Der Ork der Königin (The Queen's Orc)
von jodancingtree, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Neununddreißig
Die Straße teilt sich

Bis sie das Gehöft erreichten, schwand das Licht, und der Ort war verlassen. Die Leichen, die auf der Erde verstreut gelegen hatten, waren fort geschafft worden, die Flammen nieder gebrannt. Sogar der Holzschuppen hatte sich in Kohle verwandelt und sonderte dünne Rauchkringel ab, die im Abenddämmer waberten.

Der mühsame Atem des Mannes klang rau in der Stille, und er stolperte. Canohando schwang seine Peitsche, so dass sie sich um die Mitte seines Gefangenen schlängelte, dann zog er sie straff, so dass sie den Mann an der kurzen Leine hielt und ihn davon abhielt zu fallen. Der Rüpel stand still, stöhnte und hielt sich den Bauch.

„Hast du noch irgendwelche anderen Tricks im Ärmel, kleiner Mann, oder soll ich dir einen Schluck Wasser geben?“

„Keine Tricks mehr.“ Seine Stimme war kaum hörbar.

Der Ork löste die Wasserflasche von seinem Gürtel und zog den Korken. „Hier.“ Er hielt sie dem Kerl an den Mund. Der Mann trank gierig, aber Canohando gab ihm nicht viel. Er trank selbst, bevor er die Flasche weg steckte. Dann nahm er den Rüpel beim Arm und zerrte ihn mit sich, während er ringsherum nach irgend einem Zeichen suchte, welchen Weg die Hobbits genommen hatten.

„In diesem Licht kann ich keine Spuren lesen,“ sagte er endlich verärgert. „Es scheint, als müsste ich deine Gesellschaft noch eine Weile länger ertragen. Na schön, lauf!“

Der Gefangene wandte ihm ein weißes, flehendes Gesicht zu. „Nein, bitte! Ich kann nicht mehr weiter. Lass mich hinsitzen, nur ein paar Minuten...“

Canohando zerrte ihn quer über den Hof, dorthin, wo das Haus gestanden hatte. „Ein Kind und seine Mutter sind da drin verbrannt,“ sagte er. Seine Stimme war leise, aber so grimmig, dass der Mann versuchte, sich seinem Griff zu entwinden. „Ihr seid gekommen, um euch zu nehmen, was ihr haben wolltet, ihr und euer hübscher Hauptmann, und es galt euch nichts, wer dafür leiden musste. Sei dankbar, dass du noch lebendig genug bist, um zu laufen!“

Er stieß den Mann vor sich her und machte einmal mehr Gebrauch von der Peitsche. Der Rüpel schlurfte voran, und der Ork trieb ihn wieder auf die Straße.

Canohando hätte die ganze Nacht rennen können, selbst mit seiner gebrochenen Rippe; er hatte als Fußsoldat des Hexenkönigs Schlimmeres ausgehalten. Doch der Mann wurde langsamer und langsamer, wie heftig der Ork auch die Peitsche schwang, und endlich rollte Canohando sie zusammen und beschränkte sich darauf, zu gehen und seinem Gefangenen einen milden Stoß in den Rücken zu versetzen, wann immer es so aussah, als würde er ganz und gar damit aufhören, sich zu bewegen. Schließlich, gerade, als sie an einen Kreuzweg kamen, sackte der Mann zusammen und landete der Länge nach auf dem Boden.

Canohando holte seine Wasserflasche heraus und schüttete ihren Inhalt in das reglose Gesicht, aber es kam keinerlei Reaktion. „Einen armseligen Krieger hättest du abgegeben,“ murmelte er, bückte sich und warf sich den ohnmächtigen Körper quer über die Schultern. Die Brandyweinbrücke schälte sich ein Stück voraus aus der Dunkelheit, und er rannte darauf zu.

Die ganze Zeit seit seiner Begegnung mit Itaril hatte der Ork angestrengt nachgedacht. Er besaß keine Möglichkeit, herauszufinden, welchen Weg Sariadoc und seine Hobbits gegangen waren, aber er fürchtete nicht sehr um sie; sie hatten Radagast, und falls noch mehr Unruhestifter im Auenland unterwegs waren, würde der Braune sie beschützen.

Die größere Gefahr ist Itarils Heer von Menschen, dachte er, und er fragte sich mit Unbehagen, ob eine weitere Armee von Elben schon vom Düsterwald hierher unterwegs waren; sie würden ihre Streitkräfte vereinigen, sobald sie konnten, ehe die Männer des Königs begriffen, was da vor sich ging. Das Wichtigste war, Eldarion zu warnen, dass sich im Norden ein Aufstand zusammen braute, und er dachte, dass der schnellste Weg der war, die Garnison zu benachrichtigen, an der er vorbei gekommen war, als er das Auenland erreichte.

Seine Fußtritte klangen hohl auf den Holzplanken der Brücke wider. Sein Gefangener wand sich und stöhnte, und er packte ihn fester. Keine Sorge, kleiner Mann, ich werde dich sehr bald an deine eigenen Leute übergeben. Ob dir allerdings die Art gefallen wird, wie sie dich willkommen heißen, ist deine eigene Sache.

Endlich kam er vor dem eisernen Tor zum Stehen und holte tief Atem.

„Darak!“ brüllte er. „Hauptmann der Wache, komm heraus!“

Türen am Fuße beider Türme flogen auf; Soldaten strömten heraus und umgaben ihn mit gezogenen Schwertern. Er begegnete dem Blick des Mannes, der ihm am nächsten stand und nickte ihm grüßend zu.

„Hellwach, wie ich sehe. Wo ist euer Hauptmann?“

„Hier bin ich.“ Der Mann mit dem Flügelhelm trat vor, und die Wachen machten ihm Platz. „Nun, Canohando von Mordor, was hast du uns heute Nacht gebracht? Wen hast du denn da?“

„Einen Verräter und einen Informanten, beides in einem. Schließt ihn weg und ich werde euch seine Geschichte in einer Kurzfassung erzählen. Ihr könnt ihn noch weiter befragen, wenn er aufwacht.“

Darak nahm sich einen Moment Zeit, dem Rüpel ins Gesicht zu schauen, doch der Mann war immer noch ohnmächtig. „Nehmt ihn in Gewahrsam,“ befahl er knapp, und zwei Soldaten kamen, um ihn von den Schultern des Orks zu heben. „Was ist denn los mit ihm?“

Canohando runzelte die Stirn. „Hauptsächlich ist er ein Narr, denke ich, und treulos obendrein.“

Der Hauptmann gab ein bellendes Lachen von sich. „Das bezweifle ich keine Minute, aber wieso hast du ihn getragen? Braucht er einen Heiler?“

„Einen Klecks Salbe für seinen Rücken vielleicht. Er sollte in Ordnung sein, wenn er sich ausgeruht hat, doch bewacht ihn gut. Er ist voller Niedertracht.“

Darak warf einem Soldaten, der neben ihm stand, einen Blick zu; scheinbar war das der stellvertretende Kommandant. „Kümmere dich darum, Relinac. Eine doppelte Wache, und schick nach dem Heiler. Ich bin in meiner Amtsstube. Komm mit mir,“ fügte er, an Canohando gewandt, hinzu.

Die Amtsstube lag ein Stockwerk höher, mit Fenstern, die auf beide Seiten des Tores hinaus blickten. Sie wurde von Laternen erleuchtet, die an den vier Wänden hingen, und einem hohen Kerzenleuchter auf einem breiten Tisch; Papiere waren überall verstreut, als wäre Darak bei seiner Arbeit unterbrochen worden, selbst so spät noch am Abend. Ein halb voller Kelch aus Holz stand auf dem Tisch, und ein Tonkrug daneben. Darak nahm einen weiteren Kelch aus einem Wandschrank und goss ein, bevor er seinen eigenen Kelch nachfüllte.

„Wein aus Lebennin,“ sagte er. „Ich trinke auf unsere zweite Begegnung, Herr Ork. Ich hätte nach dir geschickt, wenn du nicht zurück gekommen wärst. Ich habe eine Antwort aus Gondor erhalten.“

Der Ork ließ sich in einem der lederbezogenen Sessel am Tisch nieder. Nun, da er nicht länger rannte, tat seine verletzte Seite weh. „Und?“ sagte er. Er nahm einen vorsichtigen Schluck aus dem Kelch.

„Der König hat Befehle geschickt, aber den Brief hat er nicht zurück gegeben. Lass mich diese Rolle noch einmal sehen, wenn du erlaubst.“

Canohando reichte sie ihm herüber, und Darak rollte sie behutsam auseinander. „Ich denke, du solltest besser die eigenen Worte der Königin hören, wie sie sie niedergeschrieben hat,“ sagte er und fing an zu lesen.

Der Ork, der dies mit sich führt, ist Canohando von Mordor, bekannt als der Schatten der Königin, Schwurbruder von Frodo Beutlin, dem Ringträger. Ihr mögt ihn an der Narbe auf der Handfläche seiner Linken erkennen, und an meinem Abendstern-Juwel, den er um seinen Hals trägt. Sein Mut, seine Treue und sein Geschick in der Kriegskunst sind mir bekannt. Deshalb erteile ich ihm freien Zutritt in das Auenland, um nach freiem Willen zu kommen und zu gehen. Und des weiteren ernenne ich ihn zum Hüter des Auenlandes, dem König allein untertan, dem er Treue geschworen hat. Lasst diejenigen, denen der Schutz des Landes der Halblinge anvertraut wurde, Canohando als ihren Kommandanten ansehen, und lasst meinen Sohn, den König, Eldarion von Gondor, dieses Wort seiner Herrin Mutter bestätigen, gegeben in Lothlórien, während die goldenen Blätter fallen.

Gezeichnet: Arwen Undómiel, Königin.

Canohando setzte seinen Kelch so vorsichtig auf dem Tisch ab, als fürchtete er, das Holz könnte zersplittern.

„Ich würde gern die Narbe sehen, die Ihre Gnaden erwähnt hat,“ sagte Darak, und der Ork hielt ihm seine Hand hin.

„Sie stammt vom Bluttausch, als ich Neunfingers Bruder wurde.“ Canohandos Stimme war schroff, und er räusperte sich. „Was hat Eldarion zum Brief der Königin gesagt?“

Darak hielt die Hand des Orks hoch ins Licht und untersuchte die Narbe, die seine Handfläche durchschnitt. Endlich langte er in eine Börse an seinem Gürtel.

„Der König hat dir dies geschickt,“ sagte er. Er brachte einen Ring aus mattem Gold zum Vorschein; er sah schwer und uralt aus, und in den Reif waren Runen graviert, die mit der Zeit zu abgerieben waren, um leicht entziffert zu werden. Er war mit einem undurchsichtigen, schwarzen Edelstein besetzt, der im Kerzenlicht schimmerte, als glühte tief innen ein Stern.

„Es ist der Ring eines Amtsträgers aus dem alten Königreich von Arnor; es gibt nur wenige von ihnen, die noch existieren. Er ist das Siegel deiner Einsetzung.“ Er ließ ihn in Canohandos Handfläche fallen und stand Habacht, die Hand leicht auf dem Heft seines Schwertes. „Ich bin der höchstrangige Offizier in dieser Garnison. Auf Befehl des Königs stelle ich mich selbst und meine Männer unter deinen Befehl, Kommandant.“

*****

Canohando blieb mehr als eine Stunde mit Darak hinter verschlossenen Türen; er diktierte einen Brief, der schnellsten Fußes zum König geschickt werden sollte, und der Einzelheiten darüber enthielt, was er über Itarils Verschwörung erfahren hatte.

„Schick deine Reiter beim ersten Licht aus – keinen einzelnen Mann; besser einen Trupp von vieren, und lass jeden eine Abschrift der Botschaft bei sich tragen. Es ist ein langer Weg nach Minas Tirith, und wir müssen sicher sein, dass die Nachricht Eldarion erreicht. Und schick auch Warnungen an die anderen Garnisonen im Norden.

„Du sagtest, du hättest den Anführer getötet - “ Darak klang zweifelnd; er hatte ganz klar nicht erwartet, dass der Ork so rasch damit bei der Hand sein würde, sein Kommando zu übernehmen.

„Das habe ich, aber er war nicht allein; er prahlte von anderen, im Düsterwald und weiter in der Nähe, die sich ihm anschließen würden. Mag sein, dass der Verrat mit ihm stirbt, doch wir wären Narren, wenn wir darauf zählen würden. Und wenn man sehen kann, dass die Streitkräfte des Königs in Bereitschaft sind, dann ist es umso wahrscheinlicher, dass nichts geschieht.

„Schick die Boten aus, und morgen werden wir uns weiter beraten. Es kommen Menschen zu der Furt am Brandywein; kennst du die Stelle?“

Darak dachte einen Augenblick nach. „Südlich von hier, vermute ich. Die einzige gute Furt ist in Sarn, einen Tagesritt den Grünweg hinunter.“

„Wir wollen sehen, ob wir ihnen den Weg abschneiden können, ehe sie sie erreichen. Hast du Pferde? Gut, Die größte Streitmacht, die du aufbringen kannst, Hauptmann, und ich werde vor der Morgendämmerung wieder bei euch sein. Für den Rest der Nacht gehe ich zum großen Haus der Halblinge zurück.“

Er schlug Darak auf die Schulter, ging raschen Schrittes die Treppe hinunter und hinaus aus der Festung. Der Soldat am äußeren Tor ließ ihn passieren, aber er grüßte nicht; scheinbar war der neue Rang des Orks noch nicht allgemein bekannt.

Bevor er die Brücke erreicht hatte, verfiel er in Trab; er hatte es eilig, zu Malawen zurückzukehren.

Wir werden nicht über das Angesicht von Mittelerde wandern, Melethril. Die Herrin hat uns ein Heimatland geschenkt, und eine Aufgabe. Nur, dass ich nicht begreife, wieso sie es mir nicht gesagt hat, damals in Lothlórien...

Er hatte gerade eben die breite Stelle in der Straße erreicht, wo die Außengebäude des Schlosses anfingen, als ein schriller Schrei vom Fluss her ertönte und sich etwas aus der Dunkelheit auf ihn stürzte. Er wich zu einer Seite aus, zog blitzschnell das Messer und ließ es mit der selben Bewegung auf die Straße fallen. Malawen warf sich in seine Arme und zwang ihn, die Knie zu beugen, damit er das Gleichgewicht halten konnte. Er atmete in flachen Stößen, um den stechenden Schmerz in seiner Seite zu lindern.

„Mein Liebster, mein Geliebter, ich dachte, du wärst verloren – der Zauberer ist vor einer Stunde allein zurück gekommen und hat gesagt, sie hätten Itaril tot in einem Meer aus Blut entdeckt, aber kein Zeichen von dir!“ Sie weinte in seinen Hals hinein und klammerte sich so an ihm fest, als wollte sie ihn erwürgen. „Ich dachte, du hättest dich verletzt auf den Rückweg gemacht und wärst am Rande der Straße verblutet!“

Er trug sie dorthin, wo eine Holzbank an einer Wand stand und setzte sich mit einem Aufkeuchen hin. Sie wich zurück.

„Du bist verwundet! Wo ist es, Melethron, lass es mich sehen! Ist es schlimm?“

Er zog sie dicht an sich. „Still, Elbchen, still. Nein, es ist nichts; ich habe mich schon darum gekümmert, und später sollst du einen Blick darauf werfen und schauen, ob du es noch besser verbinden kannst. Ich muss dir etwas erzählen.“

Sie streckte sich nach oben, um ihn zu küssen. „Und ich muss dir auch etwas sagen. Der Zauberer hat Recht – es ist mir klar geworden, als ich dachte, ich hätte dich verloren.“ Ihre Hände bewegten sich ganz leicht über sein Gesicht, von seiner gewölbten Stirn über die Wangen hinunter; ihre Fingerspitzen begegneten sich und liebkosten seine Lippen. „Ich werde mit dir segeln, Melethron. Wir werden nach Valinor gehen, und niemals, niemals wieder werden wir einander verlieren.“

Er saß da, als wäre er versteinert; er wusste nicht, ob er in bitteres Gelächter ausbrechen oder den Kopf zurückwerfen und heulen sollte.

„Ich gehe mit dir, Liebster!“ sagte sie drängend. „Wir werden beisammen sein, immer beisammen, und es kümmert mich nicht mehr, was irgendjemand anderes denkt, solange ich nur dich habe. Melethron, sag, dass du dich freust!“

„Ja, ich freue mich.“ Er schob sie von seinen Knien und stand mühsam auf. „Du sagst, der alte Mann ist zurück? Komm, führ mich zu ihm, Elbchen, denn hier ist ein Durcheinander, dass ich ohne Hilfe nicht entwirren kann.“

Radagast war allein in der Bibliothek. Er blickte rasch auf, als sie hereinkamen; Malawen hielt ihren Arm schützend um die Mitte des Orks gelegt, obwohl er sicher genug auf den Beinen war.

„Wir gehen mit dir nach Valinor,“ sagte sie sofort, und Radagasts Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln.

„Gesegnet sollst du sein, Mädel! Es war mein größter Wunsch, dass du zur Besinnung kommst.“ Er wandte sich freudig an Canohando, doch der Ork sank zu Boden, den Rücken an der getäfelten Wand; er starrte auf die Flammen an der Spitze der Kerzen auf dem Tisch. Radagast wurde wieder ernst und wartete.

„Du wusstest, was die Königin für mich im Sinn hatte,“ sagte Canohando.

„Ah. Darak hat Nachricht aus Gondor.“ Radagast holte seine Pfeife heraus und fing an, sie zu stopfen. „Ja, ich wusste es,“ gab er zu. „Celeborn hat es mir gesagt.“

„Wieso hast du mir nichts davon erzählt? Und wieso im Namen von Mordor hat er mir die Überfahrt nach Valinor angeboten?“

„Celeborn tut überhaupt nichts im Namen von Mordor.“ Der Zauberer zündete seine Pfeife an und blies heftig Rauchwolken, bis sie zog, bevor er antwortete. „Arwen hatte die Absicht, dir einen Platz und ein Ziel zu geben, nachdem sie fort war. Doch Celeborn – und in dieser Sache bin ich mit ihm eines Sinnes – glaubt, dass dein rechtmäßiges Zuhause im Westen liegt, gemeinsam mit den anderen Erstgeborenen, die dem Ruf gehorchen, jetzt am Ende. So kommt es, dass du nun zwischen zwei Wegen wählen kannst.“

Der Ork kam auf die Beine und fing an, im Raum auf und ab zu gehen. „Ich bin nicht dazu gemacht, eine Wahl zu treffen, alter Mann. Siehst du, wenn ich bleibe, dann habe ich den Ruf verweigert, gegen den Willen der Mächte. Wenn ich gehe, dann weise ich die Aufgabe zurück, die meine Herrin mir auferlegt hat, und ich habe ihr Gehorsam geschworen. Ich hätte besser daran getan, in meinen Bergen zu bleiben!“

„Du vergisst mich, Geliebter,“ sagte Malawen.

Er machte zwei Schritte, kniete sich dorthin, wo sie saß, schlang die Arme um sie und vergrub sein Gesicht in ihrem Schoß.

„Du bist frei, zu tun, was du willst, Haltacala,“* sagte Radagast sanft. „Wenn du zurückbleibst, um über das Auenland zu wachen, dann tust du nichts Böses, und du wirst auch nicht eidbrüchig, wenn du mit uns segelst. Arwen konnte nicht wissen, dass man dir die Überfahrt gewähren würde, und sie hätte dich nicht zurück gehalten, wenn sie es gewusst hätte. Ich hätte gern, dass du mit uns nach Valinor kommst, aber beide Wege sind gleichermaßen ehrenhaft.“

„Im Westen wären wir sicher, Melethron,“ flüsterte Malawen. „Wir würden keine Furcht haben, weder wir noch unsere Kinder...“

Canohando hob den Kopf. „Würde man uns denn erlauben, dort Kinder zu haben, Elbchen? Doch wer wird dann das Land meines Bruders bewachen? Die Halblinge sind sterblich; sie können nicht nach Valinor gehen.“

„Der König verteidigt das Auenland,“ sagte Radagast.

„Und doch wurden erst vor einer Nacht Halblinge erschlagen, und die Gefahr ist nicht vorüber.“ Canohando setzte sich nach hinten auf seine Fersen. „Wo sind die Elben, die sich Itaril angeschlossen hätten? Der Anführer ist tot, aber in Wahrheit war er ein armseliger Herr. Jemand, der stärker ist als er, könnte sich erheben, um seine Stelle einzunehmen.“

„Eldarion wird nicht daneben stehen, während sich im Norden eine rivalisierende Macht gründet.“

„Nicht, während er lebt. Während das Königreich andauert, mögen die Halblinge sicher sein – obwohl auch diesmal Feinde durch geschlüpft sind! Doch du weißt, alter Mann, genauso wie ich, was aus Königreichen wird. Tausend Jahre, wenn sie Glück haben – dann wird Gondor untergehen, und wer verteidigt dann das Auenland? Werden die Valar es uns zum Vorwurf machen, wenn wir nicht segeln? Ich würde mit Freuden in ihrer Gegenwart wohnen, aber...“

„Es geht dir noch mehr durch den Kopf als das,“ sagte Radagast leise.

Canohando umschloss Malawens Hand mit der seinen und fuhr mit dem Zeigefinger die zarten Linien nach, die ihre Handfläche zeichneten. „Wusstest du, dass Lash halb menschlich war?“ fragte er den Zauberer.

„Nicht, bis du es uns gesagt hast, nein.“

„Sogar seine Söhne – ihre Mutter war ganz und gar menschlich, und Lash zur Hälfte, aber sie waren ganz und gar Orks. Meine Jungen werden genauso sein. Wenn wir Kinder in Valinor haben – falls die Heiligen es erlauben – dann werden sie Grauhäute sein, wie ich. Was für ein Willkommen werden sie finden unter den Elben?

„Seit ich gesehen habe, wie Lash sich eine Gefährtin nahm, habe ich Söhne gewollt, aber nicht solche Orks, wie ich einer war, oder meine Kumpane aus alten Zeiten. Wenn meine Jungen mit mir das Auenland bewachen und ihre Wildheit darauf verwenden würden, die Halblinge zu beschützen, dann könnten sie lernen, so wie Neunfinger zu sein: großherzig und getreu. Was würde in Valinor aus ihnen werden, alter Mann? Dort gibt es keine Arbeit für uns, keine Notwendigkeit für unseren Mut, doch Hass und Hohn, davon gäbe es reichlich. Ich schätze, dass mehr Elben wie Itaril sind als wie Celeborn. Doch werden die Heiligen uns vergeben, wenn wir ihren Ruf verachten?“

Der Zauberer räusperte sich.

„Ich denke, du schätzt die Elben falsch ein, Canohando; es gibt nicht so viele wie Itaril. Doch ja, die Valar werden dir vergeben. Und selbst wenn sie es nicht täten, gibt es doch Einen, der noch heiliger ist, und auf Dessen Wort hin selbst Manwë schweigt. Wird Er es übel aufnehmen, dass du dein eigenes, großes Verlangen zur Seite stellst, um die Unschuldigen zu verteidigen, und Kinder groß zu ziehen, um Morgoths Fluch zu brechen? Eru steht über allem Wissen, so hoch und heilig ist Sein Thron, und doch verstehe ich Ihn nicht so. Ich würde eher denken, dass Sein Segen auf dir liegen wird, und auf deinen Kindern. Es war passend, dass ich dich ,weise' nannte, an jedem Tag, als du uns in Gorgoroth überrascht hast! Ich habe wahrer gesprochen, als ich dachte.“

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*Haltacala - „Springt ins Licht“. Ein Spitzname, den Radagast Canohando in Bruchtal gab.


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