines Bruders kommen, wenn mein Schicksal es will.“ Doch als er den Passierschein sicher in seinen Gürtel gesteckt hatte, packte er den Elbenfürst an beiden Schultern und seine Finger gruben sich schmerzhaft im Elladans Fleisch. Sein Blick war wild und intensiv. „Geh mit deinem Zwilling nach Valinor! Geh um meinetwillen, wenn du es schon nicht um deinetwillen tust.“ Elladan nickte langsam und Canohando ließ ihn los und versetzte ihm mit der flachen Hand einen Schlag auf den Oberarm. „Gut! Leb wohl, Bruder der Königin! Sag den Valar, wenn du sie siehst, dass es einen Ork in Mittelerde gibt, der sie ehrt!“ Elladan starrte hinter ihm her, während er davon ging, und er wartete, bis er außer Sicht war, ehe er sich umdrehte und sich auf sein Pferd schwang. „Aufbruch!“ schrie er. „Lasst uns heimkehren, Männer von Gondor!“
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