Der Ork der Königin (The Queen's Orc)
von jodancingtree, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Vierundzwanzig
Das merkwürdige Bündnis

Canohando hatte sich daran gewöhnt, Malawen immer dicht bei sich zu finden. Zuerst konnte er nicht glauben, dass sie verschwunden war.

Er hatte sie weder auf dem Weg zurück nach Caras Galadhon gesehen noch während der wenigen Tage, die die Kompanie dort nach dem Tod der Königin verbracht hatte, aber er hatte auch nicht nach ihr gesucht. Er war mit Elladan und seinen Männern beschäftigt gewesen, er hatte ihnen geholfen, sich für die Heimreise nach Gondor vorzubereiten; er war sich der Tatsache bitter bewusst, dass er sie kaum jemals wiedersehen würde, diese Menschen, die seine Freunde geworden waren. Er hatte angenommen, das Elbenmädchen wäre irgendwo in der Umgebung und würde sich außer Sicht halten. Noch immer dachte er an sie als an ein Kind, obwohl sie darauf bestand, erwachsen zu sein.

Aber nun war er schon seit Tagen unterwegs, und es gab kein Zeichen von ihr. Er war vorsichtig und erinnerte sich daran, dass er keine Heerschar Soldaten mehr hatte, die ihm den Rücken deckte; er war wieder allein, wie er es gewesen war, als er seine Berge verließ. Aber damals hatte das Fieber, die Herrin des Juwels zu finden, ihn angetrieben. Monatelang war er reizbar gewesen, und der Hunger nach etwas, dem er keinen Namen geben konnte, hatte ihn ganz und gar erfüllt und alles andere ausgeschlossen. Nun war er leer.

Hätte er Arwen nicht versprochen, das Auenland und Bruchtal zu finden, er wäre vielleicht geblieben, wo er war, inmitten der sterbenden Mallorns. Er hätte sich auf Cerin Amroth ein Heim geschaffen und eine kleine Hütte gebaut, die ihm Zuflucht bot; er hätte für immer und ewig in Sichtweite des weißen Steines gelebt, unter dem seine Herrin schlief. Aber er hatte es versprochen.

Nach einigen Tagen kam er auf eine weite Ebene hinaus. Ein zerklüfteter Schatten gegen den westlichen Himmel zeigte ihm, wo die Berge lagen, und in Richtung Osten befand sich ein weiterer Baumgürtel, nicht so hoch wie die Mallorns, und blattlos im Vorfrühling. Der große Fluss muss dort liegen, dachte er und erinnerte sich daran, dass Arwen ihm gesagt hatte, er sollte dem Fluss nordwärts folgen. Er zog sich unter die Mallorns zurück; er würde sich nicht in freie Sicht hinaus wagen, solange es Wälder gab, die ihm Deckung boten. Er wandte sich de Fluss zu, der sein Pfad nach Norden sein würde und blieb einen Steinwurf weit innerhalb der Grenzen von Lórien.

Er versuchte, sich das Gesicht der Königin vor sein inneres Auge zu rufen, während er wanderte, aber es war Malawens bleiches, kleines Gesicht, das statt dessen zu ihm kam, ihre Augen aufgebracht und herausfordernd. Vielleicht ist sie doch noch nach Valinor gegangen. Ich hoffe, sie hat es getan. Er hoffte es wirklich; er hatte sie dazu gedrängt, mit den anderen Elben zu gehen, aber er vermisste sie. Er hatte nicht gewusst, wie sehr er sie vermissen würde.

Einer der Elben war zu ihm gekommen, bevor sie alle abreisten; er trug einen Beutel aus weichem Leder über der Schulter. „Bist du der, den sie den Schatten der Königin nennen?“ hatte er gefragt, und als Canohando bejahte, hatte er ihm den Beutel gereicht. „Herr Elladan bat mich, dir einen Vorrat an Lembas für deine Reise zu geben.“ Er betrachtete Canohando neugierig. „Es war merkwürdig genug, einen Zwerg mit unserer Nahrung zu versorgen, während des Krieges – und nun einen Ork! Aber nach allem, was ich höre, bist du kein gewöhnlicher Ork. Arwen Undómiel hat ein paar eigenartige Bewunderer angezogen...“

Er war auf der Hut, aber nicht feindselig, und als er die Königin erwähnte, lächelte Canohando. „Wer hätte die Königin sehen können, ohne sie zu lieben?“ fragte er, und der Elb klopfte ihm auf die Schulter. Als er sich abwandte, sagte er etwas in der Elbensprache, aber alles, was Canohando aufschnappen konnte, war der Name Elbereth. Es war Monate her, seit Arwen ihn Elbisch gelehrt hatte, und er hatte viel davon wieder vergessen.

Doch er war dankbar für das Essen: ein Lagerfeuer mochte Feinde anziehen. Er würde sein Fleisch roh essen müssen, und das war den alten Tagen zu ähnlich für seinen Seelenfrieden, selbst wenn der Geschmack ihn nicht abgestoßen hätte. Dank der Lembas musste er weder jagen noch kochen, und als die Dunkelheit herab sank, kletterte er auf einen der Mallorns und ließ seine Hängematte von den Zweigen herab hängen.

Er wurde von Stimmen geweckt, und von einem glühenden Lichtschein unter seinem Baum; er blickte hinunter und sah ein Trüppchen Orks, die sich um ein Feuer versammelten und Fleischbrocken auf den Spitzen ihrer Messer brieten. Es waren drei, und er dankte im Stillen dem Schicksal, dass er es nicht riskiert hatte, auf der Erde zu schlafen. Dann ertönte ein wenig von der Seite ein Freudengeheul und ein weiterer Ork kam in Sicht. Er trug etwas, das sich wand, das schrie und vergeblich versuchte, zu entkommen.

„He, schaut mal, was ich versteckt hinter einem Baum gefunden hab, Jungens! Hier is' ein bisschen Spaß, um die Zeit herum zu bringen – sieht so aus, als ob ein paar von unseren Kumpels schon mal dran waren, aber da is' noch jede Menge Leben drin.“ Er warf seine Gefangene neben das Feuer und sie sprang auf, um zu flüchten; doch ein anderer Ork packte sie am Knöchel und zerrte sie zurück, während sie kreischte.

Elbchen! Canohando bekam den Zweig über seinem Kopf zu fassen und zog sich hoch, bis er aufrecht stand; er zwang seinen Geist, kalt und ruhig zu bleiben. Er schnappte seinen Bogen von dort, wo er hing und kroch an einem kräftigen Ast, der über das Feuer hing, nach vorne.
Der Ork hielt Malawen auf den Boden gepresst, und sie war jetzt still, aber sie kämpfte noch immer, sie schlug und trat um sich bei dem Versuch, sich zu befreien. „Nich' so fix, Molkegesicht, nich' so fix! Hast den Brand schon ein bisschen geschmeckt, was?“ Er grub seine Finger in ihr Haar und zerrte ihr Gesicht ins Licht. „Na ja, nur ein bisschen. Also, das bringen wir für dich in Ordnung. Heute Nacht machen wir dich anständig fertig, verlass dich darauf!“

Er gab ein grässliches Lachen von sich... und dann würgte er und langte sich an die Kehle, in dem Versuch, den Pfeil herauszuziehen, der plötzlich daraus erblühte. Malawen war auf den Beinen, noch ehe er fiel. Sie warf sich aus dem Feuerschein und in die Dunkelheit dahinter, und die anderen machten keine Bewegung, sie aufzuhalten. Sie starrten verblüfft den Baum an, ehe sie hastig aus der Helligkeit zurückwichen.

Canohando lag reglos auf dem Ast und wartete. Ein Pfeil flog an ihm vorbei und prallte von dem Stamm des Mallorn ab. Immer noch wartete er: er konnte die Orks unter sich lärmen und sich gegenseitig anbrüllen hören, und zwei weitere Pfeile segelten an ihm vorbei, ein bisschen weiter weg. Mach, dass du auf einen Baum kommst, Elbchen, befahl er im Stillen. Er spähte nach unten und versuchte zu sehen, wo die Orks hin gegangen waren.

Unter ihm ertönte ein Geräusch, und er sah etwas Dunkles, das nach oben und auf ihn zu kletterte. Er ließ den Ork an sich vorbei und schwang sich auf den Boden hinunter, leise wie eine Katze. Ein Stück weiter weg waren Schreie zu hören, und etwas, das wie das Aufkreischen eines Sterbenden klang. Canohando wandte sich mit wild pochendem Herzen in diese Richtung. Vorsicht, Ghul-rakk, warnte er sich selbst und kehrte in seiner entsetzlichen Angst um das Elbenmädchen zum Namen seiner Kindheit zurück. Falls das ihre Stimme war, dann ist sie schon tot, aber wenn nicht, dann tut es niemandem gut, wenn du in eine Falle rennst!

Eine Stimme erhob sich hinter ihm, und er drückte sich flach gegen einen Baum. Der Ork, der im Mallorn gewesen war, stolperte an ihm vorbei, und von weiter vorn antwortete ihm ein Schrei.

„Shaffa is' hinüber! Da is' ne ganze Bande von denen, diesem Dreck – lass uns hier abhauen!“

„Wo is' die kleine Weißhaut?“

„Weg geflogen wie ein Vogel, nach allem, was ich weiß! Was soll's – das hier is' kein Platz zum Spielen, und es macht zuviel Mühe, sie mitzuschleppen, auch wenn wir sie finden könnten. Komm schon, verflucht!“

„Jetzt halts Maul, du Narr – aaaaieee!“ Es war ein panisches Quäken. „Das war zu dicht dran, war das! Los doch - “

Die Stimmen verklangen, aber Canohando konnte noch immer Bewegungen hören; sie waren jetzt gleichmäßig, während die Orks versuchten, im Stillen zu flüchten. Er presste sich gegen den Baumstamm und wagte kaum zu atmen, während er den schwachen Geräuschen ihres Rückzuges lauschte, und er blieb noch lange Zeit reglos, nachdem er sie nicht mehr hören konnte. Endlich entspannte er sich und fing an, sich den Weg durch die Finsternis zu ertasten.

„Elbchen?“ Seine Stimme war nicht mehr als ein Hauch, aber aus dem Zweigen über ihnen kam eine Antwort.

„Hier,“ flüsterte sie, und binnen eines Herzschlages war er auf dem Baum.

Es war zu dunkel, um irgend etwas zu sehen, aber er fand sie durch Berührung; als er die Hand ausstreckte, um nach einem Ast zu greifen, traf er auf ihre Finger. „Elbchen!“ würgte er; er fühlte sich, als hätte ihn jemand an der Kehle gepackt. Er kletterte auf den Zweig, auf dem sie saß und zog sie mit sich gegen den Stamm. Dann schloss er die Arme um sie, als würde er sie nie wieder loslassen, hielt sie fest und murmelte ihr ins Ohr. „Elbchen... Elbchen...“

Sie zitterte. Ihr Körper war einen Moment steif und widerstrebend, aber dann sank sie gegen Canohando, klammerte sich an ihn und schmiegte ihren Kopf an seine Brust. Er konnte spüren, wie sie in seinem Umarmung schauderte und legte seine Wange gegen ihr Haar.

„Elbchen, was tust du hier? Ich dachte, du wärst mit deinem Volk fort gegangen.“

„Ich habe dir doch gesagt, ich passe nicht nach Valinor.“ Ihre Stimme klang angestrengt, und sie räusperte sich. „Ich dachte, ich würde allein bleiben, aber ich hatte Angst...“

„Du bist mir gefolgt? Du bist verstohlener als Nebel im Flussbett! Aber wieso hast du dich versteckt gehalten?“

„Ich glaubte nicht, dass du mich mitkommen lässt.“

Seine Arme schlossen sich enger um sie. „Nein. Ich hätte dir gesagt, du sollst nach Valinor gehen.“ Doch er war froh, dass sie es nicht getan hatte.

„Ich kann nicht,“ sagte sie. „Nimm mich mit, Canohando.“

Irgendwo in ihm öffnete sich eine Tür; fast konnte er Lashs Flöte wieder hören, und Frodos klare, melodische Stimme, die warm und fröhlich sang.

„Du solltest bei deinem Volk sein - “ begann er, aber er meinte es nicht, nicht mehr, und wieder sagte sie:

„Ich will mit dir gehen. Wenn ich nicht neben dir wandern darf, dann laufe ich dir eben hinterher.“ Sie ließ es wie eine Drohung klingen, und er lachte leise und gedämpft in ihr Haar.

„Ich werde dich nach Bruchtal bringen,“ sagte er. „Ein paar Elben sind immer noch dort, glaube ich.“
Er spürte, wie sie nickte. „Na gut. Mich kümmert es nicht, wohin wir gehen.“

Er wollte sie nicht aus ihrer Zuflucht herunter klettern lassen, während die nach noch andauerte. „Wir sind hier außer Sicht besser aufgehoben, Kleine. Leg dich schlafen; ich werde dich nicht fallen lassen.“ Er suchte sich eine feste Stütze gegen den Baumstamm und hielt sie sicher in den Armen.

Endlich schlief sie, ein warmes, schlaffes Bündel an seinem Herzen, und er hielt die ganze Nacht hindurch Wache; er beobachtete durch Lücken zwischen den Zweigen die Sterne und atmete den Duft ihres Haars ein. Zufriedenheit schien ihm bis in die Knochen zu sinken; er fühlte sich ruhiger als je zuvor und war sich gleichzeitig jedes nächtlichen Geruchs und Geräusches durchdringend bewusst.

Als der Morgen kam, stieg er hinunter, vorsichtig und wachsam, und er folgte den Orkspuren über weite Wege hinweg: er stellte sicher, dass sie fort waren, ehe er erlaubte, dass Malawen ihr Versteck verließ. Er fand die Leiche von einem der Orks ein paar Meter von dem Baum entfernt, einen Pfeil im Auge – aber es war nicht einer von seinen Pfeilen. Auf dem Rückweg sammelte er seine Hängematte und die Lembas ein; der Ork, den er erschossen hatte, lag immer noch neben dem nieder gebrannten Feuer.

„Bist du ein Bogenschütze, Kleine?“ fragte er, als er sie von dem Baum herunter gerufen hatte.

„Warst du das, die letzte Nacht den zweiten Ork erschossen hat?“ Sie wandte sich leicht ab und zeigte ihm den Köcher, der um ihren Rücken geschlungen war, und er lachte entzückt.

„Sie haben einen Drachen gejagt, diese Kerle! Gut für dich, Elbchen - “

„Du hast mich gerettet,“ unterbrach sie ihn.

„Ich habe dich gerettet,“ sagte er, „aber vertrieben haben wir sie gemeinsam. Komm, wir werden das Wegbrot essen, während wir laufen – sei jetzt leise; in der Gegend könnte es noch mehr Feinde geben.“

Er beschrieb einen Zickzack-Kurs zwischen den Mallorns hindurch; eine graue Gestalt, kaum von den Schatten zu unterscheiden, die sich auf dem Waldboden regten, während die hohen Zweige im Wind schwankten. Und Malawen hinter ihm schien eins zu sein mit den Wäldern; ihr Gewand hatte die selbe Farbe wie die neuen, kleinen Sämlinge, die den Grund deckten wie ein Teppich; ihr bleiches Haar und ihre Haut waren wie Sonnenstrahlen, die durch die Bäume drangen. Es hätte tatsächlich einen wachsamen Feind gebraucht, um einen der beiden zu entdecken.

Canohando blickte zurück und ihre Augen begegneten sich, Sie lächelte, und von der Lieblichkeit ihres vernarbten Gesichts stockte ihm fast der Atem. Zuvor hatte sie immer mürrisch oder wütend ausgesehen, ihr Zauber hinter Wolken verborgen, aber heute war sie wahrhaft elbenschön. Er schaute wieder nach vorne, zwischen Freude und Wildheit schwankend; sie traute ihm, diese Kleine, und er würde nicht darin versagen, sie zu schützen!


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