Der Ork der Königin (The Queen's Orc)
von jodancingtree, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Achtunddreißig
Der Überfall

Farador war gebeten worden, Radagast geradewegs zum Thain zu bringen, aber die Herr von Bockland wollte es nicht dulden.

„Lass den Zauberer erst einmal für meine Nichten tun, was er kann, und dann Marabuc und die Elbenherrin anweisen, wie man diese Krankheit behandelt,“ sagte er – denn Malawen war gerufen worden, Radagast zur Hand zu gehen, am zweiten Morgen nach ihrer Ankunft. „Sobald die Zwillinge außer Gefahr sind, bringst du ihn in die Groß-Smials. Und siehst du, wenn du dann mit dem Ork hierhin und dorthin reist und ihr noch mehr von diesen Fieberfällen begegnet, dann ist seine Gefährtin darauf vorbereitet, zu helfen. Auf diese Weise sind sie dem Auenland nützlich, und dadurch mehr willkommen, als wenn es anders wäre. Die meisten Hobbits haben nur wenig von Frodo Beutlin gehört, und von Canohando wissen sie überhaupt nichts.“

Farador zog ein Gesicht. „Und was sie auch immer über Frodo gehört haben, es würde den meisten nicht gefallen: ein wirrköpfiger Kerl, denken sie wohl, wenn er bis zu den Enden der Erde davon wandert, wie er es getan hat. Du hast Recht, Vater, wie üblich.“

Also zeigte Farador Canohando während der Wartezeit Bockland und die Marschen. Die Hobbits an abgelegenen Orten waren erschrocken und in gewissen Weise alarmiert, auf der Straße einem Ork über den Weg zu laufen, doch Farador war als der Sohn des Herrn wohlbekannt und auf seine Weise beliebt, und Canohandos ernsthafte Höflichkeit, zerstreute die Ängste der meisten, abgesehen von den Furchtsamsten.

An einigen Abenden schleppte Farador den Ork gegen seinen Willen in die Gasthäuser in … und Stock, und die Leute dort waren von Canohandos Enthaltsamkeit überrascht. Er blieb bei seinem ersten Krug Bier und behielt alles rings um sich her scharf im Auge. Nach ein paar Besuchen in der Schenke wurde ihm allerdings klar, dass Hobbits nicht zu der Gewalttätigkeit neigten, die er mit dem Trinken verband. Selbst angeheitert wurden sie lediglich fröhlicher, brachen in lange Gesänge von Liedern aus, die sich ständig wiederholten und lachten schallend, wenn jemand dank seiner schweren Zunge über die Worte stolperte. Endlich begann der Ork, sich zu entspannen, lehnte sich in seiner Ecke zurück und beobachtete die Vorgänge mit stiller Belustigung.

Eines Abends forderte Farador ihn zum Pfeilwerfen heraus; sie beide gegen ein paar Bauern mittleren Alters. Canohando beschloss, sich zurück zu halten und sie gewinnen zu lassen; es war ein schlechtes Benehmen, dachte er, wenn ein Ausländer mit seiner Geschicklichkeit prahlte. Aber die Hobbits überraschten ihn; sie zielten ebenso gut wie er, und als die Bauern das Spiel übernahmen, gewannen sie zu Recht. Für den Ork endete der Abend mit einem neuem Respekt für das Auenlandvolk.

Es dauerte beinahe drei Wochen, ehe Radagast und Malawen an einem Vormittag mit der Nachricht ins Schloss zurückkehrten, dass die Zwillinge dabei waren, sich zu erholen, und zwar, soweit sie sehen konnten, ohne irgendwelche Nachwirkungen.

„Eine hässliche Krankheit ist das,“ sagte der Zauberer ihnen beim Elf-Uhr-Imbiss. „Ich bin mir nicht sicher, ob unsere Bemühungen die Gliederlähmung verhindert haben, von der uns berichtet wurde, oder ob die Kleinen dem sowieso entgangen wären, aber es war ein harter Kampf, sie lebendig durch zu bringen.“

„Hat Marabuc genügend Ahnung, um irgendwelche neuen Fälle zu behandeln, falls sie ausbrechen sollten?“ fragte Sariadoc.

„Er hat so viel Ahnung wie ich,“ sagte Radagast. „Wir haben uns beide das Hirn über jedes Heilmittel zermartert, das wir kannten. Ich hoffe, dein Onkel bringt aus Bruchtal größeres Wissen mit, Farador.“

Sariadoc schürzte gedankenvoll die Lippen. „Das wollen wir wirklich hoffen. Möchtest du dich nun ein paar Tage von deinen Mühen erholen? Ich weiß, der Thain wird eifrig auf deine Hilfe bedacht sein, aber ich möchte deinen guten Willen nicht ausnutzen.“

Radagast lächelte. „Lass mich nur diesen einen Tag ausruhen, und Malawen ebenso. Dann sind wir soweit, weiter zu reisen.“

Nach dem Essen zog sich der Zauberer in die Bibliothek des Schlosses zurück; er saß mit seiner Pfeife in einem tiefen Sessel, umgeben von Büchern, die er scheinbar zufällig aus den Regalen zog. Sariadoc leistete ihm Gesellschaft; er erledigte an seinem Schreibtisch allerlei Schriftverkehr, ohne seinen Gast mit müßigem Geschwätz abzulenken. Malawen jedoch führte Canohando nach draußen, hinunter zum Flussufer.

„Ich war zu lange hinter Türen eingepfercht,“ sagte sie. „Es ist gut, die Sonne wieder auf meinem Gesicht zu spüren.

Canohando saß da, den Arm um ihre Schultern gelegt; er fühlte sich, als hätte er seine andere Hälfte zurück bekommen. „Also, jetzt kannst du Fieber ebenso gut behandeln wie Wunden. Wie hat es dir gefallen, bei dem alten Mann in die Lehre zu gehen?“

„Er ist ein gestrenger Lehrmeister, aber es ist keine Bürde, ihm zu helfen. Ich mag ihn jetzt lieber, Melethron.“

Canohando beugte sich hinab und küsste sie.

„Gut,“ sagte er.

*****

Der Alarm kam noch in der selben Nacht, eine Stunde vor der Morgendämmerung. Canohando stand am Fenster und blickte auf den Fluss hinaus; das Mondlicht in seinen Augen hatte ihn geweckt, und er war aufgestanden, um zuzuschauen, wie das Spiegelbild des Mondes auf dem schwarzen Wasser tanzte und schimmerte. Dann entdeckte er einen Feuerbrand, der am gegenüberliegenden Ufer hin und her geschwungen wurde; es war eindeutig ein Signal, und ein paar Minuten später legte die Fähre zur anderen Seite ab. Der Mond verschwand hinter den Wolken, und das einzige Licht war eine Fackel, die an einem hohen Pfahl auf der Fähre fest gemacht war, und die andere Fackel, die am anderen Ufer wartete und sich nicht länger bewegte.

Er reckte sich, trat auf den Flur hinaus und schloss leise die Tür, um Malawen nicht zu wecken. Laternen hingen in regelmäßigen Abständen an Wandhaken, und er fand den Weg zurück in den großen Saal, wo sie ihre Mahlzeiten einnahmen. An der Tür fand er einen Hobbit; sein Stuhl lehnte nach hinten gekippt an der Mauer, und er hielt die Augen halb geschlossen. Er war allerdings munter, denn er stand sofort auf, als der Ork näher kam.

„Brauchst du irgendwas, Herr?“ fragte er. Sein Ton war höflich, aber Canohando bemerkte seinen scharfen Blick und nickte anerkennend. Der Junge war auf der Hut, auch wenn er so entspannt wirkte.

„Ist Farador hier irgendwo? Ich habe die Fähre gerade über den Fluss fahren sehen, und auf der anderen Seite hat jemand ein Zeichen gegeben.“

Der junge Hobbit beäugte ihn nachdenklich. „Und wieso bringt dich das nach draußen, um nach Farador zu suchen? Um diese Uhrzeit ist er im Bett, sollte ich meinen.“

Canohando lehnte lässig am Türrahmen und scheuerte seinen Rücken an dem polierten Holz. „Sagen wir mal, ich habe eine gute Nase für Ärger. Ich bin ein Fremder hier; vielleicht seid ihr ja daran gewöhnt, mitten in der Nacht Besuch zu bekommen, aber es kam mir irgendwie falsch vor.“

„Nun, damit hast du Recht,“ sagte der Hobbit. „Nein, so spät haben wir nicht viele Besucher, aber wie du sagst, du bist hier fremd. Ich würde mich besser fühlen, wenn du wieder zurück in dein Zimmer gehst, Herr. Ich gebe denen, die es wissen sollten, Bescheid, dass jemand über den Fluss kommt, und ich bin dir dankbar, dass du es mir gesagt hast.“

Der Ork legte den Kopf schief. „Sag deinem Hauptmann, dass mein Bogen ihm zu Diensten steht.“ Er ging wieder den Korridor hinunter und trat leise in sein Zimmer. Malawen war wach und saß aufrecht im Bett.

„Wo bist du gewesen? Ich bin wach geworden und du warst weg.“

Er erklärte ihr noch immer die Lage, als jemand gegen die Tür hämmerte. Bevor er aufstehen konnte, um sie zu öffnen, kam Farador herein geplatzt.

„Es hat einen Angriff gegeben! Draußen in der Marsch – eine Räuberbande - “ Er war außer Atem, als wäre er gerannt. Canohando hob seinen Köcher auf und hing ihn sich auf den Rücken, und Malawen langte nach ihren Kleidern und fing an, sich unter den Decken anzuziehen.

„Ich bin gleich draußen,“ sagte Canohando zu dem Hobbit. „Warte auf mich.“ Er schloss die Tür hinter Farador.

„Einen Moment, ich bin sofort fertig,“ sagte Malawen, aber Canohando kam und legte die Arme um sie.

„Ich möchte, dass du hier bleibst, wo du sicher bist.“

„Ich kann schießen! Ich werde nicht zulassen, dass du dich allein in Gefahr begibst, und mein Auge ist so scharf wie deines!“

Ihre Stimme klang gekränkt, und er lehnte seine Stirn gegen die ihre und ließ seine Hände über ihren Rücken hinunter gleiten. „Du bist ein guter Schütze,“ gab er zu. „Aber wir werden beide sicherer sein, wenn du hier bleibst, Elbchen. Ich kann meine Augen nicht gleichzeitig auf die Schlacht und auf dich haben, und wenn du dabei bist, dann beobachte ich dich. Bleib hier, wo ich nicht um dich fürchten muss.“

„Aber dann habe ich Angst um dich.“

Er zog eine Grimasse. „Ein paar Menschen, Melethril. Für dieses kleine Volk sind sie eine Bedrohung. Die Halblinge sind tapfer, aber Krieger sind sie nicht. Doch eine Bande von Rüpeln und Unruhestiftern – was werden sie schon tun, wenn sie sehen, dass ein Ork auf sie los geht? Sich zerstreuen wie Blätter im Wind.“

„Umso besser, wenn sie einen Ork und einen Elb sehen, und beides Bogenschützen,“ argumentierte sie, aber er gluckste.

„Du bist nicht gerade furchterregend anzuschauen, Liebste – ich hätte alle Hände voll zu tun, sie davon abzuhalten, mir meine Gefährtin zu stehlen! Elbchen, hör bei dieser Sache auf mich. Es wird andere Zeiten geben, in denen wir Seite an Seite kämpfen müssen, und dann werde ich dankbar sein, wenn du mir den Rücken deckst.“

Sie küsste ihn und ließ ihn ziehen, und er hastete hinter Farador her. Sie kamen in die Kälte der Morgendämmerung hinaus und fanden den Schlossherrn höchstpersönlich vor, mit fast vierzig Hobbits, bewaffnet und behelmt und auf dem Rücken von Ponies. Und Radagast war ebenfalls da, auf einem grauen Pferd, das von wer weiß wo hergebracht worden war.

„Für dich haben wir kein Reittier,“ sagte Farador zu dem Ork; er klang besorgt.

„Ich werde schon Schritt halten,“ versicherte ihm Canohando. Dann hob Sariadoc ein silbernes Horn an seine Lippen, und der Schlachtruf von Bockland ertönte. Canohando warf den Kopf zurück und spürte, wie ihm das Blut in den Adern kochte, als hätte ihn ein feuriger Finger berührt.

ERWACHT! FURCHT! FEUER! FEINDE! ERWACHT! schrillte das Horn, und plötzlich mischte sich sein Echo mit dem wilden Gebell der Horden von Mordor, das trotz aller Versuche, es zurückzuhalten, aus Canohando hervor brach.

Die Tiere fuhren zusammen und stürmten los, die Reiter wie Kletten an ihren struppigen Rücken geklammert, und der Herr blies sein Horn ein zweites und noch ein drittes Mal, bevor er es an seiner Seite herab sinken ließ und in grimmigen Schweigen weiter ritt. Canohando biss sich auf die Unterlippe, bis er Blut schmeckte und zwang das Gebrüll in seine Kehle zurück, während er neben Farador dahin jagte.

Sie sahen den Ort des Angriffs schon aus einer halben Meile Entfernung. Es war ein blühendes Gehöft gewesen, mit zwei Scheunen und verschiedenen Nebengebäuden, aus Holz errichtet; jetzt stand alles in Flammen. Als sie näherkamen, tauchten andere Hobbits von dort auf, wo sie sich in den Feldern und Gräben am Straßenrand versteckt hatten, und schlossen sich der Gruppe vom Brandyschloss an. Sie hatten improvisierte Waffen bei sich, Heugabeln und Schlachtmesser, ein paar Jagdbögen.

„Es waren wenigstens ein Dutzend, Herr,“ sagte einer der Bauern zu Sariadoc. „Wir hatten ein paar Pferde im Pferch, von der großen Sorte; wir schicken sie für die Waldläufer auf die Weide, wenn sie nicht gebraucht werden. Es sind wertvolle Tiere, also binden wir sie nachts an. Diese Räuber, sie sind mit Fackeln gekommen und haben die Scheunen angezündet und die Pferde weg getrieben – sie gestohlen – und zuerst waren wir damit beschäftigt, gegen das Feuer zu kämpfen, und wir haben es nicht gemerkt. Und dann haben sie das Haus in Brand gesteckt - “

Er schrie beinahe, dann brach ab und schwieg; er lief weiter, die Augen starr geradeaus. Einer seiner Kameraden brachte den Satz für ihn zu Ende; seine Stimme klang erstickt.

„Seine Frau und sein Kind waren da drin – wir haben sie nicht heraus gekriegt.“

Farador gab ein leises Stöhnen von sich und unterdrückte es sofort wieder. Canohandos raue Finger schlossen sich um die Hand des Hobbits.

„Ruhig, Junge.“

Als sie auf den Hof kamen, erloschen die Feuer überall, außer in einem niedrigen Gebäude, aus dem noch immer die Flammen loderten.

„Der Holzschuppen,“ sagte der Hobbit, der zuerst gesprochen hatte. „Zehn Klafter abgelagertes Feuerholz; das brennt noch eine ganze Weile.“ Der flackernde, rote Schein beleuchtete eine dunkle Gestalt, die auf der Erde lag. Einer der Hobbits bückte sich und drehte sie herum; ein junges Gesicht, verunstaltet durch eine blutige Wunde auf der Stirn. Die Augen waren offen und starr.

„Brego Boffin. Erst letzten Monat vierundzwanzig geworden - alt genug, um zu kämpfen, aber zu jung, um zu wissen, wann man besser Fersengeld gibt. Schlauer wird er nicht mehr werden, der arme Kerl.“

„Bleibt zusammen,“ sagte Sariadoc. „Wir wissen nicht sicher, dass sie weg sind.“

Sie blieben eng beieinander, während sie zwischen den Gebäuden des Hofes auf die Suche gingen, und Radagast blieb bei ihnen; seine Augen blickten rasch von hier nach da, als wäre er ein Schafhirte und die Hobbits seine Herde. Doch Canohando fiel zurück; er schlüpfte durch das Gemisch aus Rauch und Nebel davon, das über der Szenerie hing. Das brüllende Feuer im Holzschuppen bot einen Hintergrund aus Lärm und Licht, die Stimmen der Hobbits ein auf- und abschwellendes Gemurmel. Der Geruch nach verbranntem Fleisch stieg ihm in die Nase, und er wich einem totem Hund aus, der zwischen der größten Scheune und dem Haus lag, eine klaffende Wunde in der Seite. Ein paar Schritte weiter lag ein weiterer Hobbit mit dem Gesicht nach oben, die Arme nach beiden Seiten ausgestreckt, als hätte er versucht, seinen Sturz aufzuhalten. Ein Pfeil ragte ihm aus der Brust. Der Ork beugte sich einen Moment über ihn, aber er war tot.

Das Haus war ein glühender Schutthaufen; hier und da tanzten noch immer kleine Flammen. Canohando ging im Kreis darum herum, die Augen auf den Boden gerichtet. Ein- oder zweimal bückte er sich, um etwas genau zu betrachten; beim zweiten Mal grunzte er leise und drehte nach rechts ab, fort von dem zerstörten Gehöft.

Er folgte der Fährte der Übeltäter zu einem Waldstück unten am Fluss, Meilen von jeder Ansiedlung entfernt. Als er die Stelle erreichte, stand die Sonne hoch über seine Kopf, doch unter den Bäumen war es dämmrig und feucht, und Insekten summten ihm um das Gesicht.

Irgendwo in der Nähe ertönte ein leises Wiehern, und er erstarrte. Er hatte die gestohlenen Pferde vergessen, und die Gefahr, dass sie ihn verraten mochten. Während er noch unschlüssig dastand, dachte er plötzlich an Radagast. Der alte Mann schien sich immer so sicher zu sein, dass er in jedem Geschöpf, dem er begegnete, Freundschaft fand. Er behandelte jeden Vogel und jedes Tier mit der gleichen, fröhlichen Kameradschaftlichkeit, und sie gaben ihm Antwort. Sogar ein verwundeter Ork, in der Ödnis von Mordor...

Langsam streckte Canohando die Hand aus. „Dann komm mal her,“ formte sein Mund. Die Worte waren in seinem Kopf lauter als auf seinen Lippen; tatsächlich atmete er kaum, und doch ertönte nach einem Moment ein Rascheln aus dem Unterholz, und ein Pferd streckte seinen Kopf heraus und stieß seine samtige Nase gegen seine Hand.

„Guter Junge,“ murmelte der Ork. Er streichelte das Gesicht des Tieres und ließ seine Hand an der seidigen Wange hinunter gleiten, und es lehnte sich in seine Berührung hinein. „Wo sind denn deine Brüder, Pferd?“

Das Geschöpf machte einen Schritt rückwärts und schüttelte den Kopf, und Canohando begriff, dass es an einem Baum festgebunden war. Er zog das Messer aus seinem Gürtel und schnitt das Seil durch. Daraufhin kam das Pferd geradewegs auf ihn zu und lehnte sich gegen ihn, so dass er sich abstützen musste, um nicht von den Füßen gerissen zu werden, und er liebkoste die lange, zerzauste Mähne und die glatte Rundung seines Nackens. Endlich bog er den Kopf zurück, so dass er direkt in ein großes, sanftes Auge schauen konnte.

Wo sind die anderen? dachte er und versuchte, es dazu zu bringen, dass es ihn verstand.

Das Tier schwang seinen Kopf zur Seite und machte einen Schritt in die selbe Richtung. Canohando folgte ihm, und einen Moment später sah er ein weiteres Pferd. Sein neuer Freund führte ihn zu der Stelle und stellte sich neben das andere Tier, aber er gab keinen Laut von sich, als würde er begreifen, dass Heimlichkeit vonnöten war. Staunend befreite Canohando auch das zweite Pferd, und wieder begegnete er dem Blick seines Führers.

Es waren insgesamt vier Pferde, und eines nach dem anderen ließ er sie frei. Dann führte er sie aus dem Schatten der Bäume heraus und zeigte zurück auf den Weg, den er gekommen war.

„Dein Herr ist dahinten,“ sagte er dem Leittier ins Ohr. „Geh nach Hause.“ Das Tier senkte den Kopf und stieß ihm gegen die Brust, so dass er einen Schritt rückwärts machen musste. „Nein,“ sagte er. „Ich komme später. Bring deine Brüder nach Hause.“

Und das Pferd gehorchte ihm. Es lief quer über das Feld, langsam zuerst, und die anderen folgten ihm. Doch nach ein paar Dutzend Schritten setzten sie sich in Trab, und Canohando sah zu, bis alles, was er noch erkennen konnte, eine entfernte Staubwolke war.

Er war außer sich vor Staunen und entzückt von seiner erfolgreichen Nachahmung des alten Mannes. Was würdest du dazu sagen, Kümmerling? Doch der Gedanke an Frodo brachte seinen Geist zurück zu dem zerstörten Gehöft, zu dem Bauern, der Frau und Kind betrauerte, zu dem toten Jungen, der nicht gewusst hatte, wohin er flüchten sollte.

Die Pferde waren fort; sie würden seine Gegenwart nicht preisgeben. Jetzt konnte er sich um die Mörder kümmern.

Er ertastete sich den Weg in ihr Lager, still und tödlich wie eine Natter. Ein Unterschlupf aus Leinen war zwischen zwei Bäumen aufgespannt; er trat dahinter, ohne dass die Schläfer sich auch nur in ihren Träumen regten, und er stellte sicher, dass keiner von ihnen sich je wieder rühren würde. Er ging von Mann zu Mann wie die verkörperte Rache, und als er fertig war, tropfte Blut von seinem Messer. Ohne nachzudenken hob er es an den Mund, um es sauber zu lecken, und in diesem Augenblick kam er wieder zu sich.

Ork!

Er fiel auf die Knie und trieb die besudelte Klinge in den Boden, vornüber gekrümmt, als hätte er einen Hieb in den Magen erhalten; er würgte und schauderte.

Er hatte die Männer kaum gesehen, während er sie erschlug; vor seinem geistigen Auge sah er das Gesicht eines Hobbits , blauäugig wie der junge Farador, nur älter, gleichzeitig abgehärtet und sanfter gemacht vom Leiden. Es war Neunfingers Heimat, die von diesen Übeltätern geschändet worden war, seine Landsleute, die ermordet und heimatlos gemacht worden waren. Um seines Kümmerlings willen hatte der Ork Gerechtigkeit geübt – und eben während er das tat, war er wieder in seine alten Gewohnheiten verfallen.

Er wischte sich mit dem Handrücken den Mund und umklammerte Arwens Juwel. Ich kann ihn dir niemals geben, Melethril; ich werde ihn immer brauchen, immer...

Ein brutaler Tritt rollte ihn auf den Rücken. Er rang nach Atem und starrte an einer Stahlklinge entlang die schlanke Gestalt an, deren Kettenhemd im Dämmerlicht des Zeltes glänzte.

„Du schon wieder, Ork! Wie ich sehe, hast du dich auf deine Weise unterhalten. Aber dieses Mal gibt es niemanden mehr, der mich daran hindern könnte, dir den Garaus zu machen.“

Es war Itaril.

*****

Canohando starrte den Elb verwirrt an. „Du sagtest, du würdest nach Hause gehen,“ sagte er. Er betastete seine verletzte Seite; vermutlich hatte er eine gebrochene Rippe, wenn nicht mehr als eine.

Itaril lächelte. „Oh, das werde ich, Ork, das werde ich. Nachdem Celeborn fort gesegelt ist, zusammen mit seinem zart besaiteten Haufen, und die Grauen Anfurten leer zurückgelassen hat. Dann werde ich mir all dieses Land zum Eigentum nehmen, mit meinem Heer aus Menschen – ich habe noch andere, musst du wissen, du hast sie nicht allesamt erschlagen! Ich habe schon lange heimlich meine Pläne geschmiedet. Noch immer gibt es im Düsterwald Elben, die nicht zahm abziehen werden, um sich im Westen zu vergraben!

„Ich werde das Lindon der Elben neu errichten, und der Norden wird einen neuen Herrn haben. Mag Arwens Welpe Gondor behalten; in Lindon soll Itaril regieren! Dies wird nicht nur das Zeitalter der Menschen sein. Und ich werde mir dieses reiche, kleine Land zum Brotkorb nehmen: mit ihm werde ich meine Soldaten belohnen, und sie werden dieses verkümmerte Bauernpack beseitigen.“

In seinen Augen glitzerte der Wahnsinn. Er ließ die Spitze seiner Klinge an Canohandos Körper hinauf bis zu seinem Hals gleiten und spielte mit der Kette von Arwens Juwel. „Deinen hübschen Tand werde ich mir nachher nehmen; ich kenne eine Elbenherrin, die er besser zieren wird als dich, Grauhaut. Es soll meine Brautgabe für sie sein, wenn sie aus Eryn Lasgalen zu mir kommt.“

Canohando starrte unverwandt auf etwas hinter Itarils rechter Schulter und seine Augen weiteten sich. Nur einen winzigen Moment schaute der Elb sich um, aber das reichte. Der Ork bekam ihn an den Knöcheln zu fassen und riss ihn zu Boden; er entrang im das Schwert und warf es zur Seite. Mit seinem vollen Gewicht stürzte er sich auf seinen Gegner, um ihn unten zu halten. Eine Hand presste er auf die Stirn des Elben und drückte seinen Kopf in den Schmutz. Ehe Itaril sich erholen konnte, hatte ihm der Ork die Kehle aufgeschlitzt.

Er wischte sein Messer an der Kleidung des Elben ab, kam unter Schmerzen auf die Beine und betastete seine gebrochene Rippe. „Du wirst nicht das Land meines Bruders rauben, und auch nicht sein Volk ermorden,“ sagte er zu der Leiche.

Er nahm einen Umhang von einem der Betten; auf einer Seite war er ganz blutig. Er riss ein paar Streifen von dem sauberen Teil ab und band sie sich fest unter seiner Tunika um den Körper. Danach atmete er leichter, und er schob die Zeltklappe beiseite und blickte sich um. Der Elb hatte von einer großen Armee geprahlt, aber wo war sie?

Während er wachsam dastand und lauschte, kam vom Fluss her ein Platschen, halb verborgen hinter einem Weidendickicht zwanzig Schritte weit weg. Er trat rückwärts und in Deckung, während ein Mann, das Haar nass vom Baden, in Sicht kam. Kurz bevor er die Zeltöffnung erreichte, trat Canohando ins Freie, warf ihm einen Arm um den Hals und presste ihm die andere Hand auf den Mund.

„Keinen Laut,“ zischte er ihm ins Ohr, „oder du bist so tot wie dein Hauptmann.“

Er zerrte ihn in das Zelt und blickte sich um, auf der Suche nach etwas, womit er ihn fesseln konnte. Einer der Männer, den er zuvor erschlagen hatte, trug einen Gürtel aus weichem Leder. Canohando streifte ihn ab und band die Arme des lebenden Mannes fest hinter seinem Rücken.

Er war jung, mit einem großspurigen Zug um den Mund, aber er erbleichte, als er das Gemetzel rings um sich her erblickte. Die toten Augen des Elben schienen noch immer finster zu starren, und seine Lippen waren zu einer scheußlichen Grimasse zurück gezogen. Endlich schaute der Mann Canohando an, den Kiefer schlaff vor Entsetzen, und der Ork setzte ihm sein Messer an die Kehle, die Klinge leicht gegen seine Haut gedrückt.

„Wenigstens habe ich sie nicht bei lebendigem Leibe verbrannt! Das habe ich diesem strahlenden Prinzen überlassen, der sich selbst zum König machen wollte. Wo ist der Rest seiner Streitkräfte?“

Der junge Mann schluckte krampfhaft, und der Ork knurrte ihn an wie ein Tier.

„Stell meine Geduld nicht auf die Probe, Junge! Ich habe mich heute daran erinnert, welcher Rasse ich entstamme. Ich hätte lieber Auskunft und würde dich dafür am Leben lassen, aber wenn du nicht redest - “

„Sie kommen aus Dunland! Wir hätten sie an der Brandywein-Furt treffen sollen.“

„Wie viele?“ verlangte der Ork zu wissen.

„Ich weiß nicht – genug, um alle Männer aus dem Nördlichen Königreich zu überwinden, in die wir vielleicht hinein rennen könnten. Herr Itaril fürchtete, wir kämen zu spät zu unserem Treffen; er wurde auf dem Weg von Eryn Lasgalen aufgehalten. Deshalb brauchte er auch Pferde.“

Canohando lachte freudlos. „In Bruchtal wurde er aufgehalten, in einer verriegelten Zelle. Und dann brach er auf, die Straße zum Düsterwald entlang, während der Braune ihn bewachte. Wo hat er dich aufgegabelt, du Mietling?“

Der Mann blickte trotzig drein. „Er hat an unserem Hof angehalten, nördlich der Wetterberge. Er sagte, er würde das alte Elbenkönigreich des Westens wieder herstellen, und er hätte Land und Reichtümer für mutige Männer, die ihm folgen würden.“

„Land und Reichtümer,“ wiederholte der Ork. „Wessen Land? Wessen Reichtümer?“

Keine Antwort.

„Wer hat das Bauernhaus in Brand gesteckt?“ fragte Canohando.

Der Mann leckte sich nervös die Lippen. „Ich nicht! Ich habe die Pferde zusammen getrieben und nach Zaumzeug für sie gesucht.“

„Bist du ein Bogenschütze?“

Wieder antwortete er nicht, und Canohando blickte sich rasch in dem Zelt um. Ein Feldbett war leer; auf dem Boden daneben lag ein Schwert in seiner Scheide, aber es gab kein Zeichen von einem Bogen.

„Wo hat Itaril geschlafen?“ wollte der Ork wissen.

Der Mann schüttelte den Kopf. „Ich denke nicht, dass sie schlafen, diese Elben. Manchmal hat er sich hingesetzt, an einen Baum gelehnt und ausgeruht, aber ich hab nie gesehen, wie er sich hingelegt und die Augen zu gemacht hat.“

Canohando schaute sich noch einmal um. Fünf tote Männer und einer am Leben; ein Elb, der sich geweigert hatte, aus freiem Willen in den Westen zu gehen, und doch war er jetzt fort. „Ihr hattet bloß vier Pferde,“ sagte er.

„Das waren alle, die es auf dem Hof gab. Herr Itaril wollte weiter, wenn es dunkel wurde, und die Männer ohne Pferde sollten sich irgendwo welche suchen und dann aufholen.“

„Und noch mehr Halblinge töten,“ sagte der Ork heftig. „Sehr schön, Junge, du hast mir gesagt, was ich wissen will, und ich werde dein Leben verschonen. Aber ich werde dich zurück bringen, zur Gerechtigkeit der Halblinge, wie sie auch immer aussehen mag, und ich warne dich, ich bin ein Bogenschütze. Lauf mir davon, und du läufst nicht weit.“

Er stieß den Mann vor sich her unter den Bäumen hervor, zurück in Richtung des nieder gebrannten Bauernhofes. Die Sonne stand jetzt weit im Westen; sie warf ein gedämpftes Licht über den sandigen Weg und die sanftgrünen Felder zu beiden Seiten. Canohando hielt seinen Bogen gespannt, in Bereitschaft für jeden Fluchtversuch.

Nach einer Weile erschien eine Staubwolke am Horizont. Zehn Minuten später hatte sie sich in einen Ochsenkarren verwandelt, gelenkt von einem einzelnen Hobbit; ein langer Ochsenziemer stand aufrecht in einer Halterung vorne am Wagen. Der Hobbit bekam vor Entsetzen Glubschaugen, als er den Ork sah; er brüllte auf seine Tiere ein, um sie zu wenden, und er starrte über seine Schulter zurück, als könnte er nicht glauben, was er sah. Ehe der Hobbit allerdings entkommen konnte, warf sich Canohandos Gefangener in Richtung Karren.

„Guter Mann, flieh um dein Leben! Schau, ein Heer von Orks überrennt das Auenland – schlag Alarm! Lauf!“

Der Hobbit purzelte auf der dem Ork abgewandten Seite aus dem Karren; in seiner Hast fiel er hin, rappelte sich wieder auf und rannte Hals über Kopf durch das Maisfeld davon, ohne zurück zuschauen.

Der Mann warf Canohando einen schlauen Blick zu. „Bald hast du einen Haufen von diesen kleinen Narren mit Mistgabeln auf den Fersen. Wen werden sie wohl für den Feind halten, dich oder mich?“

Canohando betrachtete ihn einen Moment mit verschleierten Augen und befingerte einen Pfeil in seinem Köcher. „Ich lasse es bei den Hobbits darauf ankommen,“ sagte er endlich. Die Ochsen waren stehen geblieben, als ihr Fahrer, das Hasenpanier ergriff, und der Ork zerrte die Peitsche aus dem Halter und schüttelte sie aus. „Aber bei mir wirst du das nicht mehr tun, kleiner Mann! Jetzt läufst du!“

Er ließ die Peitsche einmal über dem Kopf des Mannes knallen, dann zischte sie auf seine Schultern hinab.

Der Kerl drehte sich um und stolperte von ihm weg, ungeschickt mit seinen auf den Rücken gefesselten Händen, und der Ork folgte ihm.

„Lauf, habe ich gesagt!“ schrie er. Er schlug dem Mann gnadenlos mit der Peitsche über Rücken und Schultern und trieb ihn die Straße hinunter, während rote Streifen auf dem handgewebten Hemd des Mannes erschienen und immer breiter wurden.


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