Stern des Meeres (Star of the Sea)
von Diamond of Long Cleve, übersetzt von Cúthalion

Kapitel 2
Schwindendes Licht

Eine Drossel sang. Ein strömender Wasserfall aus Noten ergoß sich in das Abendlicht. Im Westen war der Himmel mit einem sanften, wunderschönen Rosa getönt. Lebhafte, rosige Streifen hatten sich zu einem sanft strahlenden Sonnenuntergang aufgelöst, der einen weiteren, wunderbaren Frühlingstag versprach.

Sam und Rosie saßen auf der Gartenbank dicht unter Herrn Frodos Schlafzimmerfenster; sie sprachen, so leise sie konnten, um ihn nicht zu stören. Sein Schlafzimmer hatte einmal dem alten Herrn Bilbo gehört und lag auf der Westseite von Beutelsend; das erlaubte einen schönen Ausblick auf die Felder und Wälder, die sich in Richtung der Weißen Höhen erstreckte, die man schwach am Horizont erkennen konnte. Sam rauchte eine Pfeife und umschlang mit dem linken Arm Rosie, die sich in einen Schal gehüllt hatte und sich dicht an ihn kuschelte. Das Licht schwand schnell dahin, aber es war so ein prachtvoller Abend, dass sie das Beste daraus machen wollten, solange er andauerte.

„Nicht mehr lange jetzt.“ sagte Rosie leise.

„Ja.“ sagte Sam. Und er bewegte seinen Arm, so dass seine kräftige, breite Hand zärtlich und beschützend auf dem gerundeten Bauch seiner Frau zur Ruhe kam.

„Unser Frühlingsbaby, Mädel. Unser kleiner Frodo. Und was noch mehr ist: er wird um die selbe Zeit herum geboren werden, zu der der Dunkle Herrscher fiel... Herr Frodo hat mich vor ein paar Tagen daran erinnert.“

Sams Stimme war reich und warm vor Stolz, und etwas wie Ehrfurcht klang darin wieder.

„Ich hoffe, es wird ein Tag sein, der dir und dem Herrn hellere Gedanken schenkt.“ sagte Rosie. „Ich will, dass keiner von euch zurückschaut und traurig wird. Der Tag, an dem unser Baby kommt, sollte ein freudiger Tag sein, Samweis.“

„Du könntest mich mit keinem größeren Geschenk segnen, Rose.“ sagte Sam und küsste sie. „Es war ein freudiger Tag, als wir den Fall des Dunklen Turmes gefeiert haben. Und ich denke, es dürfte ein wenig vom elbischen Zauber der Herrin gewesen sein, der dich unseren Kleinen so empfangen ließ, dass er um diese Zeit geboren wird.“

„Elbischer Zauber, Sam Gamdschie!“ sagte Rosie lachend und stieß ihn spielerisch gegen den Arm. „Das ist doch kein elbischer Zauber, der Hobbits ihre Kinder zeugen lässt, du dusseliger Hobbit! Nur der ganz normale Zauber...“

„Die Sorte, die ,Jungs und Mädels im Frühling frühe Frühlingstänze aufführen’ lässt.“ gluckste Sam, einen alten Auenlandwitz zitierend.

Er liebkoste ihren Nacken und sie kicherten beide, dann küssten sie sich, sanft und liebevoll.

„Hör dir bloß diese Singdrossel an.“ sagte Rosie nach einem zufriedenen Augenblick der Stille. „Sie singt sich das Herz aus dem Leib.“

„Im Schwarzdornbusch.“ sagte Sam. „Da sitzt sie drin.“

„Herr Frodo sagte, letzte Nacht hätte sie auch gesungen.“

Einen Moment lang wurde es still.

„Machst du dir immer noch Sorgen um den Herrn?“ murmelte Rosie dicht an Sams Brust.

Sam runzelte die Stirn. „Weiß nicht, Rose. Er schien in Ordnung zu sein, als ich heimkam. Aber manchmal frag ich mich, ob er ein paar Sachen zurückhält. Er kann so sein, weißt du?“

„Da ging es ihm auch besser.“ sagte Rosie. „Aber du hast ihn vorhin nicht gesehen, Sam. Er war so blass.“ So blass, dachte sie, dass seine Augen nur noch heller und blauer aussahen.

„Blass war er schon immer.“ murmelte Sam. „Und irgendwie schmal. Trotzdem ist er stärker, als er aussieht. Wie Stahl, so ist er. Ich weiß nicht... er kann sein wie ein Elb.“

„Er sagt, es geht ihm gut.“ sagte Rosie ängstlich.

„Ja... aber ich kenne meinen Herrn Frodo. Die Dinge gehen ihm nahe, und dann muss man ihm da wieder heraushelfen. Und er mag mich nicht belasten, oder wenigstens denkt er so – ich weiß, das ist eine Tatsache. Mich belasten...“ sagte Sam abwehrend. „... als ob er das jemals könnte.“

„Er ist nicht krank.“ sagte Rosie. „Er hatte kein Fieber oder auch nur Temperatur und er hat auch nicht merkwürdig geredet, wie damals bei meinem Papa.“

Es war wahr. Sie hatte Frodo den ganzen Nachmittag ruhen lassen, und mehrere Male zu ihm hereingeschaut. Er hatte so süß und fest geschlafen wie ein Kind. Sein Gesicht hatte die vormals so schreckliche Blässe verloren, und seine Wangen hatten den üblichen, leicht geröteten Elfenbeinton. Er war sowieso blass für einen Hobbit-Herrn , und das war selbstverständlich die Tukseite in ihm. Aber nachdem sie sein schlafendes, friedliches Gesicht sorgfältig beobachtet hatte, spürte Rosie mit einiger Befriedigung, dass er nicht krank war.

Als Sam heimkehrte, müde, aber glücklich nach einem guten Tagewerk in Schiefertonwald, brachte er Rosie einen frisch gepflückten Strauß aus Mallornblüten mit. Inzwischen war Frodo aufgewacht und erschien in der Küchentür, während Rosie Sam mitteilte, was früher am Tag passiert war. Ein warmer, köstlicher Geruch nach Kräutern, Knoblauch und brutzelndem Fleisch durchzog die Küche; Rosie machte das Abendessen.

„Herr Frodo!“ rief Sam aus, seine Stimme voller Besorgnis. „Rosie sagt, du hättest dich nicht gut gefühlt?“

Frodo ließ sich auf einem der Küchenstühle nieder und strich sich die dunklen Locken aus den Augen. Er betrachtete Sam nüchtern; er würde sich keine Ausflüchte erlauben.

„Heute ist der 13. März, Sam.“ sagte er. „Ich habe mich... daran erinnert, was an diesem Tag geschehen ist, vor zwei Jahren. Das ist alles.“

Sam wurde sehr still.

„Die Spinnenhöhle.“ sagte Frodo, und seine Stimme war müde. „Die Orks.“

Sam runzelte die Stirn. Er drückte Frodos Hand mit seinen festen, tüchtigen Fingern.

„Schlechte Erinnerungen, Herr.“ sagte er leise, und seine braunen Augen ruhten mit tiefer Wärme auf Frodo.

Frodo lächelte zittrig. „Ja. Schlechte Erinnerungen.“

Wieder drückte Sam Frodos Hand, dann küsste er ihn auf die Stirn.

„Das Abendessen ist beinahe fertig, Herr.“ sagte Rosie sanft, während sie die beiden beobachtete.

Frodo brachte ein weiteres müdes Lächeln zustande. „Also, das ist gut.“ sagte er. „Schließlich habe ich das Mittagessen verpasst!“

Nach dem Essen half Frodo Sam mit dem Abwasch, damit Rosie ihre Füße eine Weile hochlegen konnte, und dann sagte er, er würde sich heute früh ins Bett zurückziehen und höchstwahrscheinlich ein wenig lesen. Er hatten ihnen zugelächelt und ihnen einen schönen Abend gewünscht. Als Sam und Rosie hinausgegangen waren, um die Nachtluft zu genießen, kam das Geräusch raschelnder Buchseiten aus dem Schlafzimmer des Herrn und ein sanftes goldenes Licht drang unter der Tür hindurch.

Sam seufzte. „Nein, krank scheint er nicht zu sein, Rosie, jedenfalls nicht so offensichtlich, nicht so wie das letzte Mal. Und trotzdem... er braucht so viel länger, als ich gedacht hätte.“

„Um über all das hinwegzukommen, was während der Reise passiert ist?“ fragte Rosie zögernd.

„Ja.“ sagte Sam, und sein Arm schloss sich fester um sie. „Und über das, was hier in Beutelsend passiert ist, mit diesem Saruman und seinem Unheil und dass Herr Lotho umgebracht wurde. Herr Frodo scheint das alles noch einmal zu erleben... erst den Oktober, als der Hexenkönig ihn niederstach, und jetzt den März, als ich ihn an diesem scheußlichen Ort verloren habe, wo die Spinne war. Das ist das dritte Mal.“ Er schüttelte den Kopf. „Es ist nicht richtig, dass es ihn so quält.“ sagte er. „Nicht nach allem, was er getan hat.“

„Dann hilft es ihm vielleicht gar nicht, sein Buch zu schreiben.“ bemerkte Rosie. „Nicht, wenn das all diese Dinge für ihn lebendig hält.“

„Ah... aber auf gewisse Weise tut es ihm gut, nehme ich an.“ sagte Sam. „Und Herr Merry denkt das auch. Herr Frodo schreibt einfach gern. Und Herr Merry meint sowieso, all das sei etwas, das unsere Leute wissen müssen.“

„Ich würde es gern wissen.“ sagte Rosie einfach. „Herr Frodo sagt, eines Tages werde ich das auch. Er sagt, das Buch ist für mich und für dich.“

„Ich dachte, er würde es hauptsächlich für den alten Herrn Bilbo schreiben.“ sagte Sam, einigermaßen erstaunt.

„Er sagt, er schreibt es für jedermann.“ sagte Rosie.

„Also, bei ein paar Leuten wäre es wirklich nötig, dass sie es lesen.“ murmelte Sam. Er seufzte und schüttelte den Kopf. „Versteh das nicht falsch, Rosie...“ sagte er. „Herr Merry und Herr Pippin, die sind was Besonderes. Deswegen bemerken die Leute sie ja auch. Und sie haben während des Krieges genauso gelitten wie die anderen. Herr Merry ist beinahe gestorben. Sie haben ihn zum Ritter geschlagen, diese Leute von Rohan, die Pferdeherren... weil er die Herrin Éowyn gerettet hat, und er wurde beinahe umgebracht. Und Herr Pip... er hat das Leben von Herrn Faramir gerettet, und er war am Schwarzen Tor mit dabei, als die Hauptleute zum Schwarzen Land marschiert sind.“

Sam hielt inne.

„Aber der Herr ist auch etwas Besonderes. Und niemand scheint das zu bemerken, und ich weiß nicht, warum.“

„Deshalb, weil er nicht so ist wie sie.“ sagte Rosie. „Und das war er nie. Oft verurteilen die Leute das, was sie nicht verstehen, Samweis.“

„Man sollte meinen, der Krieg hätte das geändert.“ sagte Sam. „Die Leute erweisen Herrn Merry und Herrn Pip jeden Respekt, verdientermaßen...“

„Und dir auch, Lieber.“ sagte Rosie sanft.

„Aber sie ignorieren Herrn Frodo. Das macht mir Kummer, Rose. Weiß nicht, was ich machen soll, um das in Ordnung zu bringen.“

„Sei einfach für ihn da, Sam. Ich glaube, das ist alles, was der Herr möchte. Ruhm und Reichtum kümmern ihn nicht. Und es kümmert ihn auch nicht, was die Leute reden.“

Tatsächlich redeten die Leute eine ganze Menge. Und die Stille setzte sich mehr und mehr in Herrn Frodo fest; er hatte es aufgegeben, sich häufig ins Dorf zu wagen, und er sah wenige Bewohner von Hobbingen. Das war bemerkt worden. Alle waren völlig aus dem Häuschen, wann immer die beiden „Hauptleute“ (wie man sie nannte), Herr Meriadoc und Herr Peregrin, nach Beutelsend geritten kamen, aber es wurde geflüstert, wie eigenartig und still Herr Frodo geworden sei, seit er das Amt des Bürgermeisters aufgegeben hatte. Ganz wie der alte Bilbo, so ist er geworden. Zu viele Bücher und komische Ideen im Kopf. Spricht nie von seinen Abenteuern. Man sollte denken, dass er das wollte, nach all dem, was Herr Merry und Herr Pippin und Sam gesagt haben, über die Rettung der Welt und alles (Die Leute aus Hobbingen hatten immer noch reichlich verschwommene Vorstellungen von den genaueren Einzelheiten des Ringkrieges, trotz Meriadocs geduldigen Erklärungen), aber nein, er versteckt sich hinter verschlossenen Türen. Eigenartig. Sie schüttelten wissend die Köpfe. Heiraten hätte er sollen, aber wirklich. Ein nettes Mädel hätte ihn zur Vernunft gebracht. War immer schon ein bisschen zu abseitig, als gut für ihn war. Ein Träumer. Das kommt davon, dass er Herrn Bilbos Neffe ist... und dass er Brandybock-Blut hat. Hat dafür gesorgt, dass er fortgewandert ist und zurückkam, ohne wirklich wieder da zu sein.

Rosie hatte das Geschwätz gehört, genau wie Sam. „Sie sollten das alles mal dem Tuk und Thain erzählen.“ grollte Sam. „Er erkennt wahres Gold, wenn er es sieht, genau wie ich. Ich möchte diesen Schandmäulern am liebsten sagen, dass Herr Frodo Dinge gesehen hat, die sich keiner von ihnen auch nur vorstellen kann, und dass er an Orten gewesen ist, die sie sich gar nicht erst vorstellen wollen. Und dann sag ich ihnen, dass er der beste und freundlichste Herr ist, den man sich nur wünschen kann, und dass ich und meine Rosie sehr glücklich sind in Beutelsend. Dass sollen sie sich mal in die Pfeife stopfen und rauchen!“

„Nicht jeder im Dorf ist so, Sam“, sagte Rosie. „und Herrn Frodos Sippe drüben in Bockland und ein paar von den Tuks scheinen es zu verstehen.“

„Es macht mir trotzdem Kummer.“ sagte Sam. „Alles, was ich mir für meinen Herrn wünsche, ist, dass er wieder heil wird.“

„Ich bin sicher, das wird er auch sein, Lieber.“ sagte Rosie. „Eines Tages. Uff!“

Sam schaute auf sie herunter.

„Frierst du, Liebchen?“ fragte er zärtlich. „Es ist kalt geworden, jetzt, wo es Nacht ist.“

„Uff“, sagte Rosie, „ja, das tu ich, aber das Baby strampelt herum. Autsch!“

„Nicht mehr lange jetzt.“ sagte Sam und half ihr behutsam auf die Füße. „Hier entlang, Mädel. Schön langsam jetzt.“

Sie gingen vorsichtig den Gartenweg entlang; Sam stützte Rosie.

„Oh, Baby, halt doch still!“ lachte Rosie. „Autsch... Sam, er strampelt so sehr herum!“

„Geduld, Baby Fro.“ sagte Sam zu Rosies gerundetem Bauch.

Die Nacht hatte sich über den weit entfernten Hügeln herabgesenkt. Es war halb sieben. Die Drossel sang immer noch, und der Abendstern, Eärendil, blinzelte nahe am Horizont.

Sam und Rosie gingen hinein. Sie fanden Frodo in der Küche von Beutelsend, damit beschäftigt, sich Rühreier zu machen. „Ich werde noch ein bisschen mehr schreiben.“ verkündete er. Sein Gesicht war gerötet und seine Augen wirkten hell. „Bist du sicher, Herr Frodo?“ fragte Sam zweifelnd. „Oh ja.“ sagte Frodo. „Ich habe gerade jetzt einen richtigen Schub neuer Kraft. Ich muss dieses Kapitel heute abend zu Ende bringen.“ Seine Augen strahlten... beinahe fiebrig, wie Rosie dachte. Aber er lächelte ihnen zu, als wäre alles in Ordnung.

„Schreib nicht die ganze Nacht, Herr.“ sagte Rosie. „Gönn’ dir ein bisschen Ruhe.“

„Das werde ich.“ sagte Frodo.

Um acht Uhr zogen sich Sam und Rosie ins Bett zurück. Rosie war sehr müde, und Sam musste am nächsten Tag mit den Lerchen aufstehen; er wollte sich am frühen Morgen wegen irgendeiner Angelegenheit unten auf der Kattun-Farm mit Rosies Vater treffen und würde nachmittags nach Beutelsend zurückkommen.

Das Kratzen von Frodos Federkiel kam aus dem Studierzimmer.

„Gute Nacht, Herr!“ rief Rosie.

„Gute Nacht, Sam... Rosie.“

Frodos Stimme klang vollkommen heiter.


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