... und schwinden nicht dahin (Not fade away)
von Jael, übersetzt von Cúthalion



2. Kapitel
Der grausamste Monat

Man sagt, der April sei der grausamste Monat. Aber der April bringt das Versprechen neuen Lebens, mit dem Hervorbrechen der ersten Blätter und dem Sprießen der ersten, zarten Grashalme durch den gesprungenen Asphalt. Unter all den Monaten des Jahres hatte sie immer den Januar für den grausamsten gehalten, vor allem in dieser Stadt, wo der rußige Schmutz der Straßen den Schnee fast noch in dem Moment, in dem er fiel, in braunen Matsch verwandelte, und in der die beißenden Winde vom See ihn so hart gefrieren ließen wie ein Messer, das nach empfindlichen, bloßen Knöcheln hieb, die durch die Schneewehen brachen. Der vergangene Januar war nicht anders gewesen, mit seinen bitteren Neuigkeiten, die zum bitteren Wetter passten. Trotzdem entwickelte sich dieser April gerade zum zweitgrausamsten Monat dieses annus horribilis.

Was für eine Närrin ich gewesen bin, einen Anwalt zu heiraten, sagte sie sich, während sie sich zwanghaft die Hände wusch, um das schleimige Gefühl von dem Stift loszuwerden, den sie benutzt hatte, um früher an diesem Nachmittag die letzten sieben Jahre ihres Lebens mit einer Unterschrift auszulöschen.

Um sich selbst Gerechtigkeit angedeihen zu lassen – sie hatte nicht wirklich einen Anwalt geheiratet. Sie hatte einen Studienanfänger geheiratet, der ihr die Welt, die Sonne und die Sterne versprochen hatte, und sie hatte ihn zu sehr geliebt, um klar zu denken, während sie es tat. Ein Jahr später liebte sie ihn noch ebenso sehr, als er sie dazu überredete, ihre Pläne für die Kunstschule fallen zu lassen und sie beide zu unterstützen, während er seinen Juraabschluss machte. Es war eine Anstrengung, die sie miteinander teilten, eine Partnerschaft für ihre Zukunft, hatte er argumentiert, und sie würde an die Reihe kommen, wenn er das Anwaltsexamen erst einmal hinter sich hatte und den ersten, fetten Barscheck mitbrachte.

Sechs Jahre lang hatte sie als Datenverarbeitungs-Bürokraft für eine Versicherungs-Gesellschaft gearbeitet. Sie war jeden Morgen aufgestanden und in unbequeme Kleidung geschlüpft, um sich an einen Schreibtisch zu setzen und auf einen Computerbildschirm zu starren; sie hatte die Antragsformulare abgeschrieben, immer die selben, idiotischen Details getippt, immer die selben, idiotischen Fehler verbessert. Es war der lebende Tod gewesen für jemanden mit einem klugem Geist und einer Seele, die den Wunsch hatte, Schönheit zu schaffen, aber sie lebte in der Hoffnung, dass die Dinge sich eines Tages ändern würden.

Nun, jetzt waren sie ganz bestimmt anders, so sicher wie die Hölle. Ihr geliebter, ehrenwerter Michael Taylor hatte sie zwei Wochen nach seinem Anwaltsexamen mit der Neuigkeit überrascht, dass er ausziehen würde. Er teilte ihr mit, sie hätten sich auseinander gelebt. Sie bot seinem Geist keine Anregung mehr und „passte“ auch nicht in seinen neuen Kreis befreundeter Berufskollegen, und er hatte jemanden gefunden, der es tat – nicht sehr überraschend, jemanden aus der Firma, die ihn gerade angestellt hatte, nachdem er die letzten drei Sommer hindurch dort als Praktikant gearbeitet hatte. Sie besaßen nichts als die Schulden aus seinem Studienkredit, und er bot höchst großzügig an, die zu übernehmen – gemeinsam mit den zukünftigen Gehaltsaussichten, die er ihrem geistlosen Job zu verdanken hatte. Natürlich war da auch die versteckte Drohung, dass die Hälfte der Schulden als fairer Anteil ihres ehelichen Vermögens auf den Verhandlungstisch wandern könnte, wenn sie nicht nachgab und die Scheidung einvernehmlich hielt.

Gelangweilt hast du dich, Michael, oder? dachte sie, während sie einen Mundvoll Listerine nahm, um den Geschmack der Heuchelei wegzuspülen, die es sie gekostet hatte, früher an diesem Tag in der Anwaltskanzlei zu lächeln und den Zorn aus ihrer Stimme zu verbannen. Du hast dich nicht annähernd so gelangweilt wie ich in den letzten paar Jahren… den ganzen Tag zu arbeiten und dann nach Hause zu kommen und die Bremsstreifen aus deinen Unterhosen zu waschen, während du studiert hast. Und alles bloß für uns, nicht wahr? Ganz recht, und Affen waren imstande, ihr aus dem Hintern zu fliegen. Sie spuckte aus.

Leidenschaftslos betrachtete sie ihr Spiegelbild und sagte sich, dass dies das Gesicht eines geborenen Einfaltspinsels war. Undefinierbar braunes Haar, Augen irgendwo in der Mitte zwischen Blau und Grau, hochgewachsen, dünn, weder Busen noch Hintern, die erwähnenswert gewesen wären. Michael hatte sich ständig über ihre Flachbrüstigkeit beklagt und immer häufiger darauf bestanden, dass sie sich Implantate machen lassen sollte, wenn sie erst einmal das Geld dafür hätten. Nun, das mit den Titten würde nicht mehr passieren, und wenigstens das war eine Erleichterung. Sie hatte nicht wirklich zwei wippende Plastikklumpen auf der Brust haben wollen. Sie war keine umwerfende Schönheit – eine gute, solide Sechs von Zehn, angenommen, sie war großzügig sich selbst gegenüber, und das war im Augenblick nicht der Fall.

„Also, und was machst du nun mit dem Rest deines Lebens, du blöde Kuh?” fragte sie sich. Es war nicht weiter überraschend, dass die Frau im Spiegel keine Antwort darauf hatte. Sie sah bloß müde aus, und stinksauer – und ein bisschen verängstigt.

Als ob die Scheidung noch nicht schlimm genug gewesen wäre, hatte sich die Frage, was sie mit dem Rest ihres Lebens anfangen sollte, gerade erst zu einer etwas drängenderen Angelegenheit entwickelt. Sie hatte dieses Stück Information am Nachmittag für sich behalten – nicht, dass Michael Taylor und sein Anwalt, ein auf Familienrecht spezialisierter Mitarbeiter aus der neuen Firma, einen Dreck darauf gegeben hätten – aber mit ihrem letzten Gehaltsscheck von Titanic Insurrance waren zwei Wochengehälter extra gekommen, zusammen mit der Kündigung. Offensichtlich hatte Titanic Insurrance herausgefunden, dass die Datenverarbeitungs-Bürokräfte in Bangalore für ein Fünftel des Preises arbeiteten, den ihre amerikanischen Kollegen verlangten. Ein Hurra auf das Zeitalter der unverzögerten Internetkommunikation, die solche Wunder möglich machte! Das gesamte Chicagoer Büro wurde praktisch sofort geschlossen.

In einem schlechten Roman wäre das jetzt der Moment gewesen, die Metallica-CD einzulegen (die mit Fade to Black darauf), den Gin und die Rasierklingen herauszuholen und sich in einer Badewanne mit heißem Wasser umzubringen. Stattdessen goss sie sich ein Glas billigen Wein aus der Packung ein, schälte sich aus ihrer Seidenstrumpfhose und setzte sich an den Computer, um die Seiten mit Jobangeboten anzuklicken. Sie konnte die Technologie genauso gut nutzen, während sie noch imstande war, sich den Internetanschluss zu leisten.

Glücklicherweise war sie mit ihrem Lebenslauf up to date, abgesehen davon, dass sie wieder ihren Mädchennamen einsetzen musste, nun, da die Scheidungspapiere unterschrieben waren. Ein Lebenslauf ohne Brüche war der einzige Gewinn, wenn man über Jahre hinweg in einem Sackgassen-Job in der Falle saß. Ein Paar Klicks auf die Tasten in ihrem WORD-Programm, und voilà! Der Name Taylor war Geschichte, gemeinsam mit dem Rindvieh, das in ihr gegeben hatte.

Sie fing damit an, ihre Emails zu checken. Lauter Spams – ihre Eltern waren tot, sie war das einzige Kind, und die meisten Freunde aus ihrer Kindheit hatten sich während ihrer Ehe von ihr entfernt, abgeschreckt von ihrem chronischen Zeitmangel und die Eiseskälte, die Michael ihnen entgegenbrachte.

„Verpfänden Sie ihre Hypothek!“ Welche Hypothek? Was für ein Eigenkapital? Sie konnte froh sein, wenn sie nächsten Monat die Miete für diese Wohnung im dritten Stock ohne Fahrstuhl noch bezahlen konnte. Sie drückte die Löschtaste.

„Sie haben in der Liberianischen Lotterie zwei Millionen Dollar gewonnen!” Glaube ich kaum. Wieder die Löschtaste.

Als nächstes kam ein unsinniger Betreff von einer unbekannten Adresse. Sie war versucht, die Email ungelesen zu löschen, aber sie warf einen raschen Blick darauf, um auf der sicheren Seite zu sein. Oh oh, ich hab nicht mal so einen, und selbst wenn, dann würde ich ihn nicht noch größer haben wollen. Obwohl, vielleicht hätte sich mein lieber, verblichener Ehemann dafür interessiert. Sie schluckte ein Kichern hinunter und drückte erneut die Löschtaste.

Noch so ein rätselhaftes Betreff. Diesmal verkauften sie einen Vibrator vom Typ Rammelndes Karnickel. Ihre Finger bewegten sich in Richtung Löschtaste und hielten dann inne. Also, das war gewiss nicht die richtige Zeit zum Geldverschwenden, aber man konnte ja nie wissen, wann man so etwas noch brauchen konnte. Jeder Hafen im Sturm, oder? Während sie die Email abspeicherte, traf es sie wie ein Schlag: sie war wirklich und wahrhaftig wieder Single.

Sie schickte ihren Lebenslauf an jede offene Stelle für eine Datenverarbeitungs-Bürokraft und Tippse in der Innenstadt, und sie ignorierte das sinkende Gefühl in ihrer Magengrube bei dem Gedanken, tatsächlich während der nächsten vierzig Jahre irgendwo dort zur Arbeit zu erscheinen. Und dann – weil sie sich gerade überspannt genug fühlte – checkte sie die Jobangebote für grafische Künstler. Wie befürchtet wurde bei den meisten ein Kunstschul-Abschluss erwartet, den sie nicht hatte, aber an einem Eintrag blieb ihr Blick hängen. Eine Einrichtung namens Dale Toy Company suchte nach einem Designer/Illustrator, der noch Anfänger war. Erforderliche Abschlüsse waren keine aufgelistet. Alles, wonach diese Ausschreibung fragte, waren ein Lebenslauf und ein Beispiel für die Zeichenkünste des Bewerbers.

Sie starrte mehrere Minuten auf den Bildschirm. Sie hatte nicht mehr Aussichten, diesen Job zu kriegen als eine Schneeflocke in der Hölle - oder gar den Termin für ein Bewerbungsgespräch - aber eine kleine Stimme der Hoffnung in ihrem Hinterkopf wollte nicht schweigen. Sie entschied, dass wahrscheinlich der Wein Schuld war, aber was hatte sie schon zu verlieren? Es würde sie nicht einmal eine Briefmarke kosten, wenn sie bloß ihren Scanner zum Laufen bringen konnte.

Die einzige Hürde war das Beispiel für ihre Zeichenkunst. Sie hatte sich trotz Michaels Drängelei stur geweigert, ihre Studentenmappe wegzuschmeißen, aber die lag irgendwo tief im Keller des Apartmenthauses vergraben, und es würde sie wenigstens einen Tag kosten, sie wieder freizuschaufeln. Sie zog ein Blatt Papier aus ihrem Drucker, nahm einen Bleistiftstummel aus der Tasse auf ihrem Computertisch und sah sich nach etwas um, das sie zeichnen konnte.

Das winzige, hintere Schlafzimmer, das ihr aus Heimarbeitsbüro diente, war ein Chaos und absolut keine Hilfe. Das Fenster schaute auf den Hinterhof hinaus, and alles, was man sehen konnte, waren die obersten Zweige eines einzelnen Baumes. Es war Vorfrühling, und die Blätter hatten gerade erst angefangen, sich zu entfalten. Ein Ast trug ein einziges, ganz geöffnetes Blatt an der Spitze, und sie fing an, es zu zeichnen und machte das Blatt zum Mittelpunkt der Komposition, mit einem Meer von benachbarten Hausdächern als Hintergrund und den dunstigen Umrissen der Chicagoer Skyline, die schwach in der Entfernung zu sehen waren.

Warum sich irgendwer um ein Blatt scheren sollte, kam ihr nicht in den Sinn, vor allem, wenn dieser Jemand für eine Spielzeugfirma arbeitete und an fröhlicher Verpackungskunst interessiert war. Aber irgendetwas an diesem einsamen Stückchen Natur vor städtischer Kulisse hatte sie angesprochen. Und außerdem war das das Einzige, was sie im Moment zeichnen konnte, punktum. Als die Skizze fertig war, legte sie sie auf die Fläche des Scanners und stellte ihn so ein, dass er sie als JPEG speicherte.

„Bitte, bitte, mach mir diesmal bloß keinen Ärger,“ flüsterte sie, während sie auf das vertraute, rumpelnde Geräusch des launischen Apparates lauschte, der den Scan anfertigte.

Das Ergebnis war gar nicht so übel, und sie hing es als Anhang an den Lebenslauf und schickte die gesamte Email an die Dale Toy Company; sie war sich sicher, dass dies das letzte war, was sie jemals davon hören würde. Wenigstens hatte sie es versucht.

Tatsächlich hatte sie die Sache bis zum nächsten Morgen schon fast vergessen, als sie ihren Computer einschaltete, und beinahe hätte sie die Email von laransen@DaleToyCo.Rivers.org gelöscht, weil sie dachte, es könnte wieder so ein Versuch sein, ihr das neuste „Erwachsenenspielzeug“ anzudrehen. Stattdessen handelte es sich um die Nachricht, dass sie am kommenden Montag ein Bewerbungsgespräch hatte, mit einer Adresse in der Innenstadt und der Anweisung, sich bei einer gewissen Linda Singer in der Personalabteilung zu melden.


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