Der Ork der Königin (The Queen's Orc) Kapitel Neunundzwanzig Am nächsten Tag ritt Malawen ohne Fesseln hinter Erenu, die Hände lose um seine Mitte gelegt, und Canohando rannte neben ihnen her, nach wie vor gebunden. Als sie abends anhielten, führte Erenu sie zu einem kleinen Strom hinüber. „Weich deine Füße ein, Grauhaut. Ich weiß nicht, wie du es fertig bringst, mit ihnen zu laufen, in ihrem Zustand.“ Malawen schaute auf Canohandos Füße hinab und gab einen Schrei der Bestürzung von sich, aber der Ork stieg in den Fluss und kniete sich auf der Stelle hin; er tauchte sein Gesicht in das Wasser und trank, als wollte er ihn austrocknen. Er hob seinen Kopf lange genug, um zu atmen und trank erneut, wieder und wieder, bis sie über sein Fassungsvermögen staunten. Als er endlich fertig war, legte er sich der Länge nach auf den Rücken. Nur noch sein Gesicht schaute aus dem Wasser. „Ich war so ausgedörrt, dass ich geglaubt habe, ich würde irgendwann eines Tages meine gebleichten Knochen in einem Haufen am Wegesrand zurücklassen.“ Er tauchte unter, füllte seinen Mund mit Wasser und schoss zwischen den Zähnen einen Springbrunnen in die Luft. Malawen brach in Gelächter aus, und sogar Erenu schmunzelte... so ungewohnt war ein Ork in spielerischer Laune. „Hätte ich das gewusst, du wärst nicht durstig geblieben,“ sagte der Elb. „Vergib mir. Aber nun musst du herauskommen, ehe Itaril davon hört. Ich glaube, dass wir dem Wort trauen können, das du gegeben hast, aber ich bin sicher, unsere Anführer würden es nicht tun, und ich muss dich binden.“ Canohando rollte sich auf den Bauch und kam auf die Knie; er erhob sich in einem Schwall Wasser aus dem Flussbett. „Ich danke dir Freund.“ Doch bei diesem Wort verschloss sich Erenus Gesicht. „Ich bin keines Orkes Freund,“ sagte er kurz. „Nur würde ich einen Gefangenen nicht misshandeln, von welcher Art auch immer.“ Nichtsdestotrotz löste er, als er Canohando an einen Baum fesselte, die Seile um seine Handgelenke: er wickelte sie ihm nur um den Leib und ließ die Arme frei. „Die Wachen beobachten dich, und ich werde deine Arme binden, bevor ich schlafe. Jetzt bewege sie und versuche, die Schwellung in deinen Händen zu mindern.“ Er brachte ihnen Brot und einen Schlauch Wein, dazu einen kleinen Behälter aus Rinde, den er Malawen reichte. „Reib ihm damit die Füße ein, wenn du willst. Es sollte helfen.“ Die beiden aßen, und sie massierte seine aufgeschürften und blasenbedeckten Füße mit der Salbe. „Wenigstens ist da einer unter ihnen, der den Titel ,Schönes Volk' verdient, und doch will er nicht annehmen, dass ich ihn Freund nenne,“ sagte Canohando. „Allerdings nur einer. Wir sollten immer noch flüchten, wenn wir können,“ erwiderte sie. Er starrte sie verblüfft an, „Elbchen, ich habe mein Versprechen gegeben; du hast mich gehört. Ich habe versprochen, mit ihnen nach Bruchtal zu gehen und jedes Urteil anzunehmen, das Celeborn fällt.“ „Ein Versprechen, das unter der Androhung des Todes gegeben wurde? Wie viel ist das wohl wert? Und Celeborns Urteil mag genau so gut der Tod sein, für dich oder uns beide.“ Er nickte ernst. „Mag sein. Und ein Versprechen ist ganz genauso viel wert, wie du es willst. Für mich bedeutet es alles.“ „ „ Sogar dein Leben? Und meines auch?“ Ihre Augen waren so riesig und dunkel, dass er das Gefühl hatte, er könnte hineinfallen und darin ertrinken. Er zögerte. „ Es war mein Versprechen,“ sagte er endlich. „Ich habe dich vorher nicht gefragt. Und doch hast du zugestimmt, als du von dem Baum herunter gekommen bist.“ Sie antwortete nicht, und er seufzte. „Mein Kümmerling hat seine Bürde auf sich genommen und erwartet, dass er sie umbringt... wenn er sie denn überhaupt dort hintragen konnte, wohin er musste. So klein war er, kleiner als du, Elbchen, und doch hatte er ein so großes Herz. Er dachte, er würde sein Leben wegwerfen, und trotzdem ist er gegangen. Aber er lebte noch viele Jahre danach, und er kam nach Mordor und machte mich frei. „Die Königin und ihre Brüder waren die einzigen Elben, die ich kannte, und ich dachte, die gesamte Art wäre so wie sie. Jetzt weiß ich es besser, und ich hoffe, dass Celeborn so ist wie die Herrin, und nicht so wie Itaril! Aber sie hat ihr Vertrauen in mich gesetzt, und ich möchte ihr Andenken nicht beschämen... dass es närrisch war von ihr, mir zu glauben.“ Malawen hatte ihm störrisch den Rücken zugekehrt, aber jetzt kam sie und setzte sich neben ihn. „Es ist Itaril, der sich aufführt wie ein Narr, wenn er dir nicht traut. Und du glaubst an mich, oder du hättest nicht dein Wort gegeben.“ Sie nahm seine Hände, rieb sie und knetete die Steifheit aus den Fingern. „Das hätte ich schon früher tun sollen. Nein, Celeborn ist nicht wie Itaril. Ich werde mich an dein Versprechen halten.“ Sie waren einer gewundenen Straße zwischen den Hügeln hindurch gefolgt, aber während die Tage verstrichen, wurde sie steiler und schmaler. Der Reiterzug verlangsamte sich zu einem langsamen Schritt, alle hintereinander in einer Reihe, und Canohando wurde an den Rand des Weges gedrängt. An manchen Stellen fiel er steil und viele Meter in die Tiefe ab; Malawen erbleichte und klammerte sich fester an Erenus Mitte. Sie rief dem Ork Warnungen zu, doch der Ork lachte. „Diese kleinen Hügel sind gar nichts; warte, bis wir in die wirklichen Berge kommen, Da, schau voraus, Elbchen! Siehst du, wie das Licht von den Schneefeldern zurückstrahlt? Das ist so wie mein Heimatland.“ Seine Füße waren auf dem felsigen Saum so sicher wie die einer Ziege, und er legte den Kopf in den Nacken, um die Höhenzüge zu betrachten, die sich allmählich rings um sie erhoben, das Gesicht erfüllt von freudigem Jubel. „Ich bin froh, wieder Berge zu sehen, was immer danach auch kommt,“ sagte er ein wenig leiser, und Erenu schaute ihn voller Mitleid an, bevor er wieder geradeaus blickte, die Lippen zu einer harten Linie zusammen gepresst. Als sie zum Pass kamen, befanden sie sich unter der Schneegrenze, aber sie konnten noch immer meilenweit den Weg zurückschauen, den sie gekommen waren, und auch die Straße voraus. Sie schlugen dicht unter dem Gipfel das Lager auf, und als Erenu für die Nacht fesselte, zeigte der Ork auf einen Baum, der ein wenig abseits stand. „Bring mich dorthin, Erstgeborener, wo ich sehen kann, wie die Sonne hinauf in den Himmel springt und morgen früh den Schnee wie mit Blut befleckt. Hast du je Klebriges Maul in den Bergen gejagt?“ „Was soll ich gejagt haben?“ „Einen Bären. Habt ihr denn keine ehrenvollen Namen für eure Beute? Ich würde es nicht wagen, sie bei ihren üblichen Namen zu nennen; sie könnte gekränkt sein und sich verbergen! Oder jagen die Elben nicht?“ Erenu lächelte; er erinnerte sich an manch einen Morgen zu Hause, wie er mit gespanntem Bogen im weißen Nebel an einem Pfad gekauert hatte, der selbst mit scharfen Elbenaugen kaum zu sehen war, um darauf zu warten, dass ein Hirsch vorüber kam. „Wir jagen,“ sagte er. „Ich bin allerdings noch nicht hinter einem Bären her gewesen. Dafür würde man eine sehr große Jagdgruppe brauchen.“ „Du wirst es eine orkische Lüge nennen, wenn ich dir sage, dass ich zusammen mit zwei Gefährten einen Bären getötet habe, von denen einer ein Halbling war,“ sagte Canohando. Der Elb verknotete das Seil ein letztes Mal und richtete sich auf. Er stand einen Moment da und betrachtete Canohando nachdenklich; die schweren Brauen, die schwarzen Augen, brunnentief und in diesem Moment voller Humor. „Nein,“ sagte er, „ich werde es keine Lüge nennen, wenn du mir sagst, dass es so ist. Du könntest zu allerhand Dingen imstande sein, Grauhaut, seien sie gut oder böse.“ Das Lächeln verschwand aus dem Gesicht des Orks. „Das ist ein wahres Wort,“ sagte er. Während sie aus der Höhe herabstiegen, wurde Malawen immer stiller. Die Straße suchte sich ihren Weg durch eine felsige Klamm, an einem Bach entlang, der sich zu einem Fluss verbreiterte, während er hügelabwärts floss. Das Wasser schäumte über kleine Katarakte, schoss zwischen steilen Ufern hindurch, und Regenbögen bildeten sich über den Stromschnellen. Mit seiner Erzählung von der Jagd hatte Canohando Erenus Schutzwall durchbrochen, und er und der Elb tauschten Geschichten über Jagdzüge aus, Der Ork hielt sich dicht bei ihnen, damit sie einander über das Rauschen des Wassers hinweg hören konnten. Aber Malawen hatte nichts zu sagen; nur manchmal streckte sie eine Hand aus und berührte Canohando, wie zur Beruhigung. „Noch ein Tag bis Bruchtal, es sei denn, wir werden aufgehalten,“ meinte Erenu, als er ihnen Abends etwas zu Essen brachte. Sobald er sich abwandte, sank Malawen auf dem Boden zusammen, als würden ihre Beine sie nicht mehr tragen. „Nur noch einen Tag?“ Alle Farbe war ihr aus dem Gesicht gewichen, und sie leckte sich die Lippen. Canohando streckte die Arme aus. Erenu hatte ihn wie üblich an den Baum gebunden, aber er machte sich nur noch selten die Mühe, dem Ork die Hände zu fesseln... nur noch dann, wenn Itaril oder Galuir zufällig zusahen. „Komm her, Kleines. Es war doch gar nicht so eine furchtbare Reise, oder nicht? Aber um die Wahrheit zu sagen, meine Füße werden froh sein, wenn sie zu Ende geht. Ich wünsche, ich hätte meine Stiefel angehabt, als sie uns gefangen genommen haben.“ „Wie kannst du so ruhig sein? Noch ein Tag, höchstens zwei, und sie werden uns vor Celeborn bringen. Kennen Orks denn keine Furcht?“ Sie lehnte sich wieder gegen ihn und zog seine Arme um sich; er ließ sein Kinn auf ihrem Kopf ruhen. Es dauerte einen Augenblick, ehe er antwortete. „Ich frage mich...“ sagte er endlich. „Ich habe mich manchmal entsetzlich gefürchtet, aber jetzt habe ich vor allem Angst um dich, Elbchen. Lass nicht zu, dass es dich in die Finsternis stößt... was immer auch in Bruchtal passiert. Versprich es mir.“ Sie drehte sich in seinen Armen um und vergrub ihr Gesicht an seiner Brust, so dass ihre Stimme gedämpft war. „Ich bin schon in der Finsternis. Du kennst mich nicht, Canohando.“ Zum hundertsten Mal machte er sich Vorwürfe, dass er sich an der Grenze des Düsterwaldes hatte übertölpeln lassen. Wäre er doch bloß verborgen geblieben und hätte den Elb dort erschossen, wo er saß! Aber nein, das war der alte Weg, der Weg der Orks. Der Elb hatte sich ausgeruht, ohne etwas von der Gefahr zu ahnen, in der sich befand. Und doch, er war trotz allem ein Feind. Sind sie denn so verschieden von meiner Rasse, diese Elben, die über die Unschuldigen herfallen, die uns fesseln und verschleppen? Und doch hätten Orks uns inzwischen längst erschlagen. Er seufzte. „Hast du den Juwel noch?“ fragte er leise. Sie nickte, und er küsste sie auf den Kopf. „Trag ihn, wenn du in Sicherheit bist und sie ihn dir nicht mehr abnehmen.“ „Nein! Ich werde ihn dir zurückgeben, und du sollst ihn tragen! Celeborn wird dich nicht verdammen, er kann nicht, er darf nicht..“ „Schsch, Elbchen, schsch...“ Er hielt sie dicht an sich gedrückt, streichelte ihr das lange Haar und wickelte sich kleine Strähnen davon um die Finger. „Er ist ein weiser Herr, sagst du, und mit der Herrin verwandt. Wir werden nicht verzweifeln, jetzt noch nicht. Aber ich würde gern haben wollen, dass du den Juwel trägst, wie immer die Geschichte auch ausgeht, denn er wird dir helfen, die Finsternis zurück zu halten.“ Und während er ihr Mut zusprach, erwachte seine eigene Hoffnung wieder zum Leben, Als er nach Gondor gekommen war, um die Herrin zu suchen, war er sich sicher gewesen, dass er sterben würde. Statt dessen hatte er einen König entdeckt, den er verehren, und eine Königin, die er lieben konnte. Und nun hatte er seinen Herzenstrost in dieser Kleinen gefunden, die doch kein Kind war, dieses Elbenmädchen voller Zärtlichkeit und Wut und tiefen Verletzungen, die auf irgendeine Weise noch dem dunkelsten Tag Licht verlieh. Ich gehe nach Bruchtal, wie die Herrin es mir befohlen hat, auch wenn ich als Gefangener dorthin gehe, dachte er. Sie hätte uns nicht in die Vernichtung geschickt. Der Morgen kam mit einem Nebelschleier, der sich auch dann nicht hob, als die Sonne aufging; vielmehr machte das Sonnenlicht den Nebel undurchsichtig und golden, so dass sie in jede Richtung nur ein paar Meter weit sehen konnten. Sie gingen vorsichtig und ertasteten sich halb den Weg, während der Fluss ihnen unsichtbar in die Ohren murmelte. Der Pfad war schmal, und sie waren einmal mehr zu einer langen Linie auseinander gezogen. Etwa eine Stunde, nachdem sie aufgebrochen waren, kam die Reihe plötzlich zum Stehen, aber Erenu und seine Gefangenen, die sich fast in der Mitte befanden, konnten nicht sehen, was den Aufenthalt verursachte. Sie hatten einige Zeit reglos da gestanden, als Galuir sich von der Spitze seinen Weg zu ihnen bahnte, und hinter ihm her kam ein Mann mit einer Haut, die so dunkel war wie Baumrinde, gekleidet in ein Gewand von der selben Farbe. Die Elben wichen vor ihm zur Seite, aber Canohando stieß einen Schrei aus und machte einen Satz nach vorn; er wurde von dem Seil gezügelt, dass ihn an Erenus Pferd verankerte. „Brauner! Alter Mann! Wenigstens du bist nicht tot aber du bist weit weg von den Bergen, wo ich dich zuletzt gesehen habe!“ „Also bist du es wirklich, Canohando! Ich dachte mir, dass es so sein muss, als ich hörte, dass ein Ork gemeinsam mit einer Gruppe Elben nach Bruchtal unterwegs ist. Aber wieso bist du gefesselt?“ Der Zauberer blickte sich fragend zu Galuir um. „Das ist der, von dem du gesprochen hast?“ fragte der Elb, „Er ist gefesselt, weil wir uns weigern, irgendeinem Ork zu trauen, Zauberer von Rhosgobel, und nur die Gegenwart seiner elbischen Gefährtin hat ihn vor dem Tod gerettet. Ihn in solcher Gesellschaft zu finden, schien eine Sache zu sein, die Celeborn näher erforschen sollte.“ Malawen war von ihrem Pferd herunter geglitten und stand da, die Arme um Canohandos Mitte geschlungen. Ihr Gesichtsausdruck sagte klar und deutlich, dass sie sich gegen jeden Versuch wehren würde, sie von den Ork zu trennen. Der Zauberer schaute auf sie hinunter; er sah überaus erfreut aus. „Also hast du endlich deine Jochgenossin gefunden! Nun, Galuir, jetzt weißt du, welchen Ork du in deinem Netz gefangen hast. Er ist ein Geschöpf mit Prinzipien, denn ich kenne nur drei von seiner Art, die jemals Morgoths Ketten abgeworfen haben. Willst du nicht die Seile durchschneiden, damit er das Tal ungebunden betreten kann?“ Der Elb blickte besorgt drein. „Hätte ich hier den Befehl, ich hätte es schon früher getan. Der Ork hat für mich seine Vertrauenswürdigkeit bewiesen, aber Itaril ist der Hauptmann dieser Kompanie.“ „Und er ist nicht überzeugt,“ sagte Radagast. „Na schön; wir sind dem Ziel schon zu nahe, um Zeit damit zu verschwenden, ihn umzustimmen. Aber ich werde nicht zusehen, wie der Blutsbruder des Ringträgers hinter einem Pferd her nach Bruchtal gezerrt wird. Löst dieses Seil, und ich selbst werde ihn führen.“ Erenu wartete nicht auf Galuirs Befehl; ohne Zögern band er das Seil los und reichte das Ende Radagast. Der Zauberer wickelte die überflüssige Länge zu einer Schlaufe und lächelte Malawen zu. „Du wenigstens hast Augen, die klar sehen, Tochter des Goldenen Waldes. Komm, geh auf seiner anderen Seite mit, und wir werden eine Ehrenwache sein für diesen schwer geprüften Ork.“
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