Der Preis der Freiheit (The Price of Freedom)
von Erin Lasgalen, übersetzt von Cúthalion


1. Kapitel:
Die Witwen von Rhunballa

Die betäubende Explosion und den Schauer von vielfarbigen Funken, Sand und Stein, der in Form eines Riesenpilzes aufstieg, konnte man wahrscheinlich meilenweit sehen.

Soviel zum Thema Geheimhaltung, dachte Éowyn gereizt. Obwohl sie in gewisser Weise wahrscheinlich besser dran waren, wenn die Katze aus dem Sack war, sozusagen. Sie hatte keine Begabung für Heuchelei. Vielleicht war das der Grund, weshalb jede nächtliche Sitzung des Rates der Königin ihr nachträglich pochende Kopfschmerzen bescherte. Und mehr noch, diese verstohlenen Ausflüge in die Wüste raubten ihr die Zeit für die weit dringlicheren Kümmernisse auf ihrer Liste.

Fallah Norstochter kniff ihre großen, mandelförmigen Augen zusammen, sah Éowyn an und lächelte listig. „Du denkst, Indassa wird nicht erfreut sein.“

„Das ist eine riesige Untertreibung“, sagte Éowyn verbindlich.

Die Zähne der anderen Frau blitzten weiß im Kontrast zu ihrer ebenholzdunklen Haut. „Nicht wenn wir ihr das hier als voll erprobte Methode anbieten, einen unerwünschten Ehemann loszuwerden.“ Fallah schob ihre Augengläser auf den verschwitzten Nasenrücken hoch. Es war eine sehr gelehrtenhafte Geste für jemanden, der ein rauchendes Feuerwerkabschussrohr auf der Schulter balancierte, so dick wie ihr eigener Oberkörper.

Éowyn runzelte die Stirn bei diesem Gedanken und bei dem plötzlichen, mörderischen Bild vor ihrem inneren Auge, was diese neuartige Apparatur bei einem Trupp bewaffneter Männer anrichten konnte. „Die neue Bauweise ist eine Verbesserung“, sagte sie und betrachtete den brennenden Krater dreißig Meter weit von dem kleinen Hügel, auf dem sie standen. „Diesmal hat er dich nicht rückwärts durch die Luft geschleudert, als du ihn abgefeuert hast.“

Ihre Freundin lachte. „Die parallele Röhre gibt dem Stein mehr Stoßkraft, aber wir brauchen immer noch mehr Distanz.“ Fallah legte das ausgebrannte Feuerwerksrohr hin und fing an, wie wild in ihr Skizzenbuch zu kritzeln. Éowyn spähte ihr über die Schulter und starrte auf die unbegreiflichen, mathematischen Schnörkel hinunter.

„Es gibt ein Gleichgewicht“, erzählte Fallah ihr, „das meine Vorväter im fernen Süden nutzten, um ihre Katapulte mit tödlicher Genauigkeit abzuschießen, als die Söhne von Harad unsere Nordgrenzen angriffen. Es erfordert Kraft und Abschusswinkel und das richtige Gewicht des fraglichen Geschosses, um zu bestimmen, wohin es innerhalb von ein paar Dutzend Handspannen fällt. Unsere alten Baumeister wussten ganz genau, wie viel Gran Schießpulver man dem Katapult hinzufügen musste und wie viel Grad---“

Sie bemerkte Éowyns höflich-ausdruckslosen Gesichtsausdruck und grinste verlegen. „Es ist wie ein Bogenschütze mit einem Bogen. Wenn wir lernen, in welchem Winkel wir die Bogensehne für die richtige Kraft anspannen müssen---“

„--- dann werden wir Scharfschützen“, beendete Éowyn den Satz. „Soviel habe ich begriffen.“ Es gelang ihr noch eine halbe Minute, ein ernstes Gesicht zu bewahren, ehe das Gelächter aus ihr heraussprudelte und die andere Frau ansteckte.

Fallah stand auf, nahm die Zügel ihres verschreckten, zitternden Pferdes, beschirmte ihre Augen und sah nach Westen. „Es wird spät.“ sagte sie mit Betonung.

Es war ein Dreistundenritt zurück in die Stadt. Es war nicht gut, nach Anbruch der Nacht so dicht an den Bergen angetroffen zu werden.

„Es wird das Beste sein, wenn wir unsere Pläne unter aller Augen verbergen, indem wir dies hier Indassa als eine Waffe gegen Haradoun anbieten“, sagte Fallah, als sie sich eilig auf den Weg machten. „Sie wird viel mehr als nur nicht erfreut sein, wenn sie die Wahrheit darüber herausfindet, was wir hier zwischen dem Sägegras und den Skorpionen getrieben haben.“ Sie schaute zu Éowyns stur angespannter Kinnlinie hinüber und fügte ruhig hinzu: „So wie sehr viele andere. Sie werden sagen, dass wir die Hand beißen, die uns nährt.“

„Im Gegensatz dazu, die Hand zu beißen, die sich von uns nährt?“ fragte Éowyn unverblümt.

Ihre Gefährtin schüttelte milde den Kopf. „Ach, meine Freundin, du bist solch eine Westron! Alles oder nichts. Schwarz und Weiß. Vollkommen richtig und vollkommen falsch. In den Ländern, wo der Dunkle Gott herrschte, haben wir diesen Luxus der Ideale nie besessen – noch nicht einmal hier in Rhunballa. Wir schlossen die nötigen Handel mit den Teufeln ab, die wir hatten, damit wir weiter atmen konnten, und von da aus haben wir uns das bisschen Liebe und Freiheit gerettet, das uns möglich war.“

Éowyn rutschte in ihrem Sattel herum und spürte das nur allzu vertraute Aufwallen von frustriertem Zorn, der immer dann in ihr hochstieg, wenn sie dazu gezwungen war, sich den Kopf an der pragmatischen Logik östlicher Vernunft einzurennen. „Ich weiß das“, sagte sie. „Aber ein neues Zeitalter der Welt ist heraufgedämmert, Fallah! Männer – oder Frauen – müssen nicht länger Handel mit Teufeln abschließen, um zu überleben!“

„Nein?“ Fallah beäugte sie wie eine leidgeprüfte Schulmeisterin, die sich über einen langsamen Schüler ärgert. „Der Dunkle Gott ist tot. Der alte Shah Farosh von Harad ist tot. Aber der junge Shah Haradoun ist stark und gerissen und, das versichere ich dir, dreifach der Schurke, der sein Vater war. Wie du weißt war er es, der die große Kriegerbande vor vier Jahren durch den Östlichen Pass führte, um die Männer von Rhunballa für den Großen Krieg des Dunklen Gottes zwangszuverpflichten. Er war es, der unseren guten König Udam erschlug und die Prinzessin Indassa zur Frau nahm.“

„,Zur Frau nehmen’ ist nicht das Wort, das mein Volk für das verwendet, was er ihr angetan hat“, flüsterte Éowyn heftig.

„Wie du sagst“, stimmte Fallah unbeeindruckt zu. „Er hat sich großen Ruhm erworben, weil ihm gelang, was kein Diener Mordors in zehn Jahrhunderten vollbracht hat – die Eroberung der Trutzigen Stadt.“ Sie zuckte die Schultern. „Seine Häuptlinge müssen vergessen haben, dass an der Seite des tapferen Fürsten von Harad ein Nazgûl ritt, um das Interesse unserer Freunde in den Bergen zu entmutigen, denn sie geben ihm das gesamte Verdienst.“

Éowyn zügelte ihr Pferd und starrte sie in offenem Zorn an. „ Unsere ,Freunde’ haben diese Familie auf dem Hof in Südquell gefressen, Fallah!“

„Aber wer waren die schon?“ murmelte Fallah mit kühler Gleichgültigkeit. „Niemand von Wert. Ein junger Kesselflicker aus Ost-Sabad und seine Frau und Kinder, die sich vor zwei Jahren mit einer Händlerkarawane die sichere Durchfahrt durch die Östliche Teilung erkauft haben. Neuankömmlinge ohne Wurzeln in Rhunballa, ohne Familie, die sie betrauert. Wenn jemand den gelegentlichen Hunger unserer Beschützer stillen muss, wer besser als sie?“

Éowyn hielt die zornigen Worte zurück, die ihr auf den Lippen lagen, als sie das traurige, leicht bittere Lächeln auf dem Gesicht ihrer Freundin sah. „So haben wir tausend Jahre frei von Saurons Joch gelebt, meine Freundin“, sagte Fallah ruhig. „So denkt der Großteil unseres Volkes immer noch.“ Sie hob einen Arm, ließ ihn um ihren Kopf kreisen und deutete vage in Richtung der weit entfernten, wolkenverhüllten Gipfel der schroffen, rötlichen Bergkette, die sie umgab. „Rhunballa, die Trutzige Stadt, steht bis heute wegen dem, was die Berge heimsucht, die dieses große Tal umgeben. Wir haben seit undenklichen Zeiten in einer Art Einvernehmen mit den Nachtjägern gelebt. Rhunballa lag innerhalb vom Reich des Dunklen Gottes und gehörte doch nicht dazu. Wir haben Ihm Anbetung und Menschenopfer von jungen Männern und Frauen verweigert. Wir haben Ihm jegliche Treue verweigert. Und während dieses winzige Königreich aus Abtrünnigen und entlaufenen Sklaven wuchs und gedieh, haben wir angefangen, Möchtegern-Eroberer anzuziehen wie Honig die Fliegen. Alle paar Jahre hat irgendein Östlicher Häuptling oder ein Prinzchen von Khand oder Harad einen tapferen Kriegerzug durch die Östliche Teilung geführt.“

„Und so habt ihr durch eure schiere Existenz für einen stetigen Vorrat and Opfern für die – die Jäger gesorgt“, schloss Éowyn. Sie empfand wenig Liebe für Möchtegern-Eroberer der Haradrim, aber Fallah hatte versäumt zu erwähnen, dass die Legende der Trutzigen Stadt, die Hoffnung auf Freiheit und ein besseres Leben viel einfaches Volk aus dem Osten, aus Harad und den Ländern des fernen Südens anzog. Diese Leute kamen zu den Pässen der Dhak-Ral-Berge und waren bereit, fast jeder Gefahr zu begegnen, um der peitschenschwingenden Hand von Mordor zu entkommen. Die meisten schafften es nicht bis nach Rhunballa.

„Jawohl, wir sind Würmer, die am Haken baumeln.“ Fallah warf ihr einen beinahe mitleidigen Blick zu. „Du sagst, ein neuer Tag sei angebrochen? Vielleicht hat er das für die Söhne von Númenor und deine gelbhaarigen Nordmänner. Aber Haradoun hat Rhunballa schon einmal eingenommen. Er wird wiederkommen. Er muss. Denn er hat in den letzten zwei Jahren Khand und Süd-Harad verwüstet und sich selbst zum unwidersprochenen Herrn des gesamten Ostens gemacht. Sein Stolz wird es nicht ertragen, wenn es ihm nicht gelingt, seine aufsässige Braut und ihr Land wieder einzunehmen. Und wer wird uns beschützen, Éowyn? König Elessar?“ Sie spie auf den Boden. „ Er hat das Heer von seinen schwarzen Umbarischiffen auf die Pellenorfelder geführt und die Söhne von Rhunballa wie Weizen nieder geritten.“

„Wenn du all das glaubst“, fragte Éowyn leise, „wieso hilfst du mir dann?“

Fallahs Hände hielten die Zügel so fest, dass ihre Knöchel sich zu einem blutlosen Grau verfärbten. Keine andere Reaktion zeigte sich in Gesicht oder Stimme, während sie in ihrem vertrauten, sachlichen Tonfall sprach. „Weil Haradoun jedes männliche Wesen in Rhunballa mitgenommen hat, das älter war als neun --- achttausend Männer und Jungen. Weniger als vierzig von ihnen kamen zurück, um ihre Geschichte zu erzählen. Mein Vater war siebenundfünfzig und fast lahm vor Gicht, ein alternder Apotheker, der sein ganzes Leben lang nie eine gewalttätige Hand erhoben hat, es sei denn, um seinem einzigen Kind einen Klaps auf das Hinterteil zu geben. Er starb unter den Hufen von Elessars Reitern, weil er nicht davonlaufen konnte. Aber er hätte niemals dort sein sollen! Und ich denke – nein, ich bin sicher! – dass die Jäger Haradoun durch die Teilung gelassen haben.“

Éowyn starrte sie an. Fallahs Kopf hatte sich ängstlich den rostbraunen Bergen zugewandt. Ihr hübsches, ein wenig gelehrtenhaftes Gesicht sah plötzlich viel jünger aus als ihre zweiundzwanzig Jahre. Sie sah aus wie ein kleines Mädchen, das Angst hatte, dabei belauscht worden zu sein, wie sie fürchterliche Geheimnisse offen aussprach.

„Davon habe ich nichts gehört.“ sagte Éowyn langsam.

Fallahs Stimme war beinahe ein Flüstern. „Enshin, der Sohn des Zimmermanns aus der Hellen Straße, hat mir vor vier Monaten, bevor er an der Auszehrung starb, gegen die er die letzten zwei Jahre angekämpft hat, etwas erzählt. Er sagte, als die Zwangsrekrutierer die Männer unterhalb der Dhak-Dir-Klippen vorbeitrieben, hätte Haradoun die Kolonne für eine Stunde Rast anhalten lassen. Enshin hat mir geschworen, dass er Haradoun in die Klippen hineinklettern und in den Höhlen dort verschwinden sah.“

„Um sich für den sicheren Durchgang zu bedanken?“ fragte Éowyn mit gesenkter Stimme.

„Das glaube ich.“ Fallah nickte. Ihr Mund formte eine harte Linie. „Du fragst, warum ich dir mit diesem wahnwitzigen Plan helfe, obwohl ich weiß, dass Indassa uns höchstwahrscheinlich alle beide unter dem Jubel von ganz Rhunballa mit dem Säbel ihres Vater köpfen würde, wenn sie von unserer wahren Absicht wüsste? Ich denke, es war nicht der Nazgûl, der die Jäger abgehalten hat. Ich denke, Haradoun hat irgend einen Handel mit ihnen abgeschlossen. Und wenn sie ihn einmal durchlassen, um unsere Stadt ihrer Männer zu berauben, dann könnten sie ihn auch ein zweites Mal durchlassen, um die Frauen von Rhunballa zu versklaven.“

Éowyn schwieg; sie dachte daran, wie Indassa munter abgewinkt hatte angesichts ihrer Befürchtungen darüber, dass sie den Großteil der Verteidigung von Rhunballa gegen menschliche Bestien wahrhaftigen Bestien überließ. „Vor vier Jahren“ hatte ihr Indassa leichthin mitgeteilt, „da schien es, als sei der Dunkle Gott nur eine Handspanne davon entfernt, seine Eroberung der ganzen Welt zu vervollständigen. Die Jäger fürchteten Seine Macht und verrieten uns, um sich selbst zu retten. Wer würde nicht dasselbe tun?“

Éowyn hatte es weise vermieden, auf diese rhetorische Frage zu antworten.

„Meine Brennflüssigkeiten und Feuerwerkskörper werden die Jäger in Flammen aufgehen lassen...“ Fallahs Lippen kräuselten sich. „In Wahrheit werden sie sie in Stücke reißen. Aber sie werden das selbe mit einem Bataillon Haradrimkrieger machen, wenn es nötig wird. Wenn wir irgendjemandem etwas erzählen müssen, dann sollten wir sagen, dass wir an einem Geschenk für die Königin arbeiten. Eine Methode der Verteidigung, die Haradoun in hundert verstreute Einzelteile zerfetzt wenn er so närrisch sein sollte, zurück zu kommen, um seine Braut zu beanspruchen.“

„Einverstanden.“ Éowyn nickte. Indassa würde sich ganz entschieden für diesen Gedanken erwärmen. „Aber lass uns nur das sagen und nicht mehr, es sei denn, wir werden ausdrücklich gefragt.“

Sie ritten eine Weile in kameradschaftlichem Schweigen. Die Erde unter ihnen veränderte sich allmählich; das trockene Säbelgras und Wüstengestrüpp machte einem sanfteren Grasland und flach wogenden Hügeln Platz. Éowyn fand es immer wieder erstaunlich, dass man buchstäblich das Wasser in der Luft riechen konnte, während man sich dem Zentrum des Tales näherte. Nach einem langen Nachmittag in staubigem Gelände war es besonders stark. Èowyn erwischte sich dabei, wie sie angespannt die Stirn runzelte und glättete entschlossen ihr Gesicht. Sie hatte eine vage Erinnerung daran, wie ihre Mutter ihr sagte, dass sie eine hässliche Falte mitten zwischen den Augen bekäme, wenn sie nicht lernte, sich selbst davon abzuhalten, so heftig die Brauen zusammenzuziehen. Sie würde lernen müssen, nicht jeden Gedanken und jedes starke Gefühl so offen auf ihrem Gesicht zu zeigen, obwohl sie eine langsame Schülerin war in dieser Kunst. Es widersprach jedem Gerechtigkeitssinn, den sie besaß, Indassa auf diese Weise zu hintergehen, aber---

Aber die närrische kleine Königin hatte Éowyn den Befehl über die Wache von Rhunballa übertragen, die einzige Form von Heer, die das Talkönigreich besaß. Und nun fand Éowyn sich selbst mit der Verteidigung von Rhunballas Königin beauftragt und gleichzeitig unfähig dazu, das Volk des kleinen Königreiches zu beschützen - durch den Befehl, Bestien unangetastet mitten unter ihnen zu dulden.

Vor acht Wochen hatte sie einen Eid geschworen, als sie in der kleinen Küche dieses leeren Bauernhauses in Südquell gestanden hatte, die eine Hand in ohnmächtigem Zorn geballt, in der anderen eine mit Stroh ausgestopfte Puppe; sie war halb mit dem Blut des Kindes befleckt, das sie geliebt hatte. Die nächsten Nachbarn der Familie hatten in der Nacht zuvor etwas gehört, das wie Schreie klang, und sie hatten den ganzen Tag danach niemand das Haus verlassen sehen. Niemand war Éowyn in das Haus gefolgt. Weder Suni noch die tapfere Shaeri. Nicht einmal Ikako. Sie hatten die Gesichter abgewandt, nicht einmal willens, das Haus anzuschauen, wenn man sie nicht dazu zwang. Sie wollten weder schauen noch wissen. Sie wollten die einfachen Spielsachen nicht sehen, die über dem Fußboden verstreut lagen oder den halb fertig gestrickten Wollmantel, an dem die Mutter gearbeitet hatte, oder irgend etwas, das diese ermordete Familie zu Menschen machte, die sich nicht von denen unterschieden, die sie selbst liebten. Die Jäger machten es den Rhunballani immer leicht, wegzuschauen... indem sie Neuankömmlinge nahmen und die Leichen verschwinden ließen, damit es hinterher nichts Unangenehmeres zu säubern gab als eine leere Hütte wie diese. Nur das leere Haus und das blutbespritzte Spielzeug erzählten die Geschichte von dem, was letzte Nacht hier geschehen war. „Sie muss dich festgehalten haben, als sie sie umgebracht haben, Püppchen“, hatte Éowyn geflüstert, und Wut stieg in ihr hoch wie ein Sandsturm in der Hochwüste, bereit allem und jedem die Haut abzuziehen, das närrisch genug war, ihr in den Weg zu treten.

Sie hatte geschworen, dem ein Ende zu machen. Irgendwie würde sie einen Weg finden, die Jäger zu zerstören, die das Lebensblut weniger tranken und die guten Herzen vieler verdarben, indem sie sie zu verängstigter Komplizenschaft zwangen. Sie würde irgendeinen Weg finden, dies zu erreichen, der Rhunballa nicht offen der Eroberung überließ. Fallahs Waffen waren eine zweifache Antwort auf beide Gebete, aber der bloße Gedanke, sie gegen Menschen einzusetzen, war abstoßend.

„Es wäre eine schreckliche Sache, wenn wir diese Waffen gegen Menschen benutzen müssten.“ sagte sie laut.

„Es wird noch viel schrecklicher sein, wenn Haradoun zurückkommt, ohne dass ein Nazgûl nach seinen Fersen schnappt.“ erwiderte Fallah. „Das war der einzige Grund, warum er die Stadt nicht gebrandschatzt hat.“

Sie erreichten die Spitze eines Hügels; karges Grasland und Salbei mischten sich ein paar hundert Meter weit mit tiefstem, von Wasser gespeistem Grün, bis sie ganz verschwanden. Eine sprudelnde Quelle, eine von hunderten, die die innere Talregion überzogen, spie eine gebogene Fontäne aufwärts und wand sich dann abwärts, um die Mündung eines kleinen Flüsschens zu bilden. Vor ihnen ausgebreitet lag das Herz von Rhunballa, das Tal der Hundert Quellen. Auf jede Meile verteilt gab es einen oder zwei solcher Flüsse, das Lebensblut Rhunballas; es überflutete Reisfelder mit grünem Leben und tränkte Obstgärten, Weizenfelder und lebendes Vieh. Inmitten dieser wuchernden Oase, die von einem zum anderen Ende mehr als zwanzig Meilen maß, stand die Stadt Rhunballa, das Trutzige Juwel, von vielfarbigen Blumen und Wassergräsern umkränzt, gekrönt von Weiden und fruchtbeladenen Bäumen. Jenseits der grünen Ebene aus Reisfeldern und blühenden Gemüseplantagen schwebte die Stadt aus Holz und Lehm mit ihren Tonziegeldächern auf einer riesigen, sanft abfallenden Anhöhe.

Rhunballa hatte keine Stadtmauer.

Éowyn verspürte ein Aufwallen schrecklicher Furcht, als sie sich an Fallahs Erzählung darüber erinnerte, wie Haradoun und seine Männer vor viereinhalb Jahren einfach zu König Udams Villa hinauf geritten und ungehindert in sein Esszimmer marschiert waren. Der Fürst von Harad hatte den alten Mann an seinem eigenen Frühstückstisch erschlagen. Zweihundert Haradrimkrieger hatten diese friedliche, sonnendurchflutete Stadt binnen einer Stunde eingenommen. Jetzt, vier Jahre später, blieb die Stadt noch immer unbefestigt und die Felder im Hundert-Quellen-Tal wurden allein von Frauen bestellt. Haradoun hatte nur einen halben Tag in Rhunballa verbracht. Er war nur lange genug geblieben, um den König zu erschlagen, die Prinzessin zu missbrauchen und jedes männliche Wesen zusammen zu treiben, das alt genug war, ein Schwert festzuhalten ohne umzufallen. Die Zeit hatte gedrängt und der Nazgûl ließ keinerlei Aufenthalt durch nutzloses Plündern und Brandschatzen zu. Wenn Haradoun wiederkam, dann würde der zweite Fall von Rhunballa weit schrecklicher sein als der erste. Kalte Logik sagte ihr, dass sie Fallahs Waffen benutzen sollten, um sich im Falle eines Angriffes einen Vorteil zu verschaffen. Aber wenn sie verloren----

„Wenn wir verlieren...“Éowyn hob eine Hand, um den beiden Mädchen, die ihnen etwas zuriefen, abwesend zuzuwinken, während sie an den offenen Waschhäusern und Färbereien vorbei kamen. Waren das neue Schülerinnen? Éowyn konnte ihre Gesichter nicht einordnen, aber das Lehrlingshaus der Wache hatte in den letzten Monaten so viele neue Mädchen aufgenommen, dass sie bei den neuesten den Überblick verlor. „Wenn wir verlieren“, wiederholte sie, „dann wird Haradoun dieses Wissen besitzen. Er würde es gegen den Westen und die Südländer verwenden.“

„Dann müssen wir sehr darauf achten, nicht zu verlieren.“ sagte Fallah höchst vernünftig.

Darauf konnte Éowyn nur nicken. Sie sah keine andere Möglichkeit, das eine wie das andere ihrer Ziele zu erreichen. Die Worte von Gandalf dem Grauen hallten wider in ihrem Geist, eine alte Erinnerung, in einem abgelegenen Raum ihres Gedächtnisses verstaut bis zu diesem Augenblick. Als sie an einem langen Winterabend ein paar Monate vor ihrem zwölften Geburtstag in einem Schachspiel ständig gegen Théodred verlor, hatte er ihr geraten, eine riskantere Taktik zu wählen.

Manchmal, meine Liebe, hatte er gesagt, müssen wir alles riskieren, was wir haben, um den Tag zu gewinnen.

*****

„Es ist eine dringende Sorge, dass diese Information nicht zu irgend jemandem durchsickert, der Gerüchte darüber nach Harad zurücktragen könnte, oh Vielgeliebte!“ Sharadi, Indassas Schatzkämmerin, hatte die volle, tragende Stimme einer geschulten Rednerin.

Die Worte der alten Frau hallten von den weiß gefliesten Wänden der Königlichen Villa wieder und erreichten mühelos alle, die sich im Raum befanden. Sie rissen Éowyn aus ihren eigenen, besorgten Gedanken. So weit hatte noch niemand irgendwelche Explosionen in den Staubländern erwähnt. Das war ein unerwarteter Segen. Ihre Bewegungen und Handlungen wurden gründlicher beobachtet als sie gern zugeben mochte, Éowyn wusste das. Manche der Frauen im Rat der Königin betrachteten sie mit Misstrauen oder mit ausgesprochener Feindseligkeit - ihrer Nähe zur Königin wegen, des seltsamen Vertrauens wegen, das ihre Herrscherin dieser blasshäutigen Fremden aus einem Land schenkte, dessen Krieger ihre Ehemänner oder Söhne auf den Pelennorfeldern erschlagen hatten. In dem Jahr seit Éowyns Ernennung zur Wache der Königin war die Abneigung nur noch größer geworden.

Das passte Éowyn durchaus. Sie hatte für die meisten dieser reichen Witwen von Rhunballas mächtigen Männern wenig Verwendung. Sie umgaben sich mit dem Hauch von lang erworbenem Adel und schauten hochnäsig auf ehrliche Arbeit und ehrliche, arme Leute herab. Sie waren verwöhnt und kleinlich. Sie verachteten die Leute, deren Väter aus dem Süden und dem fernen Osten nach Rhunballa gekommen waren, Leute wie Fallah und Ikako, einfach deshalb, weil ihre Haradrim-Vorfahren diese Nationen erobert hatten. Sie nannten sie Sklavenrassen, natürliche Dienstboten für die Kinder von Harad. Wie sie für sich beanspruchen konnten, die herrschende Klasse zu sein, wenn sie jede Verantwortung denen gegenüber ablehnten, die sie beherrschen wollten, lag jenseits von Éowyns Horizont. Ein König oder eine Königin, so hatte Théoden sie gelehrt, war der Diener seines Volkes, nicht anders herum.

All diese Dinge waren nur weitere Punkte auf der ständig wachsenden Liste, warum diese nächtlichen Ratstreffen etwas waren, das Éowyn wie eine langsame Folter fürchtete.

Die Halle der Königin war nicht so sehr ein Thronsaal als vielmehr ein Audienzzimmer, ein Treffpunkt für die Regierenden von Rhunballa, um Gesetze und Politik festzulegen. Éowyn fand den Raum ausgesprochen entnervend, weil er der Nachtluft völlig offen stand. Die hohen, gewölbten Fenster ohne Läden, die sich an beiden Längsseiten der Halle entlang zogen, waren so groß, dass es ihr passender erschien, die Wände als Säulen zu bezeichnen. Es wäre ein Kinderspiel für irgend jemanden – oder irgend etwas – von jeder Seite aus die Königin und all ihre Ministerinnen zu überfallen und sich mit einem einzigen tödlichen Schlag sowohl der Monarchin als auch der Regierung zu entledigen. Sie runzelte die Stirn und rutschte unbehaglich hin und her; sie dachte, dass Fallah wahrscheinlich darüber lachen und sagen würde, dass sie jetzt ständig wie die Wache der Königin dachte.

Nirgendwo war ein Stuhl zu sehen. Riesige, daunengefüllte Seidenkissen lagen über den gesamten, großen Raum verstreut, säuberlich zu geschwungenen Halbkreisen angeordnet. Vor langer Zeit hatte Indassa Éowyn einmal erzählt, dass bis zu ihrer Herrschaft sowohl der König als auch der Königsrat auf dem ungepolsterten Marmorboden knieten. Der alte König hatte seinem einzigen Kind bei mehr als einer Gelegenheit anvertraut, es sei eine Prüfung der Männlichkeit, nach einer langen Regierungssitzung aufzustehen... falls das Blut des Mannes denn überhaupt noch richtig in seinen Beinen kreiste. Eine von Indassas ersten Entscheidungen als Königin war die Hinzufügung der Polster gewesen. Éowyn saß, die Beine nach östlicher Sitte unter sich gekreuzt, auf einem dieser Polster, genau wie alle anderen Frauen im Saal.

Vor ihnen thronte auf einem Kissen aus roter Seide – die selbe Farbe und das selbe Material wie ihr Gewand – die Königin von Rhunballa. Indassa war eine kleine, wunderschöne, makellos mit Haube und Juwelen geschmückte Puppe von einem Mädchen. Heute Nacht lauschte sie der Debatte und dem gelegentlichen Gezänk der mächtigsten Frauen in ihrem Reich und sagte selbst wenig. Sie schien in ihren eigenen Gedanken verloren.

„Pah!“ sagte Obari, die Frau des Weinhändlers- „Es ist unter den Händlern der Seestadt immer allgemein bekannt gewesen, dass der Westpass offen ist.“ Sie warf Éowyn mit ihren khôl-umrandeten, dunklen Augen einen schiefen Blick zu. Es war kein freundlicher Blick. Obari hatte sich bei verschiedenen Gelegenheiten leidenschaftlich gegen die Wache ausgesprochen und behauptet, ihre bloße Existenz verdürbe die jungen Frauen von Rhunballa. Obaris älteste Tochter, Shaeri, war Kommandantin im Wachhaus am tiefen Brunnen, was der Grund war, warum die ältere Frau Éowyn für die Verkörperung des Bösen hielt. „Unsere Herrin von der Wache kam vor zwei Jahren mit einer von ihren Händlerkarawanen zu uns. Euer Ehemann wird das inzwischen sicherlich wissen, meine Königin.“

Ein warmer Hauch Nachtluft wehte durch die Halle und kräuselte die blutrote Seide von Indassas Gewand. Ansonsten saß sie unbeweglich und in Gedanken und zeigte keinerlei Reaktion auf die Worte der älteren Frau. Selbst jetzt, dachte Éowyn traurig, nach vier Jahren der Regentschaft als unangefochtene Herrin ihres eigenen Königreiches, beugt sie sich noch immer dem Brauch, den alten, östlichen Gesetzen der Unterwerfung.

Haradoun hatte bei ihr gelegen und sich zu ihrem Ehegatten erklärt. Er hatte sich ihr aufgezwungen, während der Leichnam ihres betagten Vaters noch warm war, um seinen Anspruch auf ihre Ländereien zu besiegeln. In den Augen aller anwesenden Frauen – Éowyn ausgenommen – waren sie Mann und Frau. Die Tat war geschehen. Indassas Einverständnis, oder der Mangel daran, spielte überhaupt keine Rolle. Dieser Gedanke sorgte immer wieder dafür, dass sich in Éowyns Bauch ein Knoten aus Übelkeit und langsam glühender Wut zusammenballte. Die meisten der herrschenden Familien von Rhunballa waren von der Abstammung her Haradrim. Nach zwanzig Generation der Abtrünnigkeit und der Trennung von Harad waren viele Leute in diesem Land noch allzu häufig Sklaven der Sitten und Gebräuche der Heimat, aus der ihre Väter geflohen waren.

Die Königin von Rhunballa würde in fünf Monaten neunzehn Jahre alt sein, aber sie wirkte viel jünger. Durch ihr Haradrim-Blut hatte sie den feinknochigen, zarten Körperbau, der bei den östlichen Frauen üblich war. Mit ihren rot geschminkten Lippen und den khôl-umrandeten Augen sah Indassa aus wie ein Mädchen in den Kleidern seiner Mutter.

„Wir haben immer gewusst, dass die westlichen Pässen nicht bejagt werden“, sagte Indassa leise. Ihre Stimme war wie ihr Gesicht viel jünger als ihre Jahre. „Etwas ist dort, etwas, das sie fürchten. Mein Großvater sagte mir, es sei irgend ein furchterregendes Geheimnis an die vielen Schwefelwasserquellen und Schwarzölteiche in dieser Gegend gebunden.“ Sie hob die Augen und begegnete direkt Éowyns Blick. Jede falsche Illusion, dass die Königin nicht mehr sei als eine Kindfrau mit leiser Stimme, schwand, wenn man Indassa in die Augen sah. Sie waren klar und geradeheraus. Im Moment brannten sie von einer unerklärlichen Mischung aus Entschlossenheit und schrecklicher Angst.

Was hat sie vor? fragte sich Éowyn, und ihr Magen zog sich in jäher Furcht zusammen. Was ist geschehen, das sie so erschreckt hat?

Es würde keine Antwort auf diese Frage geben, ehe die anderen nicht gegangen waren.

„Aber auch für das Empfinden von Sterblichen ist es gefährlich, wie Ihr wohl wisst, Éowyn aus dem Norden“, fuhr die Königin fort. „Die Erde bebt und lässt die Klippenabhänge auf unvorsichtige Reisende herabfallen. Die Erde stößt kochendheiße, schwarze Fontänen und beißende Gase aus. Mein Gatte wird nicht so närrisch sein, uns über die westliche Straße einen Besuch abzustatten. Vom Südpass aus wird er angreifen. Die Östliche Teilung wird von den Jägern und der Garde wohl überwacht, genau wie der Norden. Ihr habt die hundert Männer aufgespürt, die er diesen Frühling ausgesandt hat, zusammengedrängt in den Wagen einer geführten Händler-Karawane.“

„Ja, das haben wir, Majestät.“ Éowyn nickte. „Obwohl ich denke, dass es mehr ein Test war als ein Angriff. Er hat hundert Männer geopfert, um herauszufinden, ob der Weg von Sterblichen oder von Bestien blockiert wird. Und doch finde ich es verstörend, dass sie es mit ihrer List an den Jägern vorbei geschafft haben. Ich hätte geglaubt, dass sie so viele menschliche Leiber wittern würden, als die an den Klippen entlang kamen. Man sagte mir, dass sie sich ein solches Fest üblicherweise nicht entgehen lassen.“

Die Worte hingen in der Luft. All die anderen Frauen, die neuen Ministerinnen dieses winzigen Königreiches – von denen die meisten ihre Ämter von ihren toten Ehemännern geerbt hatten – waren still. Éowyns Kommentar war keine direkte Herausforderung angesichts Indassas sturer Weigerung, zu glauben, dass die Jäger sie ein zweites Mal betrügen könnten, aber er war dicht genug daran, dass man die plötzliche Spannung in der Halle mit dem Messer schneiden konnte.

Indassa betrachtete Éowyn, ihr zartes olivgetöntes Gesicht so unergründlich wie eine Steinmaske. Diese teilnahmslose Fassade war die eine königliche Gabe, die ihr Vater das Kind gelehrt hatte, dass er an den Mann verheiraten wollte, den er auserwählte, ihm auf den Thron zu folgen. Dann seufzte die Königin kunstvoll. Es war eine eingeübtes Verhalten, eine Art Mummenschanz, den Éowyn von Indassa kannte, wenn sie am unsichersten war. Dies war Indassa, die Königin spielte, die es vorzog, die Rolle der hochmütigen Monarchin darzustellen, anstatt ihren eigenen, angeborenen Verstand zu benutzen. Damit maskierte sie die Tatsache, dass Éowyns öffentliche Frage sie verletzt hatte, und dass sie sich ein wenig betrogen fühlte. Éowyn stählte sich innerlich. Das Mädchen würde jetzt wahrscheinlich irgend etwas schrecklich Schnippisches oder Herablassendes sagen.

„Ihr seid erst seit zwei Jahren bei uns, meine Freundin“, sagte die kleine Königin. „Ich weiß wohl, dass die Idee, sich auf den Schutz der Jäger zu verlassen, für diejenigen entnervend ist, die kein Lebensalter hindurch Zeit hatten, sich an den Gedanken zu gewöhnen. Niemand ist unfehlbar – nicht einmal Monster.“ Sie lächelte und zeigte ihre Grübchen. „Vielleicht haben wir sie über die Jahrhunderte hinweg gezähmt.“

Anerkennendes Gelächter hallte durch den Raum, manches davon falsch, manches ehrlich erheitert. Éowyn verfluchte ihre helle Haut, die allen Anwesenden zeigte, was sie sicherlich für rotgesichtige Scham halten würden. Innerlich kochte sie. Indassa wurde im der Kunst der Politik immer besser, dachte sie säuerlich. Im Abstand zwischen zwei Atemzügen hatte die kleine Königin wirkungsvoll jegliche Glaubwürdigkeit zerstört, die Éowyn jemals hoffen konnte erreicht zu haben, was ihre Befürchtungen über die Jäger anging. Die scheinbar sanfte Erwiderung hatte Éowyn wie einen launischen Fremdling aussehen lassen, einen Neuankömmling, der die Gepflogenheiten dieses Landes noch immer erst erlernen musste.

„Aber kommt, meine Schwestern“, fuhr Indassa mit der mahnenden Stimme eines älteren Familienmitgliedes fort. „Wir dürfen über diese Ängste nicht spotten. Jeder einzelne unserer Vorväter hat mit dem selben Entsetzen zu kämpfen gehabt. Unsere Frau Éowyn nimmt sich ihre Führungsaufgabe der Wache mit einer Leidenschaft zu Herzen, an der ich keinen Fehler finden kann.“ Für einen kurzen Moment suchte die Königin wieder ihren Blick, und diesmal meinte Éowyn in ihren Augen eine stille Bitte um Vergebung zu sehen.

Éowyn zählte bis zehn; sie erwog und verwarf mehrere mögliche Antworten. Welche Worte sie auch immer gefunden haben würde, sie wurden erstickt, als die Temperatur der warmen Nachtluft um sie her plötzlich fiel, als sei der Windstoß eines unzeitigen Winters durch die offenen Fensterbögen geweht. Der Raum wurde totenstill. Niemand regte sich oder sprach. Einer oder zwei der älteren Frauen wich das Blut aus dem Gesicht. Éowyns Blick glitt durch die Halle, und streifte den Ausdruck bleichen Entsetzens überall und ruhte endlich auf Indassa. Die Königin saß reglos auf ihrem Thron aus Satinkissen, still wie ein Kaninchen Auge in Auge mit einem Wolf. Éowyns Hand legte sich auf den Griff ihres Schwertes; ein schrecklicher Verdacht formte sich in ihrem Geist.

„Meine Damen, wir haben Gesellschaft.“ sagte Indassa mit einer bemerkenswert ruhigen Stimme.

„Oh Götter“, sagte Matab, die Frau des Webers. „Oh Götter von Erde und Himmel, sie sind gekommen, um ein G-Geschenk zu erbitten, wie sie es einst in den Tagen meines Vaters getan haben. S-Sie wollen, dass wir ihnen eine von uns anbieten, zum Beweis unserer Freundschaft!“

Eine oder zwei von den anderen fingen an, verstohlen zu flüstern. Einen Augenblick später waren sie alle auf den Beinen; sie sprangen unter kleinen Schreien auf und wandten sich zur Flucht. Und plötzlich sah Éowyn, warum.

Da war etwas, irgend ein Ding; es stand auf dem Sims von einem der großen Fenster der Halle. Es hatte die Gestalt eines Mannes, wie ein lebendiger Schatten.

Er trat vom Fenster herunter und aus dem Halblicht heraus, und seine bloßen Füße machten kein Geräusch, als sie den weißen Marmorboden berührten. Er strich vorwärts und um ihn her hing die Nacht. Wie ein Ringgeist schien er das Licht abzustoßen und vor sich herzuschieben, während er näher kam.

Éowyn war bereits auf den Beinen und bewegte sich so, dass sie zwischen Indassa und dem Jäger stand. Wie viele waren es? Oder war er allein? Während sie die Ausgeburt der Nacht betrachtete, die sich ihr näherte, konnte sie keine Furcht empfinden... nur eine tiefe Befriedigung, dass sie endlich eine Gelegenheit haben würde, eine der Kreaturen zu erschlagen, die auf ihrem Weg diese blutige Puppe und ein stilles, leeres Haus zurückgelassen hatten. Das Klirren ihres Schwertes, als sie es aus der Scheide zog, war in der gelähmten Stille unpassend laut. Éowyn begegnete den Augen dieses toten Dinges mit kalter, unbewegter Abneigung, als es weniger als zehn Schritte von ihr entfernt stehen blieb und ihr Starren mit einem Blick distanzierter, unmenschlicher Neugier erwiderte.

Er war ein Elb, begriff sie voller Entsetzen, oder er war es einst gewesen. Das Bild von Legolas Gesicht sprang ihr ins Gedächtnis. Die Erinnerung, nun vier Jahre alt, an seine Freundlichkeit der gebrochenen Kindfrau gegenüber, die sie gewesen war, wie er gleich einer Kerze des Trostes und der Hoffnung geleuchtet hatte, als das Tageslicht rings um ihn her starb, das war bei ihr geblieben. Es war eine kostbare Erinnerung an die Schönheit und den Zauber, die nach Saurons Fall langsam aus der Welt zu schwinden schienen. Der bloße Gedanke daran, den alterslosen Frieden und die Schönheit eines Elben und verdunkelt zu sehen zu diesem untoten Geist vor ihr, erfüllte sie mit Zorn und Erbarmen.

„So furchtlos.“ Seine Stimme kroch über ihre Haut und schien in ihrem Kopf wiederzuhallen. Das Gefühl war dem schleichenden Flüstern von Grímas Gegenwart in ihrem Geist allzu nahe. Eine Welle von Übelkeit erregendem, lähmenden Entsetzen ließ ihre Schwerthand erstarren und zementierte ihre Füße fest, wo sie stand.

Etwas--- etwas schob sich in ihren Geist hinein, bedrängte ihren Willen, sagte ihr, sie solle aufhören, sich benehmen, gehorchen wie ein gutes Mädchen. Sie rang nach Luft, hoch und schrill; ein kleiner Aufschrei blinder Panik kam aus ihrer Kehle.

Ein Hauch von kaltem, wunderschönen Gelächter. „Oder vielleicht nicht?“ zischte seine Stimme in ihrem Kopf.

Sie stieß mit aller Kraft, mit jeder Unze Willen, die ihr Geist besaß, und der Klang dieses süßen Lachens war aus ihrem Kopf verschwunden. Sie konnte sich wieder rühren. Er hatte sich vorwärts bewegt; seine Augen weiteten sich und sein spöttisches Lächeln verwandelte sich in ehrliches Staunen, als sie das Schwert hob, die Spitze auf seine Kehle gerichtet. Sie starrte ihn kalt und unbewegt nieder.

„Was glaubst du wohl?“ fragte sie leise.

Selbst nach seinem Sturz in die Finsternis war er schöner als Worte es ausdrücken konnten. Er war von der Taille aufwärts nackt, nur mit weiten, schwarze Hosen bekleidet; seine makellose, elfenbeinweiße Haut leuchtete blutlos im Fackelschein. Und wieder dachte sie an Legolas. Der Gedanke, was dieser dort einmal gewesen und wie weit er in die Schatten hinabgezerrt worden war, ließ ihr Herz sich vor Trauer zusammenkrampfen, selbst noch während sie ihre Klinge bereithielt, um ihn niederzustrecken. Hatte er geschrieen, als sie ihn zu einem der Ihren gemacht hatten? fragte sie sich. Hatte er sie angefleht, ihn einfach zu töten und ihn sein Licht und seine elbische Seele unbeschmutzt bewahren zu lassen?

Er warf seinen Kopf mit den hüftlangen, mitternachtsdunklen Haaren zurück und lachte. „Ist das Mitleid, was ich da hinter deinen hübschen Augen sehe, meine Süße?“

„Ich bemitleide den Elb, der du einst warst,“ erwiderte sie. „Aber das heißt nicht, dass ich dich nicht von deinem Elend erlösen werde!“ Sie schwang ihr Schwert.

Der Schlag ging ins Leere.

Er bewegte sich schneller als ihr Auge es wahrnehmen konnte. Bevor sie den Bogen ihres Schlages auch nur vollenden konnte, war er hinter ihr. Ein kalter Arm schlang sich um sie und hielt ihre beiden Arme zu beiden Seiten fest; unter der unmenschlichen Stärke seines Griffes wurden sie taub. Noch immer ließ sie ihr Schwert nicht fallen. Finger wie lebendiges Eis legte sich über ihre Schwerthand und drückten langsam zu. Das Geräusch, mit dem das Schwert auf die Marmorfliesen des Fußbodens klapperte, war so laut wie ein Schrei.

„Du bist unempfindlich gegen Beeinflussung.“ murmelte er in ihr Haar. „Interessant.“

Sie konnte sich nicht rühren oder freiwinden. Sein Arm um sie hätte aus reinem Mithril geschmiedet sein können, denn sie konnte ihn nicht beiseite schieben. Sie machte sich bereit, ihm mit aller Kraft auf den Fuß zu treten... eine jämmerliche Taktik, aber das Einzige, was ihr blieb. Der Arm um ihren Körper verstärkte seinen Griff einmal mehr, beinahe beiläufig, und presste ihr die Luft aus den Lungen.

Sanftes, grausames Gelächter in ihren Ohren. „Mach dir keine Sorgen um mich, süße Elanor.“ Sein Atem stank nach Blut und Schlächterei; es war der Geruch von Beinhäusern. Sie wehrte sich mit jeder Unze Kraft gegen ihn und erkämpfte sich einen Hauch Luft. Sie konnte nicht atmen! Er würde langsam das Leben aus ihr herauspressen und lachen, während er es tat. Wenn sie imstande gewesen wäre, ihre Brust mit Luft zu füllen, dann hätte sie gekreischt wie eine Wahnsinnige... und sie war sich nicht sicher, ob sie vor Wut geschrieen hätte oder vor Entsetzen. Sein kalter Leib war hinter ihr, seine wie aus Eis gehauene Hand strich durch ihr Haar und kam über dem Pulsschlag in ihrer Kehle zur Ruhe. Sie wusste, er konnte spüren, wie ihr Herz gegen ihr Brustbein hämmerte. Der Geruch ihrer Angst war für ihn wahrscheinlich ein ebenso erregender Duft wie der ihres Blutes. Dieser Gedanke machte sie erneut fast wahnsinnig vor Wut. Ich werde ihn töten! Ich muss ihn töten!

„Ich habe dieses Schicksal aus freiem Willen gewählt, Liebste“, hauchte er gegen ihre Kehle. „Diese Finsternis ist Vergnügen jenseits des Horizontes deiner süßesten, errötenden Jungfrauenträume. Soll ich sie mit dir teilen?“ Das Kratzen scharfer, tödlicher Zähne, die ihre Spur an der dünne Haut ihrer Kehle entlang zogen, ließ sie erstickt aufstöhnen. Sie konnte nicht atmen. Die Welt wurde grau. Sie war kurz davor, in Ohnmacht zu fallen.

„Morsul!“ Indassas schrille, entsetzte Stimme kam wie ein Peitschenschlag. „Deine Herrin hat dir nicht gestattet, in meiner Halle Blut zu vergießen!“

Das zermalmende Gewicht um ihre Kehle verschwand wie durch Zauberei. Sie sackte zu seinen Füßen auf dem Boden zusammen; aber eine Hand tastete bereits nach ihrem gefallenen Schwert.

„Ich habe nur ihren Mut erprobt, Majestät“, sagte der Jäger. Ein nackter, knochenweißer Fuß glitt unter die Klinge von Éowyns Schwert und schickte es schlitternd quer durch die Halle in Indassas Richtung. „Deine Befehlshaberin der Wache ist hartnäckig in ihrer Pflichterfüllung. Und es ist kostbar wenig Furcht in ihr.“ Sein dunkler, honigsüßer Bariton war ebenso erheitert wie bewundernd.

Éowyn versuchte, sich auf die Knie zu erheben, aber der Boden schien unter ihr zu schwanken. Sie fiel nach vorne auf das Gesicht, immer noch nach Atem ringend. Hatte er ihr alle Rippen gebrochen?

„Du überschreitest die Grenzen der Gastfreundschaft, wenn du annimmst, dass du meine Bediensteten erproben darfst!“ sagte Indassa mit kaltem Zorn. „Gib mir deine Botschaft!“

Morsul verneigte sich ironisch. Éowyn hob den Kopf und versuchte, Indassa zu erspähen. Die Zehennägel des Jägers waren rotbraun verkrustet, als wäre er barfuß durch einen Strom von Blut gewatet.

„Meine Herrin sendet Nachricht, dass der Tag gekommen ist“, sagte Morsul. „Unsere Späher haben uns die Kunde gebracht, dass Haradoun mit einer Kompanie von zweitausend Kriegern auf die Trutzige Stadt zumarschiert.“

Die anderen Frauen – die sich im Moment allesamt wie verängstigte Schafe hinter ihrer Kindkönigin zusammenkauerten – gaben ein allgemeines Keuchen von sich.

„Er wird den südlichen Pass knapp vor der Dämmerung erreichen“, fuhr Morsul fort, „Er hat uns viele schöne Gaben im Austausch gegen eine sichere Passage angeboten. Wir haben die süßen Bissen angenommen, die er uns geschenkt hat und uns einverstanden erklärt, dass er das Tal der Hundert Quellen ungehindert erreicht. Es sind viele, oh Königin, und sie werden zu einer Stunde eintreffen, wenn unsere Kraft am schwächsten ist. Aber wir werden ihn für dich begrüßen. Lass deine liebliche Befehlshaberin und die Garde die Mündung des Passes überwachen, um Versprengte abzufangen. Tausend starke Haradrim-Soldaten und weitere tausend ihrer fremdländischen Verbündeten ist mehr als reichhaltig für uns, und sie werden die Täler von Rhunballa über viele Jahre hinweg sicher vor unserem Hunger bewahren.“

„Sie werden dich verraten, Indassa!“ Éowyn würgte die Worte hervor.

„Nicht doch, Süße!“ Der Jäger lachte. „Wir sind Geschöpfe von Lebensart. Das alte Bündnis mit Rhunballa hat sowohl mein Volk als auch die Rhunballani für ein Jahrtausend frei, fett und glücklich gehalten. Es soll so sein, wie es immer war. Sie sollen ihre Sicherheit haben. Wir bekommen Beute zum Hetzen. Da sind zwei, die gemeinsam mit den fremden Soldaten reisen, die meine Herrin unbedingt kennenlernen möchte. Die anderen werden unsere Vorratskammern füllen.“

„Und Haradoun?“ fragte Indassa leise.

„Dein eifriger Bräutigam?“ Morsul lächelte und bleckte die Zähne. „Ihn werden wir dir gebunden und lebend bringen, kleine Königin. Du magst dich nach eigenem Belieben zur Witwe machen.“

Ein winziger Seufzer entfloh den Lippen der Königin. „Dann also bis zur Dämmerung.“

„Bis dann“, sagte Morsul zustimmend. Er kniete sich neben Éowyn und hob sie sanft hoch; er half ihr, sich aufzusetzen, selbst als sie vergeblich darum kämpfte, seine Hand abzuschütteln. Er spähte ihr ins Gesicht... es war, als sei sie Auge in Auge mit einer Kobra. „Mir ist nie ein Sterblicher begegnet, der genügend Willenskraft besaß, meinen Durst zurückzuweisen, wenn ich erst einmal seinen Geist berührt hatte. Aber ich habe in deinem viel Interessantes gesehen, ehe du mich hinausgeworfen hast.“

„Lügner!“ krächzte Éowyn.

„Bin ich das?“ Er lächelte listig. „Wer ist der hübsche Silvan-Jüngling, dieser goldhaarige Bogenschütze, an den dich zu erinnern dein Herz mit solchem Trost erfüllt?“

Éowyn gab einen nicht druckreifen Ausdruck von sich, den sie vor drei Jahren im hohen Norden von Trolljägern gelernt hatte.

„Solch anmutige Worte von einer Tochter von Königen!“ Er lachte entzückt.

Sie begegnete seinem Blick mit der Kälte von gesplittertem Eis. „Wenn du so viel über mich weißt, Schatten-Elb“, erwiderte sie, „dann weißt du auch, dass ich weit größere Dämonen als dich erschlagen habe. Dich werde ich auch erschlagen, ich schwör’s!“

„Wir werden sehen!“ sagte er liebenswürdig.

Im nächsten Moment war er verschwunden. Ein dunkler Windstoß zerzauste Éowyns schweißnasses Haar. Sie saß da, mit einem Arm ihren zerschrammten Brustkorb schützend; sie versuchte nicht, aufzustehen. Sie atmete langsam ein und genoss das Gefühl, ungehindert Luft zu holen. Sie hörte kaum, wie die leise Stimme von Indassa den anderen befahl zu gehen.

Als sie fort waren, streckte die Königin eine zarte, rubinberingte Hand aus. Éowyn nahm die Hand nicht. Sie starrte in Indassas verängstigtes, junges Gesicht und versuchte, irgend eine Spur von Scham oder Unsicherheit zu finden. Es gab keine. Das Mädchen war entschlossen und sich seines gegenwärtigen Kurses absolut sicher. Das Einzige, was Indassa innehalten ließ, war die schreckliche Sorge, dass sie Éowyn mit ihrem Handeln dauerhaft abgeschreckt hatte.

„Warum habt Ihr dies vor mir verborgen?“ fragte Éowyn.

„Weil es bis heute Abend nur eine Möglichkeit war“, erwiderte Indassa. „Ich habe schon vor Wochen Nachricht von der Königin der Jäger erhalten, einen Brief auf dem Kissen in meinem Schlafzimmer.“

Éowyn erbleichte, als sie sich Morsul in Indassas Schlafzimmer vorstellte. Indassa kniete neben ihr, biss sich auf die Unterlippe und beobachtete Éowyns Gesicht. „Sie sagte mir, Haradoun würde versuchen, sie zu bestechen. Sie hat auch einen persönlichen Groll gegen ihn, vermute ich. Ihr Stolz wurde verletzt, als sie gezwungen war, sich vor vier Jahren seinem Wunsch zu beugen; sie fürchtete die Wut Mordors, wenn sie es nicht täte. Und ich habe es Euch auch deshalb nicht gesagt, weil Ihr Euch so sehr aufgeregt hättet wie noch nie.“

„Es ist eine Falle, Indassa!“

„Ja“, sagte die Königin leise. „was das angeht, sind wir einer Meinung. Éowyn, in weniger als einem Tag werde ich eine Witwe sein und mein Königreich wird frei sein von der Bedrohung---“

„Hört Ihr denn nicht zu?!“ schrie Éowyn und verlor den letzten Rest ihrer Beherrschung. „Haradoun wird ,knapp vor der Dämmerung’ am Pass eintreffen, hat die Bestie gesagt. Knapp vor dem ersten Licht?! Wenn selbst das volle Tageslicht auf den Bergpässen kein Schutz ist gegen die Jäger?! Sie werden Euch ein zweites Mal in Haradouns Hände ausliefern und all die versklaven, die zu Euch aufschauen, dass Ihr sie beschützt!“

„Sie werden mir Haradoun lebend ausliefern!“ schrie Indassa zurück. „Ihre Königin hat es mir versprochen. Sie hat es versprochen! Ich hatte vier Jahre, mich zu entscheiden, wie ich ihn am besten töte, Prinzessin von Rohan! Ich werde ihn nicht noch ein weiteres Jahr leben lassen, die Hände mit dem Blut von Rhunballa befleckt! Das werde ich nicht! Das werde ich nicht!“ Ihre Stimme brach nach diesem kreischenden Schrei. Ihr herzförmiges Gesicht verfiel... und damit der größte Teil von Éowyns Zorn. Schwarze Tränen rollten über das Gesicht des jungen Mädchens und hinterließen auf ihren Wangen Streifen aus Khôl-Augenschminke. Die Indassa, die jetzt vor ihr weinte, war keine Königin. Sie war ein verwundetes Kind, dass sich jede Nacht in den letzten vier Jahren zu den Alpträumen hingelegt hatte, die von Haradoun stammten, und das jeden Tag zu der Drohung erwachte, dass er vielleicht wiederkam. Die Bilder, die dies in Éowyns Geist hervorrief, vertrieb jeglichen Zorn, der ihr angesichts des selbstmörderischen Bündnisses geblieben war, das die Königin gerade mit den Jägern geschlossen hatte.

Das Elend der verängstigten, unsicheren Sechzehnjährigen, die Indassa vor zwei Jahren gewesen war, hatte Éowyn schon bei ihrer ersten Begegnung das Herz zerrissen und das Fundament zu einer Liebe gelegt, die mehr die einer älteren Schwester war als die eines loyalen Soldaten und Untertanen. Sie hatte Éowyn auf eine Weise an dieses Land gebunden, die selbst die drohende Gefahr einer Invasion oder eines Gemetzels an seinem Volk nicht erreicht hätte. Sie hatte zu viel von ihrem jüngeren Selbst in der Kindkönigin gesehen – der einzige Vater, den sie je gekannt hatte, vor ihren Augen erschlagen, der süße und kostbare erste Liebesakt für immer verdorben durch die brutalen, gierigen Hände einer menschlichen Bestie.

„Ich muss ihn töten, Éowyn!“ schluchzte Indassa. „Seht Ihr denn nicht, dass ich das muss?!“

„Mehr als Ihr wissen könnt.“ sagte Éowyn. Sie nahm das Taschentuch, das Indassa in einer ihrer kleinen Hände zerknüllte und benutzte es, um die schwarzen Tränenstreifen weg zu wischen. Sie tat das in sanftem Schweigen und dachte sehr sorgfältig darüber nach, was sie als Nächstes sagen würde. Sharadi, Obari und die anderen Frauen im Rat der Königin waren die heimlichen Erfinderinnen einer bösartigen Lüge, die gleich nach Éowyns Beitritt zur Königlichen Garde aufgekommen war – das Gerücht, dass Éowyn und nicht Indassa jetzt über Rhunballa herrschte. Sie fürchteten, dass Éowyn ihre junge Königin zu stark beeinflusst hätte, so erzählten diese Frauen ihren Freunden und Familien.

Die nackte Wahrheit war, dass Éowyn nach Rhunballa gekommen war und herausgefunden hatte, dass der königliche Rat anstelle der Königin regierte, und dass er das Mädchen so lange ausschalt und plagte, bis es in allen Dingen seinen Vorschlägen folgte. Die kindlich ahnungslose Indassa, mit der sich Éowyn vor zwei Jahren angefreundet hatte, war fest davon überzeugt gewesen, dass jede Entscheidung, die sie allein traf, eine Gefahr für ihr Königreich wäre. Éowyns „Einfluss” auf die Königin war eine langsame Kampagne von Ermutigung und Unterstützung, die dazu führte, dass Indassa ihr Königreich und ihren Rat tatsächlich regierte und nicht nur dem Namen nach. Jetzt die Königin gewaltsam dazu zu zwingen, ihre Meinung zu ändern, würde Obaris sämtliche Lügen zu Wahrheit werden lassen. Am Ende des Tages musste Indassa hier die Herrin sein, wie sehr Éowyn auch ihre Taktik missbilligen mochte.

„Vor zwei Jahren, meine Königin“, sagte Éowyn endlich, „da habt Ihr mich gebeten, Euch ein stehendes Heer aufzubauen, um Euer Königreich zu verteidigen, und ich war einverstanden. Vor einem Jahr habt Ihr mir die Ehre erwiesen, mich außerdem zur Wache der Königin zu ernennen. Ich habe diese Aufgabe mit Freuden angenommen. Ein Teil dieser Aufgabe ist, dass ich Euch immer die Wahrheit sagen muss, so wie ich sie sehe. Ich muss immer Ausschau nach Bedrohungen halten gegen Euch und Euer Volk. Ich kann es nicht gutheißen, dass man sterbliche Männer – sogar böse Männer – diesen Geschöpfen aus Dunkelheit und Blut zum Fraß vorwirft. Aber Ihr seid die Herrscherin hier, nicht ich. Nach Eurem Befehl wird die Wache an der Mündung des südlichen Passes einen engen Durchgang bilden. Aber ich möchte Euch bitten – Euch anflehen! – dass Ihr mir Eure Zustimmung gebt: Wir müssen wachsam sein gegen den Schurken vor uns, aber auch gegen den Wolf in unserem Pferch. Eine Königin muss sich immer gegen Verrat wappnen, vor allem, wenn die Umstände sie dazu zwingen, Handel mit mörderischen Bestien wie den Jägern abzuschließen. Wenn die Jäger Haradouns Krieger erschlagen, schön und gut. Aber wenn sie mit ihm im Bunde sind – wenn, sage ich! – dann müssen wir darauf vorbereitet sein, Männer und Bestien zu erschlagen. Gebt mir die Erlaubnis, meine Krieger und Euer Volk gegen diese Möglichkeit zu wappnen.“

Indassa schwieg, ihr Gesicht eine angespannte Maske der Unentschlossenheit. „Was... was werdet Ihr tun?“

„Wenn sie Euch gegenüber Wort halten? Nichts. Aber eine Befehlshaberin von Soldaten – oder eine Königin – sollte sich auf jede Möglichkeit vorbereiten. Wir müssen immer einen zweiten Plan zur Hand haben, wenn unsere ursprünglichen Pläne fehlschlagen.“

Indassa schnüffelte und wischte sich mit dem Handrücken die Augen. „Nachdem Papa – nachdem Papa tot war, habe ich seine Tagebücher gelesen. Er hat an jedem Tag seiner Herrschaft hineingeschrieben. Wisst Ihr, was er nur zwei Tage schrieb, ehe er starb? Er sagte, er würde sich wünschen, das Königtum käme mit einem Buch zum Studieren, einer Gebrauchsanleitung von der Art, wie die Zimmermannsgilde sie benutzt. Er sagte, dass er sich nach fünfunddreißig Jahren auf dem Thron immer noch so fühlte, als würde er sich durchfummeln, ohne die meiste Zeit eine Ahnung zu haben, was er eigentlich tat.“ Eine letzte einsame Träne rollte ihr die Wange hinunter. „Ich fühle mich jeden Tag so. Ich—ich dachte, ich wäre so klug, aber – bis vor zwei Nächten hatte ich noch nie einen der Jäger in Fleisch und Blut vor mir gesehen. Zuerst – zuerst war er bezaubernd freundlich. Sein wahres Gesicht hat er mir nicht gezeigt – bis heute Abend. Sie – sie sind furchtbar, Éowyn!“

„Ja“, stimmte Éowyn aus tiefstem Herzen zu und rieb sich die Kehle, wo die Zähne dieses Nachtdinges sie berührt hatten. Sie fühlte sich von oben bis unten beschmutzt, aber das war nichts verglichen mit der übelkeiterregenden Scham, hilflos und der Gnade einer solchen Kreatur ausgeliefert gewesen zu sein. Bei Eorls Gebeinen, dafür würde sie ihn töten, und wenn es sie das Leben kostete!

„Greift sie nicht an, es sei denn sie greifen uns an oder üben ganz offen Verrat“, sagte Indassa langsam. „Wenn sie sich als Verräter erweisen – dann tut, was immer nötig ist, um mein Volk zu retten.“

Éowyn gab einen schweren Seufzer der Erleichterung von sich. Sie nahm die kleinen Hände der anderen Frau in die ihren und drückte sie beruhigend. „Wie Ihr befehlt, meine Königin.“

*****

Éowyn riss die Türen zum Wachhaus der königlichen Garde auf; in ihrem Kopf wirbelte die Furcht und wie immer lag die dunkle Hochstimmung vor der Schlacht zusammengekauert tief in ihrer Magengrube. Alle Gespräche verstummten, als sie den großen Gemeinschaftsraum betrat. Als sie die um sich versammelten Gesichter sah, erinnerte sie sich plötzlich daran, dass sie ein Treffen aller Kommandanten der Wachhäuser für heute Abend einberufen hatte. Sie hielt sich nicht damit auf, über diesen glücklichen Zufall zu staunen.

„Versammelt Eure Häuser, meine Damen“, sagte sie mit tragender Stimme. „Ich rufe alle Wachhäuser zu den Waffen. Haradoun marschiert nach Rhunballa. Er wird den Südpass bei Anbruch der Morgendämmerung erreichen. Gürtet Euch allesamt und kümmert Euch um Eure Pflichten. Ihr wisst alle, welche das sind – wir haben es viele Male eingeübt.“

Es folgte ein Augenblick völliger Stille, dann brach im Raum ein aufgeregtes Durcheinander von Stimmen aus und alle rannten in entgegen gesetzte Richtungen zu ihren vorherbestimmten Aufgaben.

„Also ist es endlich soweit gekommen“, sagte Ikako kühl. Die kleine Waffenschmiedin, Éowyns rechte Hand im Haus der königlichen Garde, war mehr als einen Kopf kleiner als Éowyn, aber die Stärke ihrer kraftvollen Arme übertraf die eines Mannes, der dreimal so groß war wie sie.

„Es ist viel besser als zu warten“, sagte Shaeri zustimmend. Die helläugige Kommandantin des Wachhauses am tiefen Brunnen grinste in offener Vorfreude.

„Es ist wunderbar!“ sagte Somal, Fallahs junger Vetter. Er war siebzehn und einer der wenigen Männer von Rhunballa, die von der Schlacht auf den Pelennorfeldern heimkehren waren. „Heute Nacht bekommen wir endlich unsere Rache.“

„Oder ein Schwert in den Bauch“, sagte Ikako trocken.

„Sie sind zweitausend Mann stark“, sagte Éowyn leise. „Die Jäger werden den größten Teil des Tötens übernehmen... jedenfalls sagen sie das.“ Sie senkte ihre Stimme noch mehr und erzählte ihnen alles, was sie über die Pläne der Jäger wusste oder mutmaßte. „Wir müssen in zwei Stunden zum Südpass reiten, um vor der Dämmerung in Position zu sein. Lasst mich wissen, wenn die Wachhäuser gemustert sind und lass die Kommandanten jedes Hauses entscheiden, welche Lehrlinge bereit sind für eine echte Schlacht. Somal, geh und finde deine Base. Sie wird in ihrem Laden in der Ärztestraße sein. Sag Fallah, dass ihre Stunde vielleicht gekommen ist. Sag ihr, sie soll alles herbringen, was sie hat!“

Éowyn verbrachte ein paar weitere Momente dazu, eine Runde kurzer, organisatorischer Befehle zu geben und schickte fast jeden aus den Hauptgebäuden an alle entgegen gesetzten Enden des Tales. Als sie fort waren, durchquerte sie die Gemeinschaftshalle und ging wie eine Schlafwandlerin in ihre eigenen Räume. Sie öffnete den Hahn der Leitung, die vom Wasserturm des Wachhauses in ihr Bad führte. Sie zog sich vorsichtig aus und machte eine Bestandsaufnahme der Schrammen auf ihren Armen und Rippen. Nichts fühlte sich so an, als wäre es gebrochen. Sie hatte eigentlich keine Zeit dafür, aber als sie nackt in das kühle Wasser stieg, wusste sie, dass sie sehr bald einen hysterischen Anfall erleiden würde, wenn sie den Schmutz der Berührung des Jägers nicht von ihrem Körper abwusch.

Sie konzentrierte sich darauf, gründlich zu baden und versuchte krampfhaft, nicht zu denken, als sie die Haut an ihrem Halsansatz wund schrubbte, wo die Lippen des Jägers sie berührt hatten. Der entsetzliche Eindruck, unbeweglich in den Armen des toten... Dinges festgehalten zu werden, verschwand nicht. Es war sehr lange her, dass irgend jemand oder irgend etwas sie sich so hilflos fühlen hatte lassen, so besiegt. Ein verrückter, wahnwitziger Teil von ihr hoffte, dass ihre schlimmsten Befürchtungen richtig waren – dass sie und die Wache in eine Falle liefen. Es würde das Ende dieser Parodie eines Bündnisses bedeuten und sie hätte die Möglichkeit, Morsul und seine Brut ungehindert auszurotten. Sie ballte unwillkürlich die Faust in Abwehr des Kompromisses, den sie gerade erst mit Indassa gemacht hatte. Menschen kämpften nicht Seite and Seite mit Monstern, sie schlugen sie tot!

Zitternd stand sie auf und trocknete ihre Haut und ihr Haar; sie versuchte, sich einen besseren Weg auszudenken, Rhunballa von Haradoun zu befreien, einen Weg, die die Jäger nicht mit einschloss. Einen Weg, der nicht den Tod von Dreiviertel der Wache zur Folge hatte, selbst wenn sie siegten. Es gab nicht einen. Selbst Fallahs Feuerwerkskörper waren in der Schlacht unerprobt; es war im besten Falle ein Glücksspiel. Sie flocht ihr Haar nicht mehr auf östliche Art, sondern band es zu dem hohen Pferdeschwanz zurück, den die Reiter ihres Heimatlandes trugen. Nachdenklich starrte sie sich selbst in dem mannshohen Spiegel an.

Jabri, die Glasbläserin hatte ihr den Spiegel geschenkt, zum Dank, dass sie eine Meute prügelnder Seestadt- und Sabadi-Händler aus dem Laden geworfen hatte, bevor sie ihn zerstören konnten. Niemand, der in Rhunballa geboren war, verschwendete auch nur einen Gedanken daran, aber in Éowyns Geist war es von teuflischer Zweckmäßigkeit, dass die Jäger es gestatteten, dass Handeskarawanen kamen und gingen wie sie wollten, und dass sie Betrüger immer aufspürten. Bis zu diesem Zwischenfall vor sechs Monaten. Éowyn fragte sich, ob die Jäger neugierig auf die Wache gewesen waren. Hatten sie die kleine Gruppe Haradrim durchgelassen, um die Wirksamkeit der Wache in einem echten Kampf festzustellen?

Die Männer aus Sabad, der Seestadt und den Städten südlich des Rhun-Meeres kamen zweimal im Jahr, um zu kaufen und zu verkaufen. Manchmal überlappten sich diese Besuche und dann brachen gelegentlich Faustkämpfe aus. Fast alle Kämpfe hatten denjenigen zum Mittelpunkt, der sich sozusagen für den größten Hahn im Korb hielt. Die Händler kamen immer nach Rhunballa, einer Stadt, ihrer Männer beraubt; sie dachten, sie wären umgeben von verzweifelten Frauen, ausgehungert nach Liebe, die sich in dem Moment, als sie von ihrem Wagen stiegen, auf sie stürzten und sie in ihre Schlafkammern zerrten.

Tatsächlich geschah das ziemlich oft. In den zwei Jahren, seit sie im Tal der Hundert Quellen lebte, hatte Éowyn bemerkt, dass viele dieser Händler das Klima so gastfreundlich fanden, dass sie sich hier niederließen und blieben; wenn sie heiraten wollten, konnten sie buchstäblich unter Hunderten eifriger Witwen und Jungfern wählen. Die Männer aus dem Osten und vom Rhun-Meer kamen hier gut zurecht, aber Éowyn hatte den privaten Verdacht, dass binnen einer Generation der Schmelztiegel der Rassen und Hautfarben der Leute von Rhunballa mit einem kräftigen Schuss Seestadt-Blut angereichert werden würde. Die hellhäutigen Söhne der Seestadt hatten nie von Schleiern oder vergitterten Haremsfenstern gehört. Sie wollten nicht, dass ihre Frauen auf dem Weg zum Markt einen Schritt hinter ihnen gingen, und sie nahmen sich auch nur eine. All diese Dinge hatten sie bei den jüngeren Frauen von Rhunballa sehr, sehr populär gemacht.

In dem ersten, bitteren Jahr, das dem Ringkrieg folgte, hatten die Frauen der Trutzigen Stadt ihre Männer mit zahllosen Tränen betrauert. Doch als der tiefste Kummer dieses ersten schrecklichen Jahres im Lauf der Zeit nachließ, geschah etwas Seltsames: Sie räumten ihre Schleier weg und übernahmen die Handelskontore und Amtsstuben ihrer Ehemänner. Sie spannten selbst die Ochsen an und pflügten ihre eigenen Felder, sie kauften und verkauften mit dem Gold und Silber, das sie eigenhändig verdient hatten. Sie verwalteten ihr Zuhause und ihre kleinen Läden, ohne die Männer, die sie so sehr geliebt hatten, um Erlaubnis oder um Rat zu fragen. Und langsam waren sie zu der allgemeinen Erkenntnis gelangt, dass jeder Aspekt ihres Lebens nun in ihren eigenen Händen lag. Ihr Glück hing nicht länger von der Laune eines Vaters, Gatten oder Bruders ab.

Ein paar von den älteren Frauen, vor allem die aus der herrschenden Klasse – allesamt reinster Haradrim-Abstammung – beklagten diesen Stand der Dinge. Sie sprachen im Rat der Königin wortgewaltig darüber, wie dies zur Zerstörung der naturgegebenen Einheit der Familie führen würde, und zu einem allgemeinen Niedergang. Aber zum größten Teil war in Herz und Geist der jungen Frauen von Rhunballa ein neuer Tag angebrochen.

Da war soviel Gutes in diesem kleinen Königreich, soviel Anlage zur Größe. Éowyn konnte und wollte dies nicht durch Haradoun oder die Jäger zerstören lassen.

Sie erschauerte; sie stand nackt vor dem Spiegel, während sie eine Rolle von Verbandsstreifen aus einem Schrank neben der Badewanne nahm und anfing, ihre aufgeschürften Rippen zu bandagieren. Das Gefühl, wie sich diese kalte Kreatur in ihren Geist drängte, würde einen neue Flut von Träumen hervorrufen, dessen war sie sich sicher. Es waren jetzt fast zwei Jahre, dass sie jede Nacht durchschlief, ihre Ruhe ungestört von Alpträumen über die Vergangenheit. Der Gedanke, sich hinzulegen und nach so langer Zeit wieder von Gríma Schlangenzunge zu träumen, ließ ihre Augen brennen, als hätte sie sich Seife hinein gerieben.

Näher als auf diese Weise kam sie nicht daran, Tränen zu vergießen. Sie war seit mehr als vier Jahren nicht imstande gewesen zu weinen.

Sie umwickelte ihre Rippen fertig und betrachtete sich selbst kritisch, während sie saubere Baumwollhosen mit weit geschnittenen Beinen anzog, ihr Wams und ihre schwarze Tunika nahm und sich fragte, was sie mit ihren Knieschützern angestellt hatte. Der Rest ihrer Lederkleidung und ihr leichter Harnisch befanden sich irgendwo am Fußende von ihrem Bett.

Sie war noch immer gertenschlank, obwohl ihre Brüste sich vielleicht ein wenig mehr gerundet hatten. Sie wusste, dass die letzten vier Jahre ihr mehr Gewicht und Kraft geschenkt hatten. Ihre Arme, ihr Rücken und ihre Schenkel verbargen die Form der Muskeln, bis sie sie spielen ließ. Sie war hochgewachsen und deshalb nicht gezwungen gewesen, das, was die meisten Männer für weiblich hielten, der Stärke zu opfern – so, wie die winzige Ikako das getan hatte. Aber Éowyn war ja auch keine Waffenschmiedin. Éowyns Gesicht hatte sich kaum verändert, obwohl vielleicht der Rest kindlicher Rundlichkeit geschwunden war und ihre Wangenknochen deutlicher hervortreten ließ. Wenn überhaupt, dann sah sie jetzt mit siebenundzwanzig jünger aus als vor ihrer Flucht aus Minas Tirith und vor allem, was sie je gekannt hatte. Unter ihren Augen gab es keine Linien und Schatten, die von Schlaflosigkeit herrührten.

Sie fuhr mit einem Finger über die beiden zornroten Male an ihrem Hals, wo die Zähne des Jägers ihre Haut aufgekratzt hatten. Éomer und Théoden hatten sie auf die Wange und die Stirn geküsst und sie mit liebevollen Worten umarmt, als sie fort gingen, um in den Krieg zu ziehen und nicht wussten, dass sie mit ihnen reiten würde. Ihr Vater, eine ruppige, entfernte Erinnerung mit freundlichem Gesicht, hatte sie geküsst und ihr gesagt, sie solle ein gutes Mädchen sein, bevor er fort ging, um seinem Ende in den Emyn Muil zu begegnen. Der einzige andere Augenblick in ihrem Leben, als sie die Berührung von Männerlippen gespürt hatte, war die Nacht von Grímas Traumzauber gewesen. Schlangenzunge und jetzt dieses Geschöpf der Nacht --- die einzigen beiden Männer nicht von ihrem Blut, die sie je geküsst hatten. Gnädiger Eru, sie wollte nicht sterben, ohne jemals etwas anderes gekannt, ohne jemals die Freude in den Armen eines Mannes erfahren zu haben!

Sie stand hoch aufgerichtet vor dem Spiegel, voll bekleidet und zur Schlacht gegürtet, und sie verhärtete ihr Gesicht. Der traurige, verletzliche Ausdruck, den die noch einen Moment zuvor gezeigt hatte, würde ihr nichts nützen. Sie konnte Fallahs Stimme in einem der äußeren Gebäude hören, wie sie ihrem Vetter sagte, er sollte mit seiner Fackel vom Inhalt der beiden Fässer wegbleiben, die er trug, es sei denn, er wollte eine halbe Meile hoch in die Luft geblasen werden. Was auch immer sie mitgebracht hatte, es stank nach Schwefel und brennender Kohle.

Es war Zeit, hinauszugehen und die Musterung des Wachhauses zu organisieren. Gewinn oder Verlust, sie hatte die eisige Vorahnung, dass sich alles in ihrer Welt bald ändern würde. Noch einmal. Sie atmete langsam und tief ein, wandte sich von ihrem Spiegelbild ab und trat die Flucht nach vorne an.

*****

„... und er war so groß und so weiß wie eine junge Sycamore!“

Shaeri sagte sehr hörbar im Dunkeln in der Nähe: „Allerdings nicht annähernd so breit.“

Suni Gautochter, Kommandantin des Wachhauses vom Gespannten Bogen, gluckste vor sich hin; sie kniete ein paar Fuß weit weg auf Éowyns rechter Seite. „War das der, den du mit einem Frühlingshengst verglichen hast? Der, der scharf darauf war, jemanden zu besteigen?“

Rüdes Gekicher von allen Seiten. Somals Johannisbrot-und-Sahne-Haut war flammend rot vor Verlegenheit. Manchmal war es hart für den Jungen, einer von nur fünf Männern in der Wache zu sein. Éowyn war in der Nähe kämpfender Männer aufgewachsen. Sie war damit groß geworden, die Art unziemlicher Geschichten mit anzuhören – wenn auch nur am Rande – die Männer sich erzählten, wenn sie darauf warteten, auf Befehl ihres Herrn zu töten oder zu sterben. Die Wache von Rhunballa übertraf sie bei weitem. Neben Somal fuhr Fallah damit fort, betriebsam gehäufte Löffel schwarzen Schießpulvers in die Rakete einzufüllen, die ihr Vetter festhielt; dabei murmelte sie etwas über einen „erweiterten Explosionsradius“ vor sich hin.

Sie waren jetzt fast neunhundert Frauen stark. Noch immer viel zu wenige, um einen Großangriff aus Harad zurückzuwerfen... aber Fallahs Apparaturen mochten vielleicht ein wirksamer Ausgleich sein, wenn das Schlimmste geschah. Éowyn konnte nur hoffen, dass es ausreichte. Der Eingang in den Pass war nur dreißig Meter voraus und die Klippen stiegen hoch und steil zu beiden Seiten an. Die Wache hatte sich vor der verengten Stelle verteilt, hinter jedem großen Felsen, den sie finden konnten, und hinter mannshohen Metallschilden, die von den Lehrlingen für die Schwertübungen benutzt wurden. So dicht vor dem roten Ton und den Granitbergen von Dhak-Ral gab es reichlich große Felsen.

Links von Éowyn gab Fallah Somal ganz genaue Anweisungen, was er zu tun hatte, und – noch wichtiger – was er nicht tun sollte, wenn er nicht den Wunsch hatte, sich beide Hände zu verbrennen, falls die Feuerwerksröhre nötig wurde, die sie ihm gegeben hatte.

„Ich hab dich schon beim ersten Mal gehört!“ sagte er mürrisch. „Weißt du, ich bin jetzt ein Mann. Du solltest deinen einzigen lebenden Verwandten nicht mir so wenig Respekt behandeln. Ich bin nicht dumm!“

„Nein“, sagte sie fest. „Du bist nicht dumm, Sommi – du bist mir teuer. Und was du da in deinen Händen hältst, könnte dich ebenso leicht umbringen wie unsere Feinde, wenn du nicht respektierst, wie gefährlich es ist.“

„Hmpf!“ Er grunzte etwas Unbehagliches über hochnäsige Frauen, bevor er sich umblickte, um herauszufinden, ob sonst noch jemand seinen Kommentar gehört hatte. Falls ja, würde die Sache für ihn bei der nächsten Waffenübung übel ausgehen. „Ich habe mich immer gefragt, was so ein Himmelsblitzer wohl macht, wenn man damit auf den Boden zielt anstatt in den Himmel.“ sagte er nach einem Moment des Überlegens.

„Er macht ein ziemlich großes Loch.“ teilte Éowyn ihm mit.

„Sommi hat die letzte“, erklärte ihr Fallah; sie saß neben Éowyn im Schutz eines riesigen Schieferfelsens. „Ich glaube, dass jeder, der ein Rohr hat, mehr oder weniger weiß, wie man sie benutzt. Sie werden auf dein Kommando feuern, wenn es nötig sein sollte.“

„Wollen wir hoffen, dass es nicht nötig ist.“ sagte Éowyn inbrünstig. „Lasst alle jetzt schweigen!“ befahl sie. „Das erste Licht kommt näher!“

Sie warteten.

Die Sterne über ihren Köpfen fingen langsam an zu verblassen. Der Himmel erhellte sich beinahe unmerklich und kündigte die Dämmerung an. Die Nacht war beträchtlich kälter geworden, und mit der kühlen Luft war der Nebel gekommen, der an den Bergen rings um das Tal zu kleben schien wie eine zweite Haut. Er war dick und verschleierte schon aus fünfzig Metern Entfernung wirkungsvoll ihren Blick auf den Pass. Jedes Geräusch hatte ein unheimliches Echo. Der Klang trug hier zu gut und zu weit; er traf auf die Passwände und hallte wieder zurück, und das machte es schwierig, auszumachen, wer sich wo befand. Oh Eru, dies war das Rezept für eine Katastrophe, falls irgend etwas fehlschlug!

Als der Lärm anfing, ähnelte er sehr dem weit entfernten Ruf eines Vogelschwarmes, der sang, um den nahenden Morgen zu begrüßen. Das Geräusch wurde stetig lauter und deutlicher... und es war nicht der Klang von Vögeln oder etwas, das auch nur annähernd an ein Lied erinnerte. Es war der Lärm von Dutzenden – nein, Hunderten – von Männern und Pferden, die in tödlichem Entsetzen schrieen. Und er kam näher.

„Macht euch bereit!“ schnappte Éowyn; sie spürte mehr als dass sie sah, wie sich die Furcht um sie sammelte und die anderen ansteckte.

Das Geräusch setzte sich immer weiter fort. Éowyn fühlte, wie ihr Mund beim Lauschen trocken wurde; sie stellte sich vor, was den Männern in diesen dunklen, granitenen Korridoren zustoßen musste. Vielleicht war es nur ihre Einbildung, aber sie meinte das feuerholz-ähnliche Knacken brechender Knochen zu hören und das nasse, reißende Geräusch von zerfetztem Fleisch.

„Suni!“ schrie sie. „Mach deine Bogenschützen fertig! Sie kommen näher. Manche von ihnen könnten den Engpass erreichen!“

Ein Licht kam näher, flammend hell selbst noch hinter der Biegung des Durchganges vom inneren Pass. Das trommelnde Geräusch vieler Hufe bewegte sich auf sie zu.

„Bleibt im Licht!“ brüllte ein Mann, seine entsetzte Stimme schwer vom gutturalen Akzent von Fern-Harad. „Folgt ihm hinaus aus diesem Todeslabyrinth! Sie fürchten das Licht!“

„Schwerter!“ schrie Éowyn. „Alle außer der Feuerbrigade!“

Éowyn zog ihre eigene Klinge. Nach dem Klang der Hufe waren es viele. Zu viele! Sunis Schützen spannten ihre Bogen.

Das Pferd des Lichtträgers umrundete die letzte Biegung vom gewundenen Pfad innerhalb des Passes und kam auf sie zugaloppiert. Er ritt aus der schwarzen Mündung des Südpasses heraus und hielt mit einer Hand etwas hoch, das hell und strahlend war wie ein vom Himmel gefallener Stern. Vielleicht dreimal zwanzig Männer waren dicht um ihn versammelt, in dem schützenden Licht zusammengedrängt. Weitere hundert ritten um sie herum, aber sie----

Oh Elbereth! Die Männer, die sich nicht direkt im Licht befanden, wurden von ihren Pferden geholt, selbst als sie den Pass schon verlassen hatten. Schwarze, bewegte Schatten und der verschwommene Eindruck von fledermausähnlichen Flügeln stießen von oben auf sie herunter. Gekrümmte Krallen senkten sich in menschliches Fleisch und zerrten es kreischend mit sich in die Finsternis.

„Bildet einen Kreis in der Aureole, Jungens!“ bellte die ruppige Stimme eines Mannes. Éowyn durchlebte einen Augenblick des Schocks, als ihr klar wurde, dass der, der da sprach, kein Haradrim war. War es ein Westron-Akzent? Er klang eigenartig, fast vertraut...

Dann bahnte sich ein Mann mit gezogenem Schwert den Weg in ihre Richtung, und sie begegnete ihm mit der Spitze ihrer Klinge. Ein zweiter Mann wich ihr aus und rannte weiter. Die Haradrim waren nicht daran interessiert zu kämpfen, sie erwarteten nicht einmal, sterbliche Krieger anzutreffen, während sie blind von der Passmündung wegstolperten. Sie dachten an nichts anderes mehr als ihre eigene Haut zu retten. Jetzt hörte Éowyn von allen Seiten das tödliche Lied von Stahl auf Stahl.

Ein anderer Soldat sprang vorwärts, sein dunkles Haar verfilzt, das blutige Gesicht kreidebleich. Sie parierte den wilden Hieb und ihre Klingen trafen aufeinander. Sie starrte ihm ins Gesicht; seine Augen waren so blau wie ihre eigenen. Einen Sekundenbruchteil später peitschte etwas aus dem dunklen Nebel heraus und riss ihn schreiend mit sich in die Luft. Sie starrte entsetzt auf die Stelle, wo er gestanden hatte. Er war fort. Seine zerbrochener Schild lag auf dem Boden, das einzige Zeugnis, dass er überhaupt je da gewesen war.

Er trug die Krone des Weißen Baumes von Gondor.

Oh Herrin des Lichts---

Im selben Moment hörte Éowyn, wie Sunis Stimme ihren Bogenschützen den Befehl zurief, zu schießen.

Pferde schrieen, und die Männer, die im Umkreis der Lichtflamme Schutz suchten, schrieen ebenso, als die Pfeile ihr Ziel trafen. Die silbern brennende Lichtquelle fiel zu Boden, aber sie wurde nicht schwächer und ging auch nicht aus.

„Haltet durch!“ rief die Stimme eines jungen Mannes, klar wie eine klingende Glocke. „Fürchtet euch nicht! Die Sonne geht auf!“

„Shaeri! Shaeri!“ schrie Somal plötzlich. „Sie ist weg! Éowyn, etwas – etwas hat sie direkt von meiner Seite weggeholt!“

„Shushila! Matta!“ rief eine Mädchenstimme. „Wo seid Ihr?!“

„Sie töten die Wache!“ schrie Ikako, ihre Stimme körperlos in dem dicken Nebel. „Éowyn! Die Jäger ergreifen die Wache! Wir sind verraten!“

„Feuerwerk!“ rief Éowyn. „Gebt den Befehl an der Reihe entlang weiter! Feuer! Feuert gerade in die Luft!“

Ein weiterer Mann kam auf sie zu, diesmal ein Sohn von Harad. Er warf ihr sein Schwert vor die Füße und schluchzte wie ein kleiner Junge. „Töte mich! Töte mich, Frau! Lass nicht zu, dass die Dhak-dir mich mitnehmen!“

Sie schlug ihn mit ihrem Schwertknauf bewusstlos und verfluchte Haradoun von Harad, die Jäger, Indassa und ihre eigene Narrheit. Soldaten aus Gondor! Wie im Namen aller Valar kam es, dass Soldaten aus Gondor mit Haradoun ritten---?!

Die erste Rakete stieg in flammendem Bogen nach oben. Sie explodierte in einem Schauer aus Hitze und Licht, der selbst aus hundert Fuß Entfernung und Höhe noch Éowyns Gesicht glühen ließ. Der Luftdruck ließ brennende Trümmer in einem schwarzen, verkohlten Schwall hernieder regnen. Trotz der Schreie, des Rauches und dem Tod überall um sie herum lächelte Éowyn grimmig, als sie sah, was da auf die Erde herunterkam... die flammenumkränzten Gestalten von Jägern, kreischend wie verlorene Seelen und gefangen in der endlosen Nacht außerhalb der Schöpfung; sie wanden sich, krallten ins Leere und kreiselten in die Tiefe. Die alten Legenden, die Fallahs Vorväter über die Jäger erzählt hatten, waren wahr. Wenn man sie in anzündete, brannten sie wie Reispapier. Überall feuerten Fallahs Raketen-Abschussrohre und erleuchteten den Himmel.

„Nehmt die Überlebenden gefangen!“ schrie Éowyn zu Suni und Ikako hinüber. „Gebt den Befehl weiter!“

Sie drehte sich um und sah Somal, der noch immer neben seinem Abschussrohr kniete und seinen Feuerstein mit bebenden Händen festhielt. Er brannte die Zündschnur an – nur einen Moment, ehe ein flüchtender Mann über ihn stolperte und ihm das Rohr aus der Hand schlug. Als es vorwärts fiel, ging die Rakete los, geradewegs in die Ansammlung von Männern fünfzig Meter weit weg hinein, die sich Rücken an Rücken in dem Leuchtturmlicht des heiligen Dinges zusammen drängten – was immer es auch war – das so stark glühte und die Jäger abhielt. Sie schlug in der Mitte der Truppe ein und erwies ihnen ebenso wenig Gnade wie die anderen Raketen den Jägern erwiesen hatten.

Éowyn rannte über die offene Fläche zu der Gruppe von Männern hinüber. Helle Strahlen morgendlichen Sonnenlichts schossen über die östlichen Gipfel hinter ihnen und fielen rettend auf ihr Gesicht. Über sich konnte Éowyn offene Stellen von heller werdendem Blau sehen, wo Fallahs Himmelsgeschosse den Nebel wortwörtlich weggesprengt hatten und das Morgenlicht durchließen. Und ebenso waren die überlebenden Jäger verschwunden; sie hatten sich für den Augenblick in die schattigen Tiefen des Passes zurückgezogen. Auf allen Seiten um sich herum sah sie, wie sich die Haradrim vor den Wachen auf das Gesicht warfen und ergaben, dankbar für ihre Errettung. Die Handvoll gondoreanischer Krieger, die sie jetzt im zunehmenden Licht deutlich erkennen konnte, hatten ihre Waffen weggesteckt. Sie rannten alle auf den rauchenden Klumpen aus Männern und Pferden zu, wo Somals Rakete eingeschlagen war. Sie wusste – irgendwie wusste sie es genau – dass der größte Teil derer, die in dem Licht dieser strahlenden, schützenden Aureole Schutz gesucht hatten, Männer aus Gondor gewesen waren, keine Haradrim.

Sie kam stolpernd zum Stehen und starrte an, was von ihnen übrig war. Ein Mann in der Kriegstracht von Gondor hielt neben ihrer Schulter an. Er stand da wie betäubt und schlug nach dem Rauch, der von seinem glimmenden Mantel aufstieg. Offenbar hatte die Explosion ihn umgeworfen. Sie verhielten einen Augenblick in stillem Entsetzen Seite and Seite. Éowyn erinnerte sich wieder an das furchterregende Bild, das sie erst gestern heraufbeschworen hatte von dem, was eine von Fallahs Waffen bei einer Kompanie Männer und Soldaten anrichten konnte. Kein eingebildeter Schrecken hätte sie für die Wirklichkeit vorbereiten können. Sie presste eine Hand auf den Mund, um zu verhindern, dass sie sich übergab.

„Das haben wir getan“, flüsterte sie. „Ich habe das getan.“

„Junge, ich habe gesehen, wie dieser flüchtende Haradrim den Kleinen umgerannt hat, gerade bevor er – bevor er seinen Feuerpfeil abgeschossen hat.“ sagte der hochgewachsene, grauäugige Mann neben ihr grimmig. Es war so eigenartig, dass Hosen und eine leichte Rüstung die meisten Männer zu dem Gedanken verleitete, einen Jungen zu sehen anstatt einer Frau. „Das war ein Unfall. Aber Eure Soldaten haben meine angegriffen und erschlagen. Das war kein Unfall.“

„Das war es nicht.“ sagte Éowyn zustimmend. Sie ballte die Fäuste zu beiden Seiten ihres Körpers, um sie am Zittern zu hindern. „Ich bin---“ Éowyn hielt inne; ihre Augen stachen. Was konnte sie diesem Mann wohl sagen, diesem Hauptmann von Gondor der Kleidung nach, der sich in dumpfem Schock umsah und die... die Fetzen betrachtete, die von seinen Männern übrig waren? „Ich bin der Befehlshaber der Rhunballani-Wache, Verteidiger dieses Königreiches. Wir sind heute hergekommen, um eine Eroberungsarmee von Haradrim zu töten.“

Er schien nicht überrascht zu sein über ihre Worte. Oder vielleicht war er im Moment jenseits von so etwas Gewöhnlichem wie Überraschung.

„Ich bin Hurin, Sohn des Magron von Gondor“, sagte er ruhig und sorgfältig. „Ich verstehe noch nicht voll und ganz, was hier heute Morgen passiert ist, aber ich weiß, ohne Eure Feuerwaffen wären wir jetzt allesamt tot.“

Sie war eine Närrin gewesen! Eine verbrecherisch unfähige Närrin, dass sie sich für eine Kommandantin hielt, die imstande war, Soldaten in ein ausgewachsenes Gefecht zu führen. Alles, was in einer Schlacht geschieht, hatte Théoden sie gelehrt, Sieg und Niederlage, Unfälle und zufälliges Glück – war der Stolz oder das Versagen des einen, der auf dem Feld befahl. Und hier stand nun dieser ehrenhafte Mann, bereit, ihr Absolution zu erteilen für seine Toten, obwohl ihre Hände rot befleckt waren von deren Blut.

Ein schwaches Stöhnen stieg von irgendwo mitten in dem Durcheinander aus aufgewühlter Erde und menschlichen Überresten auf. Sie folgten dem Geräusch, fanden seinen Ursprung und zogen den brennenden Leichnam eines großen Haradrim-Kriegers beiseite; zum Vorschein kam ein Mann, der scheinbar betäubt war, sonst aber fast unverletzt.

„Da werden andere unter den obersten Toten sein, die auch noch leben.“ sagte der grauäugige Mann.

„Hier ist noch einer!“ rief eine Stimme. „Nein – hier sind noch zwei, Herr Hurin!“

Plötzlich erhob sich ein Stöhnen rings um sie herum, gedämpft und schmerzerfüllt. Aber lebendig! Éowyn kniete sich hin und schob die Leiche eines Mannes von einem Paar Beine herunter, das sich bewegte. Ihre Kehle zog sich zusammen und ihr Atem stockte, als sie sah, dass der Soldat darunter nicht im mindesten verbrannt war. Aber ein Pfeil mit der grünen Befiederung vom Wachhaus vom Gespannten Bogen steckte tief in seinem Bauch.

„Hände weg, du riesiger Ochse!“ schrie Fallah wütend den großen Soldaten an, der ihr den Weg zu dem rauchenden Haufen verwundeter Männer versperrte. Ihr hübsches Gesicht war verschmiert, ihre Augengläser zerbrochen und verbogen. Als sie den Schaden überblickte, den ihr Handwerk an menschlichem Fleisch hinterlassen hatte, waren ihre Augen so entsetzt und schuldbewusst wie die von Éowyn.

„Mein Herr!“ sagte der Soldat. „Diese Südlingsfrau sagt, sie sei eine Heilerin.“

„Dann bringt sie schnell her!“ sagte Hurin.

Gemeinsam hoben die drei den Mann mit der Pfeilwunde aus dem brennenden Mittelpunkt der Explosion. Fallah fing an, in ihrer Arzttasche zu wühlen und gab dem jungen Soldaten, der ihr noch einen Moment zuvor den Weg versperrt hatte Befehle... in dem selben Tonfall einer älteren Schwester, den sie auch bei Somal benutzte.

Éowyn folgte Hurin wieder zurück, um nach noch mehr Überlebenden zu suchen. Das Gesicht des Edlen von Gondor war so hart wie unbewegter Stein. Es war ein Blick, den Éowyn wieder erkannte, das Gesicht eines kämpfenden Mannes, der darum ringt, nicht zusammenzubrechen und um den Verlust von Männern zu weinen, die er wie Brüder geliebt hat. Éowyn fragte sich, wie viele Frauen der Wache die Jäger mitgenommen hatten, und wie viele durch das Schwert gefallen waren. Sie fragte sich, ob ihr Gesichtsausdruck dem von Hurin wohl ähnlich war.

„Halt!“ rief einer von Hurins Männern.

Éowyn sah jetzt, dass die Wache sich ihnen von allen Seiten näherte. Manche sammelten sich aus Instinkt an diesem Ort, einfach deshalb, weil Éowyn hier war. Andere trugen ihre eigenen Verwundeten. Der Soldat, der „Halt!“ gerufen hatte, erhob sich von dort, wo er neben dem sterbenden Mann mit der Bauchwunde gekniet hatte, sein Gesicht schrecklich verzerrt vor Kummer. Die Handvoll anderer Gondor-Krieger drängten sich an seiner Seite zusammen, die Hände auf den Schwertgriffen. Hurin betrachtete die Wache mit der grimmigen Intensität eines Mannes, der sich fragt, wie viele Feinde er töten kann, bevor sie ihn zu Boden reißen.

Éowyn berührte in einer schweigenden Warnung seinen Arm, als sie sah, wie Suni und Ikako vorsichtig durch das improvisierte Feldlazarett herankamen. Sie wurden von der vollen Besatzung ihrer beider Wachhäuser flankiert. Éowyn schickte ein stilles Dankgebet für Ikakos kühlen Kopf zum Himmel; sie sah, dass ihre Schwerter in den Scheiden steckten und dass ihre Bogen gesenkt waren.

„Lasst sie kommen“, sagte sie leise zu Hurin. „Sie stehen unter meinem Kommando.“ Er starrte sie einen Augenblick lang forschend an. „Wir haben Eure Männer mit Schwert, Feuer und Pfeil bekämpft, weil wir sie für Haradrim-Eindringlinge gehalten haben. Lasst nicht noch mehr Blutvergießen zwischen uns sein, bis wir miteinander gesprochen und besser verstanden haben, was heute hier geschehen ist.“

Er hielt ihren Blick noch einen Moment länger fest. Dann nickte er kurz. „Last sie kommen!“ rief er zu dem Dutzend Soldaten von Gondor hinüber, die sich halb betäubt erhoben hatte, mit Brandblasen von der Explosion übersät, sonst aber unverletzt.

„Mädchen!“ sagte einer von Hurins Männern, als die Garde näher kam. „Das sind alles Frauen!“

Hurin sah sie stirnrunzelnd und überrascht an, während sein Verstand endlich hinnahm, was seine Augen ihm schon die ganze Zeit gesagt hatten.

„Vor vier Jahren“, sagte Éowyn laut genug, dass die anderen Männer es hören konnten, „da hat Haradoun von Harad jeden Mann von Rhunballa, der alt genug war, ein Schwert zu halten, verschleppt. Fast alle sind auf den Pelennorfeldern gefallen. Er hat seit dem Fall von Mordor wiederholt versucht, dieses Reich erneut für sich zu erobern. Seinetwegen sind nur noch Frauen geblieben, um das Land zu verteidigen.“

Sie hörte mehr als dass sie sah, wie die Worte ihr Ziel erreichten. Wie auch immer diese Männer dazu gekommen waren, mit der kleinen Erobererarmee des Herrschers von Harad zu reiten, dies war nicht die Geschichte, die man ihnen erzählt hatte.

„Kommandantin“, sagte Ikako förmlich und legte eine Hand zum Salut über ihr Herz. Sie beäugte Hurin misstrauisch, ihr Blick so hart wie Feuerstein. „Wir haben ein Dutzend der Haradrim lebendig gefangen genommen, und weitere vier von den Westrons. Was soll mit ihnen geschehen?“

„Bindet die Haradrim“, sagte Éowyn. „Indassa wird über ihr Schicksal entscheiden. Wie viele sind gefallen?“

„Achtzehn sind verwundet“, antwortete Ikako, „Keiner wurde wirklich getötet, aber – fast zwanzig fehlen ganz einfach.“

„Zwanzig“, erwiderte Éowyn schwer.

„Ohne Fallahs Feuerwerkskörper wäre es viel, viel schlimmer gewesen“, sagte Suni. Sie warf Hurin einen scharfen Blick zu. „Was sollen wir mit den Westrons tun?“

„Mein Herr“, Éowyn wandte sich zu Hurin zurück. „Die Königin von Rhunballa wird viele Fragen an Euch haben – nicht die mindeste davon wird sein, welche Lüge Haradoun gesponnen haben kann, um Soldaten von König Elessar so zu betören, dass sie hundertfünfzig Meilen jenseits der Grenze von Gondor an seiner Seite marschieren.“

„Betören ist ein passendes Wort, Herrin“, erwiderte Hurin grimmig. Er verbeugte sich förmlich, schnallte sein Schwert samt Gehenk ab und legte es ihr in die Hände. „Ich werde die Fragen Eurer Königin beantworten. Bis zu diesem Zeitpunkt gebe ich mich selbst und meine Männer in Euren Gewahrsam. Aber ich möchte Euch bitten, meinen Männern zu gestatten, sich um ihre Verwundeten zu kümmern.“

„Natürlich“, erwiderte Éowyn. „Fesselt die Männer von Gondor nicht“, befahl sie. „Wir haben den Schwur ihres Hauptmannes, dass sie nicht versuchen werden, zu fliehen. Lasst uns für den Augenblick alle zusammenarbeiten, um für die Verletzten zu sorgen.“

Ein kleines Stück weiter bellte Fallah bereits Befehle in Richtung von zwei hochgewachsenen Söhnen Númenors und teilte die wachsende Anzahl von Überlebenden nach der Schwere ihrer Verletzungen ein.

„Éowyn!“ Somal kam herbeigeeilt, sein junges Gesicht angespannt, aber voller Freude. „Shaeri ist am Leben! Insis’ Geschoss hat den Jäger getroffen, der aus der Luft kam und sie mitgenommen hat. Ihr Bein ist allerdings gebrochen. Aber sie lebt!“

„Éowyn?“ wiederholte Hurin leise.

„Éowyn, die Schwester des Königs von Rohan?“ rief einer von Hurins Männern aus. „Die Éowyn die den Herrn der Nazgûl erschlagen---?!“

„Marsil“, sagte Hurin scharf, obwohl er auf seine eigene, stille Art so erstaunt zu sein schien wie der junge Soldat. „Das ist nicht der richtige Augenblick.“

„Bringt alle Verwundeten hierher zu Fallah und Somal“, sagte Éowyn zu Suni und Ikako. „Wir müssen sie so schnell behandeln, wie es geht und transportfertig machen.“ Sie bemerkte die verschleierte Furcht in ihren Augen und sah, dass sie ihre Gedanken gelesen hatten, noch ehe sie sie laut aussprach. „Das Tageslicht wird nicht ewig dauern.“

Aus Pflichtgefühl und schuldbewusster Trauer blieb Éowyn bei Hurins Männern und durchsuchte die gondoreanischen Opfer der fehlgeleiteten Rakete nach Überlebenden. Es war nicht so schlimm wie es hätte sein können. Nur der äußere Ring der Soldaten, die sich der Rakete gegenüber gesehen hatten, waren – Éowyn schluckte und schmeckte Asche – in Stücke gerissen worden. Die Männer am Rand des Kreises hatten die anderen vor der Explosion geschützt. Unter jedem brennenden Leichnam, den sie herumdrehten, lag ein lebender Mann. Den Valar sei gedankt auch für die kleinen Gaben.

„Ich bin nicht verletzt, Junge!“ bellte plötzlich eine tiefe, rumpelnde Stimme. „Bitte mich nicht noch mal, mich hinzulegen! Wenn du mir helfen willst, dann hilf mir, meinen Freund zu finden. Er war mitten in dem Kreis und hielt das Licht, also liegt er sehr wahrscheinlich zerquetscht ganz unten unter dem Haufen!“

Eine eisige Hand des Wiedererkennens wanderte Éowyns Rückgrat hinunter.

Sie wusste, wen sie sehen würde, noch bevor ihre Augen ihn fanden. Sie bewegte sich vorwärts wie ein Schlafwandler und fühlte sich merkwürdig außerhalb der Zeit. Es war das Gefühl, als sei ihr zweites Leben gerade dabei, sich mit dem ersten zu überlappen. Die Vergangenheit, vor der sie seit vier Jahren davongelaufen war, rief endlich nach ihr.

„Meister Gimli!“ sagte sie mit bemerkenswert normaler Stimme.

Der Zwerg schlug die Hand des ernsten jungen Soldaten beiseite, der versuchte, ihm beim Aufstehen zu helfen und blinzelte heftig. Éowyn beugte sich hinunter und nahm das Ende ihres eigenen Mantels zu Hilfe, um ihm das Blut aus den Augen zu wischen. Es strömte aus einem tiefen, hässlichen Schnitt unter seinem Haaransatz.

Er spähte mit erschöpftem Schrecken zu ihr hoch und wies ihre sanfte Hand nicht zurück, als sie den zusammen gefalteten Saum ihres Mantels auf seine Stirn presste, um den Blutfluss einzudämmen.

„Mädel?“ fragte er leise. „Éowyn von Rohan?“ Dann teilte sich sein blutiges Gesicht in ein breites, strahlendes Grinsen; er packte ihre Hände und röhrte: „Was im Namen von Aules bronzenem Lendenschurz machst du denn hier, Mädel?“

„Ich...“ Sie hatte keine Ahnung, wie sie auch nur beginnen sollte, ihm eine vernünftige Antwort zu geben. „Ich verteidige dieses Königreich gegen die Haradrim.“ sagte sie zuletzt einfältig.

„Du machst was---?!“

„Mein Herr Gimli!“ rief Hurin hastig. Der gondoreanische Hauptmann hob eine weitere, schlaffe Gestalt aus der Asche der menschlichen Überreste um sie herum. Der gesamte Rücken des Mannes war schwarz verkohlt und qualmte.

„Legt ihn mit dem Gesicht nach unten!“ sagte Fallah drängend. „Wir müssen dieses Leder von ihm wegschneiden, ehe es sich in seine Haut einbrennt! Und das Kettenhemd auch – es ist glühend heiß!“

Gimli gab ein wortloses Stöhnen der Furcht von sich, rannte hinüber und half ihnen, die rauchende Gestalt sanft auf dem Boden abzulegen. Marsil löste das Kettenhemd und Fallah fing an, die Kleidung auf seinem Rücken zu zerschneiden und abzuziehen. Éowyn sah zu und ihre Brust krampfte sich zusammen, als sie sah, dass auch noch ein Rhunballani-Pfeil aus seinem Oberschenkel ragte.

„Dass du mir ja nicht stirbst, Junge!“ sagte Gimli heftig. „Wag es nicht!“

Als Fallah ihn aus seinem Lederharnisch schnitt, kam das Haar des gefallenen Kriegers mit herunter; es war unterhalb vom Nacken abgesengt. Es war ebenfalls verbrannt und glimmte noch, wie einer Handvoll frischer Goldfäden frisch von Schmied. Selbst zerstört war es noch immer schön, dachte Éowyn betäubt, als sie neben Gimli niedersank. Der Zwerg streckte die Hand aus und nahm den Arm seines Freundes. Er entfernte sachte die große Kristallkugel, die seine schlaffe Hand noch immer festhielt. Die Kugel leuchtete noch schwach; ihr Licht ließ im zunehmenden Tageslicht nach, als würde eine winzige Flamme in ihrer Mitte langsam verlöschen.

Éowyn riss einen Streifen von einer von Fallahs Verbandsrollen ab und wischte mit bebenden Händen den Ruß aus dem blutigen, besinnungslosen Gesicht des Legolas von Düsterwald.

Meine Schuld, meine Schuld... Die schreckliche Litanei sang durch ihren Geist. Alles meine Schuld!


Top           Stories           Nächstes Kapitel          Home