Der Ork der Königin (The Queen's Orc) Kapitel Einunddreißig Canohando schlief bis lange nach Sonnenaufgang; endlich schreckte er hoch, verwirrt und halb geblendet von dem Licht, das durch eine Wand aus Fenstern fiel. Es dauerte einen Moment, ehe er sich zurechtfinden und erinnern konnte, wo er war, und als die Erinnerung zurückkehrte, blickte er sich nach Malawen um. Doch sie war verschwunden. Er warf sich in seine Kleidung und verfluchte sich als Narren, weil er sie verängstigt und fort getrieben hatte; er rannte hinaus, um sie zu suchen und um Vergebung zu bitten nur, um festzustellen, dass sie die Treppen hinauf in seine Richtung kam. Sie trafen sich mitten auf den Stufen und sie machte einen kleinen Sprung und warf ihm die Arme um den Hals. „Bist du endlich wach, Melethron? Erenu sucht nach dir, um Lebewohl zu sagen.“ Canohando nahm sie in seinen Armen gefangen, presste sie fest an sich und atmete ihren sauberen, holzigen Duft ein, während sein Herzschlag zu seinem üblichen Rhythmus zurückkehrte. Sie war noch immer hier, sie war nicht vor ihm geflohen, sie nannte ihn Liebster... Er küsste sie auf die Spitze ihres Ohres und ließ seine Lippen an der Rundung ihres Kiefers hinunter gleiten. „Canohando!“ Sie lachte und kämpfte darum, sich zu befreien. „Am hellichten Tag - ! Komm, sie reisen ab, und Erenu will dich unbedingt sehen, bevor sie gehen.“ „Wieso?“ Er gab sie nicht frei, sondern änderte seinen Griff, um sie auf seine Arme zu heben, dann machte er sich auf den Weg die Treppen hinunter. „Wirst du mich von nun an überall hin tragen? Das wird eine unbeholfene Reise werden. Celeborn schickt sie noch diesen Morgen fort; er will ihnen nicht einmal ein paar Tage Rast in Bruchtal gestatten. Und er hat Itaril das Kommando abgenommen er hat Galuir zum Hauptmann gemacht.“ Der Ork schnaubte. „Ich hoffe, Galuir wacht nicht eines Morgens mit einem Messer zwischen seinen Rippen auf. Itaril ist zu stolz, um so etwas leicht zu nehmen.“ „Itaril wird nicht bei ihnen sein. Er steht unter Bewachung, und Celeborn selbst wird ihn zu den Anfurten bringen, wenn er am Ende des Sommers fortgeht.“ Und als sie Erenu fanden, bestätigte der diese überraschenden Neuigkeiten. „Er ließ beide, Itaril und Galuir, vor sich bringen, und er hielt ihnen ihre Heuchelei vor nach Bruchtal zu kommen und gleichzeitig den Passierschein, den der Sohn Elronds dir gab, als wertlos zu erachten. Er erinnerte Itaril daran, dass Elrond Halbelb trotz allem der Träger des Blauen Ringes war, den Mächtigsten der Drei, und dass Galadriel, die Elladans Großmutter war, den Ring aus Adamant hütete, dass aber niemand den Elben von Düsterwald jemals einen Ring der Macht anvertrauen mochte. Oh, er war wütend, Grauhaut! Du bist wohl gerächt.“ „Und warum erzählst du mir das?“ fragte Canohando. „Du hast dich als ehrenvoller erwiesen als irgendeiner von uns, Ork. Es hat lange gedauert, bis ich dich als das sah, was du bist, und ich wollte nicht gehen, ohne dich um Vergebung zu bitten.“ Er hielt ihm seine Hand hin. „Ich wollte nicht zulassen, dass du mich Freund nennst, und die Erinnerung daran beschämt mich. Ich hätte gern deine Freundschaft, wenn du sie mir noch immer geben möchtest.“ Canohando nahm die ausgestreckte Hand. „Du warst ein gütiger Kerkermeister. Ich wünsche dir eine sichere Reise, Freund.“ Erenu wandte sich an Malawen und ließ die gewölbten Handflächen auf ihrem Kopf ruhen. „Du warst weiser als wir, kleines Weißhaar. Wenn der Segen eines Nandor, der im letzten Moment dem Ruf folgt, einen Wert hat, dann möge er auf dir und deinem Ork liegen.“ Sie sahen zu, während die Elben von Eryn Lasgalen aufbrachen, Galuir mit strengem Gesicht an ihrer Spitze und Erenu in der Mitte; er hob seine Hand zum Abschiedsgruß. „Bist du zufrieden?“ fragte Malawen. „Ich frage mich, was aus Itaril wird.“ „Ich denke, Celeborn wird ihn unter Bewachung nach Avallóne bringen, damit er Elladan für diesen Passierschein Rede und Antwort steht. Ich hoffe, Herr Elrond macht ihm die Hölle heiß.“ Canohando grinste. „Du bist ein übler Gegner, Elbchen, und ich fürchte, wir passen gut zusammen. Ja, ich bin zufrieden.“ Sie hielten sich viele Wochen in Bruchtal auf und fanden tiefen Frieden an diesem Ort, der Balsam war für Leib und Seele. Mehr Elben trafen ein, zu zweit oder zu dritt oder in größeren Gruppen, und Elronds Haus war von Leben erfüllt und von Stimmengesumm, als die, die sich hundert Jahre oder mehr nicht mehr gesehen hatten, für die letzte Reise zusammen kamen, Die Halle des Feuers klang jede Nacht von Musik wider; Canohando saß hinten in einer Ecke und lauschte, und Malawen rollte sich neben ihm zusammen, ihren goldenen Kopf an seiner Schulter. Niemand brachte ihnen irgendwelche Unhöflichkeit entgegen, aber nur wenige der Elben kamen auf ihn zu. Manchmal gab es Geflüster, wenn die, die Bescheid wussten, seine Gegenwart einem Neuankömmling erklärten, der erschrak, weil er einen Ork in Bruchtal vorfand. Aber nur zwei oder drei, die Arwen in vergangenen Zeiten geliebt hatten, kamen, um mit ihm über sie zu reden, und sie gingen trotz ihrer Tränen davon und waren getröstet. Malawen fühlte sich in der großen Halle nicht wohl, auch nicht im Schatten verborgen, Canohandos Arm um ihre Schultern. Genau wie er zog sie starrende Blicke auf sich hier, inmitten so vieler Elben, fiel ihre kurze Statur umso mehr auf, und ihre vernarbte Wange blieb nicht unbemerkt. Nicht viele suchten die Gesellschaft des Orks, aber niemand kam, um mit ihr zu sprechen. Sie gewöhnte sich an, lange bevor die Musik zu Ende ging, davon zu schlüpfen, hinaus in den von Sternen erleuchteten Garten, und Canohando ging mit ihr. Sie führte ihn hinunter zum Flussufer, wo das Wasser endlos über die Steine gluckste, und Canohando dachte, dass die Musik des Flusses so süß war wie der Gesang, den sie drinnen zurück gelassen hatten. Sie folgten dem Strom vielleicht eine Meile, von Stein zu Stein hüpfend, und wenn der Abstand für Malawen zu groß war, dann hob Canohando sie auf und trug sie; er platschte unbekümmert durch das flache Wasser, bis er sie vorsichtig auf dem nächsten Trittstein absetzte. In anderen Nächten wanderten sie hügelaufwärts zwischen den Bäumen hindurch; es war dunkel unter den Zweigen, aber nie zu dunkel für den Ork, um sich einen Weg zu suchen. Auf manchen Lichtungen fanden sie Kissen aus dickem, weichen Moos, die ihnen ebenso gut gefielen wie das Bett mit den seidenen Laken, das im Haus auf sie wartete. Manchmal kamen sie nicht vor Tagesanbruch wieder aus dem Wald. Dann fanden sie den Weg in die Küche, um sich ein Frühstück zu erbitten. Sie gingen Hand in Hand, blickten einander aus den Augenwinkeln an und lächelten heimlich. Die Elbenfrau, die für die Küche zuständig war, schloss die beiden vom ersten Morgen an ins Herz. „Setz dich dort drüben hin, Liebchen, ich finde etwas für dich. Da, sie hat Tannennadeln in Haar, zupf sie für sie heraus, hinter ihren Kopf kann sie nicht schauen. Brot und Obst für dich, kleiner Sonnenschein, und was isst du, Graugesicht? Rohes Fleisch, ja?“ Canohandos Augen glänzten belustigt. „Nicht, wenn du bereit bist, es zu kochen, Herrin! Aber ich will dir die Mühe nicht machen; ich kann mit meinem Elbchen Brot und Obst essen.“ Doch sie brachte ihm außer dem Brot noch ein kaltes Brathühnchen, und er dankte ihr feierlich, bevor er seine Mahlzeit begann; er versuchte, so säuberlich zu essen wie Malawen es tat, anstatt nach Orksitte an dem Fleisch zu reißen. Er wunderte sich über die Freundlichkeit der Köchin, aber es dauerte nicht lange, bis sie es ihm erklärte. „Das ist die Halskette von meinem Püppchen, die du da trägst, Ork. Wie heißt du eigentlich? Sie hat sicher niemals ,Graugesicht' zu dir gesagt, so honigzüngig, wie sie immer war. Wie hat Arwen dich genannt?“ Er erstarrte, das Fleisch auf halbem Weg zu seinem Mund. „Die Königin? Du hast sie gekannt? Sie nannte mich Canohando, bei meinem Namen, oder manchmal auch ,Schatten'. Ich war ihr Schatten, um sie zu schützen.“ Sie nickte. „Ja, ja... so hat der Zauberer es mir erzählt. Und er sagte mir auch deinen Namen, aber ich hatte ihn vergessen. Es sei Quenya, sagte er, und er selbst hätte ihn dir gegeben. Aber Arwen oh, sicher habe ich sie gekannt! Ich war ihr Kindermädchen, seit sie ein winziges Kindchen war, das hinter den Schmetterlingen im Garten her tapste. Oh, ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen sie war so ein hübsches Stückchen obwohl ich Dinge vergesse, die vor einem Jahr geschehen sind. Vielleicht wird mein Gedächtnis wieder besser, wenn ich im Segensreich ankomme.“ „Du warst ihr Kindermädchen?“ fragte Canohando, und Malawen antwortete und lachte dabei. „Ihre edle Mutter musste sich nicht um ihre Kinder kümmern, Liebster. Sie hatte an Elronds Seite zu sein, den Haushalt zu führen und für die Bequemlichkeit ihrer Gäste zu sorgen, hier, wohin so viele kamen, um Zuflucht und Rat zu suchen. Die Kinder sahen ihre Mutter vielleicht beim Mittagessen, aber nicht öfter. Während sie noch klein waren, kannte ihr Kindermädchen sie besser als ihre eigenen Eltern. Wie heißt du?“ fragte sie die Elbenfrau. „Ich bin Dartha, und du bist ein Mädchen aus Lothlórien, wie sie sagen... Ich war nie dort; ich war zufrieden, hier in unserem Tal, als die bösen Zeiten ein Ende nahmen. Nachdem sie groß geworden war, reiste Arwen hin und her, um das Volk ihrer Mutter zu besuchen. Ich weiß nicht, wie sie das wagen konnte, nachdem - “ Die Köchin wischte sich die Tränen ab, während sie gleichzeitig Canohando die Schulter tätschelte. „Du bist nicht so wie diese Teufel, die sie gequält haben keine Angst, das weiß ich. Der Zauberer hat mir alles über dich und den Ringträger erzählt. Oh, an ihn erinnere ich mich auch; zweimal war er hier, erst, als er auf seine Fahrt ging und noch einmal, als er zurückkam. Dürr wie ein Knochen und erschöpft um die Augen, als hätte er Dinge gesehen, die niemand sehen sollte.“ Sie sauste geschäftig davon und kam mit einem Krug kalter Milch zurück, die sie für die beiden in silberne Becher goss. „Du siehst ihm ähnlich, ein bisschen. Oh, ich höre alles, was vorgeht, hier in der Küche; die Servierjungen bringen das Gerede herunter, zusammen mit dem schmutzigen Geschirr von der Hohen Tafel. Ich weiß, diese Elben aus dem Düsterwald haben euch das Leben sauer gemacht, dir und deinem Sonnenschein hier. Ihr kommt einfach in die Küche, wenn ihr einen Happen möchtet, und ich werde euch aufpäppeln, bis das Mädel Rosen auf den Wangen hat und du nicht mehr so ausgehöhlt aussiehst wie jetzt. Und im Austausch dafür kannst du mir alles über mein Püppchen erzählen. Sie ging fort nach Gondor, und ich habe sie nie wiedergesehen. Ich werde Celebrían wiedersehen, auf der anderen Seite des Meeres, und ich werde mich darüber freuen, denn sie ist immer eine sanfte Herrin gewesen, aber meine kleine Arwen, die sehe ich nicht mehr, nein, nie wieder.“ Sie wandte sich ab und wischte sich die Augen mit der Schürze, und Malawen sprang auf, ging zu ihr und umarmte sie. Die Köchin hielt sie einen langen Augenblick fest und beugte sich dabei über sie, denn Malawen war neben ihr wie ein Kind. „Da, nun geh schon, Liebchen. Du hast deinen Teil Kummer gehabt, sogar noch mehr als ich. Nicht jeder hier wird die Wahl deines Ehemannes mit freundlichen Augen ansehen, aber er war ein Freund des Ringträgers und der Herrin Arwen, und das ist Empfehlung genug für jeden. Erinnere dich daran.“ „Das werde ich,“ versprach Malawen. Sie reckte sich, um der Frau einen Kuss auf die Wange zu drücken, und Canohando nahm die Hand der Köchin. „Danke, Herrin,“ sagte er. „Wir werden wiederkommen, und einander Geschichten von Neunfinger und der Königin erzählen. Ich bin froh, dass ich jemand anderen gefunden habe, der sie liebte.“ Und sie kamen wieder, denn die helle Küche war ihnen angenehmer als die langen Tische in der großen Halle, wo so viele Augen sie neugierig anstarrten. Canohando erzählte Dartha alles über Arwens Leben in Minas Tirith, was er konnte, und die Köchin versorgte sie im Gegenzug mit Geschichten über die Kindheit der Königin, bis sie sich vor Lachen die Seiten hielten, denn Arwen und ihre Brüder waren voller Übermut gewesen, und ihr Kindermädchen musste flink auf den Beinen sein, um mit ihnen Schritt zu halten. „Und trotzdem werden wir für unsere Kleinen kein Kindermädchen haben,“ sagte Canohando in der Nacht zu Malawen, während sie am Fluss entlang gingen. „Wir werden sie selbst unterrichten, und sie in unserer Nähe behalten.“ „Natürlich,“ sagte sie. „Nur die Großen müssen ihre Kinder von Dienstboten aufziehen lassen, nicht gewöhnliche Eltern wie du und ich.“ Der Ork grinste, ohne zu antworten; er dachte, dass es wenige gäbe, die ihn und sein Elbchen ,gewöhnliche' Eltern nennen würden, aber Malawen löste sich von ihm und rannte den Pfad entlang vor ihm her. Sie vollführte kleine Sprünge und Drehungen, die sich in einen Tanz verwandelten. Sie beugte und wiegte sich, wandte sich ihm zu und all das so anmutig wie Mondlicht, das auf dem Wasser schimmerte; er folgte ihr mit langen Schritten und lachte leise. Dann ließ er seine Hände auf der Trommel ruhen, die immer an seinem Gürtel hing, obwohl es lange her war, seit er sie zuletzt gespielt hatte. Zuerst klopfte er ganz leicht darauf und versuchte, den Klang mit ihren fließenden Bewegungen zu verschmelzen, und sie hörte ihn und passte ihren Tanz seinem Rhythmus an. Dann begann er einen stetigen, drängenden Trommelschlag mit einer Hand, und sie folgte ihm. Er fügte einen Kontrapunkt hinzu; sie wirbelte zu ihm zurück und umkreiste ihn, und ihre Arme webten Muster in die Luft rings um ihn her. Er drückte die Zunge hinter die Vorderzähne, und jetzt begleitete ein unregelmäßiges, klickendes Geräusch seine Musik. Und dann stimmte ein Sänger mit ein, mit einer leise murmelnden Melodie, die ohne Worte stieg und fiel. Malawen hielt inne, die Arme noch immer erhoben, aber Canohando trommelte gleichmäßig weiter, obwohl er seinen Blick den Pfad suchend hinauf und hinab wandern ließ. Eine leuchtende Gestalt trat hinter einem Baum hervor; es war Celeborn, und er war ganz allein. Er kam nicht näher, sondern blieb, wo er war und sang, und nach einem Moment, der so lange dauerte wie ein tiefer Atemzug, nahm Malawen ihren Tanz wieder auf. Es war eine dunkle Nacht. Die Sterne waren verborgen, und nur der Mond schien auf sie hernieder. Doch Stück für Stück trieben die Wolken nach Osten davon, und überall erschienen besternte Flecken, bis der Himmel endlich von Horizont zu Horizont vor Licht glühte. Die Sterne überstrahlten einander, und der Mond war eine riesige, schimmernde Kugel in ihrer Mitte. Malawen blieb endlich außer Atem stehen; sie lehnte sich an Canohandos Rücken, die Arme um seine Mitte geschlungen. Das Trommeln erstarb zu einem sanften Klopfen, wie Frühlingsregen, und Celeborns Stimme schwoll zu einem Triumphschrei an, der in der Nacht widerhallte. Dann verneigte er sich schweigend vor ihnen, drehte sich um und verschwand zwischen den Bäumen.
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