So lange ich lebe (As long as I live)
von Cúthalion

28. März 1441, Das Auenland

„Autsch! Oh, das tut weh... aua!“

Die Morgenstille des kühlen, wolkigen Tages wurde vom Jammerschrei einer jungen Stimme zerrissen – gefolgt von einem verärgerten Seufzer.

„Ich hab dir doch gesagt, du sollst zu Hause bleiben, Ham! Das ist das letzte Mal, das du mich dazu kriegst, einen meiner kleinen Brüder mitzunehmen, wenn ich ein Geburtstagsgeschenk abliefern will.“

„Elly, mein Knie tut weh!“ Die Stimme des kleinen Jungen schwankte gefährlich am Rand eines Schluchzers. „Ich bin über einen Stein gestolpert, und mir tut das Knie weh, und ich wollte Tante Lily auch besuchen, und ich bin groß genug, und du bist gemein – und jetzt blutet es auch noch!“

Inzwischen schluchzte er wirklich, und sein Weinen trieb gemeinsam mit der beruhigenden Stimme seiner älteren Schwester durch das offene Fenster eines Smials in der Nähe herein. Es war eine Studierstube, mit breiten Regalbrettern an der Wand, voller Bücher und Pergamentrollen. Ein kleiner Schreibtisch stand dicht am Fenster; die Platte war aus glänzendem Eichenholz gemacht, mit einer Lederunterlage, zwei Tintenfässchen und einer Feder in einem Halter aus Elfenbein. Auf der Lederunterlage ruhte ein großes, aufgeschlagenes Buch, die Seiten mit Beschreibungen von Kräutern und Blumen bedeckt, begleitet von genauen Skizzen und einem halben Dutzend Rezepte. Beim Geräusch des Weinens, das von draußen kam, hob die Frau, die hinter dem Schreibtisch saß, den Kopf, runzelte die Stirn und spähte aus dem Fenster.

Sie hatte ein ruhiges, klares Gesicht mit großen, bernsteinbraunen Augen, einer Stupsnase, die ihr ein jugendliches Aussehen verlieh und einem vollen Mund mit einer herzförmigen Oberlippe. Die Leute sagten stets, sie würde jünger aussehen als ihre siebenundfünfzig Jahre, aber die, die mehr Zeit mit ihr verbrachten, waren sich da nicht so sicher; da war eine gewisse Müdigkeit in ihrem Blick, die sich selten zeigte, aber dennoch sichtbar war für diejenigen, die sie besser kannten. Sie war jetzt seit mehr als zwanzig Jahren die Hebamme, und obwohl die älteren Leute aus Hobbingen und Wasserau sich immer noch sehr gut an ihre Vorgängerin erinnerten – die legendäre Amaranth Brockhaus – war Lily Stolzfuß doch außerordentlich beliebt. Sie konnte jedes Kind beim Namen nennen, dem sie auf die Welt geholfen hatte, und sie hatte sogar die Geburt jedes einzelnen Sohnes und jeder Tochter des berühmten Bürgermeisters Samweis Gamdschie begleitet. Und nun, während sie aus ihrem Fenster schaute, entdeckte sie Sams erstes Kind und einen seiner jüngeren Söhne, Hamfast, der 1432 geboren worden war. Das Knie des Jungen war ganz offensichtlich verletzt, und sein tränenüberströmtes Gesicht war ein dramatischer Anblick, selbst aus der Entfernung. Sie beugte sich über das Fensterbrett.

„Elanor? Hamfast? Kommt doch herein!“

Der Junge humpelte den kiesbestreuten Pfad entlang, der zu der runden, tiefblau angestrichenen Tür führte. Als er endlich den Eingang erreicht hatte, schwang die Tür auf, und Lily Stolzfuß nahm ihn beim Arm und half ihm über die Schwelle. Elanor folgte den beiden nach drinnen.

*****

„Schsch, Ham... ich weiß, das tut weh, aber wir müssen es erst sauber machen. Aber, aber... nicht mehr weinen. Sehr schön... schau, jetzt ist es vorbei. Braver Junge.“

Elanor spähte der Hebamme über die Schulter. Lily tupfte Blut und Schmutz mit einem reinen Tuch von dem aufgeschürften Knie des Jungen; zuerst hatte sie eine klare Flüssigkeit aus einem kleinen Fläschchen auf das Tuch geträufelt.

„Was ist das?“ fragte das Mädchen.

Lily blickte zu ihr hoch, und ein spitzbübisches Lächeln leuchtete in ihren Augen.

„Birnenschnaps,“ erwiderte sie, und das Lächeln vertiefte sich und erreichte ihre Mundwinkel. „Dein Großvater brennt ihn jetzt schon seit zehn Jahren, und der hier ist unverdünnt. Genau richtig dafür, eine Wunde zu reinigen.“

Sie nahm ein Stück Gaze und einen langen, weißen Verband aus ihrer alten Ledertasche, und fünf Minuten später saß Ham am Küchentisch und biss in ein Stück Rosinenkuchen, anständig getröstet und ganz offensichtlich stolz auf sein Abenteuer. Lily goss kochendes Wasser in die Teekanne.

„Du bist nicht zu meinem Geburtstagsfest gekommen,“ stellte Elanor fest.

„Ich weiß, Kind, und es tut mir wirklich Leid,“ erwiderte die Hebamme. „Aber die Zwillinge von Viola Straffgürtel haben darauf bestanden, geboren zu werden, gerade, als ich mich auf den Weg nach Beutelsend machen wollte.“

„Das ist das dritte Mal in fünf Jahren,“ sagte Elanor; ihr leicht anklagender Ton wurde von ihrem Lächeln und der Wärme in ihrer Stimme gemildert. „Mama und Papa haben dich vermisst, genau wie ich.“

Lily schaute sie an, und wie viele Male zuvor sorgte die Schönheit des jungen Mädchens dafür, dass ihr Herz einen Schlag aussetzte. Langes Haar, blassblond wie die frühe Morgensonne, große, wundervoll geformte Augen, grau und klar wie der Himmel kurz vor einem Frühlingsregen, und ein rosenblattgleicher Mund. Plötzlich erinnerte sie sich daran, dass dieses Gesicht einmal runder und viel kleiner gewesen war, und an eine vierfingrige Hand, der die rundliche Babywange mit schmerzhafter Zärtlichkeit und liebender Ehrfurcht streichelte. Schau doch, Lily... sie wird das beste aus zwei Welten haben. Eine leuchtende Schönheit, die jeden rings um sie her an die uralten Wunder denken lässt, die dahin gegangen sind, und die Kraft und Fröhlichkeit des Auenlandes...

„Tante Lily?“

Lily blinzelte und kehrte in die Gegenwart zurück.

„Ich hab dir mein Geburtstagsgeschenk mitgebracht.“ Elanor holte ein kleines Päckchen aus der Tasche ihrer blauen Schürze. Es war ein weißes Taschentuch... ein hübsches Taschentuch, feines Leinen, die vier Ecken mit winzigen Lilienblüten bestickt.

„Hast du es gemacht?“ fragte Lily.

„Ja.“ Elanor zögerte. „Gefällt es dir?“

„Aber natürlich.“ Lily beugte sich vor und küsste das junge Mädchen auf die Wange. „Das ist dir sehr gut gelungen. Danke schön.“

Elanor holte tief Luft.

„Weißt du... ich hab Mamas Brautmieder gesehen. Sie hat mir gesagt, du hättest es für sie gemacht. All die Rosen und Vergissmeinnicht... Mama hat gesagt, es war wie ein unerwarteter Frühling nach einem langen Winter.“

„Es ist wirklich ein langer Winter gewesen, ehe dein Vater zurückkam und sie geheiratet hat,“ sagte Lily mit einem Lächeln, aber dieses Mal erreichte es ihre Augen nicht. „Nur, dass der Frost nicht nur von Eis und Schnee herkam. Es war ein bitteres Jahr, als sie fort waren.“

Elanor bemerkte den angespannten Ton in der Stimme der Hebamme, aber ein rascher Blick offenbarte nichts... es war, als hätten sich hinter dem Gesicht der älteren Frau lange, schwere Vorhänge geschlossen.

„Jetzt siehst du so aus wie Papa immer zu dieser Jahreszeit. Na ja... wenigstens, bis er angefangen hat, mir das Rote Buch vorzulesen. Ich war fast zehn, als ich zum ersten Mal alles über die Fahrt gehört hab.“ Eine lange Pause. Elanor spürte, dass sie sich jetzt auf gefährlichem Boden bewegte. „Hast du je das Rote Buch gelesen, Tante Lily?“

„Nein.“ Lily schüttelte den Kopf. „Aber ich habe gesehen, wie es geschrieben wurde, und man hat mir die Geschichte erzählt.“

Elanor blinzelte überrascht.

„Oh, war das Papa?“

„Nein.”

„Mama?”

„Nein, jemand anderes, Kind. Und das ist eine Geschichte für einen anderen Tag. Ich muss jetzt meine Runde machen, und ich bin sicher, deine Mutter wartet auf dich.“

Das war ein klarer Abschied; Elanor verstand den Wink und erhob sich von ihrem Stuhl. Ham hatte seinen Becher Milch ausgetrunken und seinen Rosinenkuchen aufgegessen, und er war froh, dass er gehen konnte. Die Unterhaltung war für einen neunjährigen Buben sowieso nicht sehr spannend. Doch er vergaß nicht, sich ordentlich zu verabschieden und brachte sogar eine Verbeugung zustande, als seine Schwester neben ihm knickste. Dann waren sie zur Tür hinaus und gingen den Pfad durch den kleinen Stolzfuß-Garten hinunter, vorbei an den Tulpenbeeten voll schlanker Blätter und dicker, grüner Knospen, und bald waren sie außer Sicht.

Lily machte das Fenster zu und setzte sich auf ihren Stuhl hinter dem Schreibtisch. Sie starrte mit blinden Augen auf Elanors Taschentuch hinunter und erinnerte sich an die Zeit, als sie Rosies Hochzeitsmieder bestickt hatte.

Rosen und Vergissmeinnicht in den sanften Farbtönen des Frühlings erschienen unter ihren Händen und draußen vor der Tür hörte sie den aufregenden Klang plötzlich erwachten Lebens und neuer Hoffnung. Hobbingen wurde wiederhergestellt und der zerstörte Beutelhaldenweg wurde erneuert, mit gemütlichen Smials und frisch angelegten Gärten. Von Zeit zu Zeit traf sie Sam, der in der Wärme von Rosies Liebe aufblühte wie die Primeln und Stiefmütterchen, die er gepflanzt hatte, und sie überzog die Seide mit rosigen und blauen Knospen. Währenddessen lag ihr eigenes Herz brach, ein Feld voller Steine und Dornen.

Lily öffnete die Schublade und zog das Pergament und den kleinen, alten Beutel aus schwarzem Samt heraus. Sie faltete das Pergament auseinander und ließ ihre Gedanken einmal mehr zurück wandern... dieses Mal ein Jahr weniger.

Seine Stimme, die redete und redete... zuweilen klar und ruhig, oder sogar mit einem Lachen darin. Dann, während die Erzählung sich fortsetzte und die dunkleren Teile erreichte, wurde sie zögernd, heiser und sehr leise. Manchmal musste sie sich sehr dicht an ihn heran beugen, um zu verstehen, was er sagte, doch sie wagte es nicht, ihn zu berühren, bis er den Abstand zwischen ihnen von selbst überbrückte. Und dann hielt sie ihn fest und wiegte seinen zitternden Körper, wie eine Mutter es bei ihrem Kind getan hätte, bis er endlich die Augen schloss, einen Seufzer der Erschöpfung und Erleichterung ausstieß und in ihren Armen einschlief.

Vier Verse auf dem Pergament, und dann der letzte, den, den er geändert hatte, als er zurückkam. Lily las die erste Zeile vor und zuckte unter dem Klang ihrer eigenen Stimme zusammen.

„Mein letzter Sommer hier, jetzt ist er gekommen…“

Sie faltete das Pergament rasch wieder zusammen und legte es in die Schublade zurück. Nun blieb nur noch der alte Samtbeutel auf der Lederunterlage zurück. Sie zog ihn auf, und der Ring rollte in ihre Handfläche. Die Blütenblätter aus Bernstein schimmerten auf ihrer Haut wie flüssiges Gold. Sie starrte darauf hinunter, dann hob sie die Hand und presste die Lippen auf die zarte Edelsteinblume.

Es sind jetzt zwanzig Jahre, dachte sie, zwanzig Jahre, Melethron. Zwanzig Jahre des Wartens, zwanzig Jahre voller Erinnerungen und Sehnsucht. Und nein, ich fühle den alten Schmerz kein bisschen weniger als an dem Tag, als du zum letzten Mal durch meine Tür gegangen bist. Manchmal bin ich sehr müde, Melethron, manchmal bin ich sehr, sehr müde.

Lily saß minutenlang da, ohne sich zu rühren, dann ließ sie den Ring wieder in den Beutel gleiten und legte ihn in die Schublade. Sie beugte sich wieder über das Buch mit den Zeichnungen und Rezepten.

Ich warte noch immer, und ich werde noch zwanzig Jahre länger warten, sogar vierzig oder fünfzig, solange ich weiß, dass du es auch tust.

Die letzte Zeile des letzten Verses auf dem Pergament kam ihr wieder in den Sinn, und sie lächelte, das Gesicht still und doch entschlossen.

„Doch ein Teil meiner Seele bleibt für immer bei dir...“ Du hast mir gesagt, dass wir uns wiedersehen werden – wenn nicht in dieser Welt, dann ganz sicher in der nächsten. Du hast mir nicht viele Versprechen gemacht, aber gehalten hast du sie alle. Eines Tages... er wird kommen, ich weiß, das wird er. Eines Tages.

Sie klappte das Buch zu und nahm den Umhang von seinem Haken. Sie nahm die Ledertasche von dem Stuhl, wo sie ihn abgestellt hatte, um Hamfasts Knie zu verbinden. Sie ging hinaus, schloss die Tür hinter sich und wandte sich vom Pfad auf die Straße, die zum Neuen Weg führte, eine aufrechte, schlanke Gestalt; ihr Haar glänzte wie eine Krone im Sonnenlicht, das endlich durch die Wolken brach.


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