Stern des Meeres (Star of the Sea)
von Diamond of Long Cleve, übersetzt von Cúthalion

Kapitel 3
Erinnerung an die Dunkelheit

Frodo schrieb bis Mitternacht.

Das Kapitel war beendet.

Cirith Ungol. Der Spinnenpass. Gollums Verrat. Das Erwachen im Turm, von Orks umgeben. Die Rettung durch Sam. Das Betreten Mordors. Um Mitternacht legte er seinen Federkiel auf den Schreibtisch nieder, langsam und sehr bewusst. Er atmete tief und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Die Hände zitterten.

Er hatte gedacht, alles niederzuschreiben würde das Gift herausziehen. Er hatte Rosie und Sam nicht angelogen. Er war nicht krank, nicht auf körperliche Weise. Kein Heiler in Hobbingen konnte das Leiden seiner Seele kurieren. Das, worunter er litt, war ein Übermaß an Erinnerungen, und ein Phantomschmerz, der nicht wirklich war. Die Erinnerungen kamen unerbittlich wie eine riesige, dunkle Welle, die sich näherte, um ihn zu verschlingen, und ob es auf lange Sicht hin half oder nicht half, sie niederzuschreiben, wusste er nicht.

Frodo stand von seinem Schreibtisch auf; er fühlte sich schwach und betäubt. Sorgfältig schloss er das Rote Buch und schob seine Papiere mit unsicherer Hand zusammen. Irgendwie gelang es ihm, sich auf den Weg den Korridor hinunter zu machen. Er konnte Rosies leise Atemzüge und Sams Schnarchen jenseits des Durchgangs hören, aus ihrem geräumigen Schlafzimmer auf der südöstlichen Seite von Beutelsend. Er stolperte weiter mit einem Nachtlicht den Korridor entlang.

Er fiel fast hinein in sein Zimmer und brach auf dem Bett zusammen, als die große, weiße Welle der Übelkeit ihn mit voller Macht erreichte und über ihn hinwegbrandete.

„Oh...“

Frodos Körper verkrampfte sich. Er stöhnte laut auf und hoffte verzweifelt, dass Sam und Rose es nicht hörten. Geräusche trugen weit in der Nacht.

Der 13. März 1421 war nun zum 14. März geworden, aber die Übelkeit war nicht abgeflaut. Sie hatte den ganzen Tag über ihre Zeit abgewartet und traf ihn umso härter in den frühen Morgenstunden, in denen man sich am meisten allein und verlassen fühlt.

Die erstickende Dunkelheit, der Brechreiz erregende Gestank, die lähmende Furcht... unbarmherzig kamen die Erinnerungen und er konnte nicht hoffen, ihnen zu entfliehen. Seine Zähne knirschten aufeinander und seine Hände krallten sich mit scharf gezeichneten Knöcheln in das Bettlaken.

„Aiya Eärendil elenion ancalima!“ stöhnte er, aber das Gebet in der Sprache der Hochelben tat nichts dazu, den Schmerz zu lindern. Der Phantomschmerz – der Schmerz, der nicht wirklich war – war erwacht. Die alte Wunde in seinem Nacken, lange verheilt und nicht mehr als eine Narbe, eine bloße Anhebung in seinem Fleisch, pochte, als würde das Spinnengift erneut darin entleert. „Bitte...“ flüsterte er in das Kissen. „... heil Dir, Eärendil, hellster der Sterne... bitte...“ Es würde ihm nichts nützen, Eärendil oder Elbereth anzurufen. Die dunkle Woge der Erinnerung kam näher, und alles, was ihm blieb, war, sich darauf treiben zu lassen wie ein Schiff, hin- und hergeworfen auf sturmgepeitschten Wellen.

Unaufhörlich bohrte er seinen Kopf in das Kissen. Seine Locken waren schweißnass, er keuchte und sein Körper zitterte heftig. Er stürzte hinein in die Dunkelheit und es gab nichts, was er tun konnte, um das zu verhindern.

*****

Er war elend und benommen aufgewacht, nur, um sich von ihnen eingekreist zu finden.

Ihr wilder Tiergestank... der Geruch nach Eisen und dreckverkrustetem Leder, der Geruch nach Blut, der Geruch nach Misstrauen und Brutalität.

Sie hatten ihn auf die Füße gehievt, fiebrig wie er war von dem Spinnengift. Sie stießen und stachen ihn mit ihren harten Fingern.

Ihre Stimmen waren grob, sie benutzen die Schwarze Sprache. „Wer is' dieser kleine Scheißer?“ – „He! Wir haben strikte Order, nich’ mal ´nen Finger an ihn zu legen.“ – „Also, das is’ ne verfluchte Schande. Er sieht aus, als gäb’s mit ihm `ne Menge Spaß.“ Heulendes Gelächter. „Halt die Schnauze!“ Jemand bekam von einem Höherrangigen einen Hieb versetzt. Der selbe Jemand fluchte und wischte sich Blut von der Wange.

Er hatte die Augen geschlossen und seinen Kopf nach hinten an die Wand gelehnt. Sam, Sam, oh, wo war Sam? Er durfte Sam nicht erwähnen. Unter gar keinen Umständen durfte er Sam erwähnen. Beinahe ohne jedes Nachdenken hoben sich seine Hände wie von selbst in einer beschützenden Geste zu seiner Kehle... bevor eine scharfe Erinnerung durch sein Gehirn stach, ihn aufkeuchen und seine Hände auf der Stelle senken ließ. Nein, nein. Um der Liebe Elbereths willen. Sie durften nicht entdecken, was er bei sich trug. Sie durften den Ring nicht finden!

„Zieht ihn aus, Jungs. Das sind die Befehle. Und wer ihn dabei versaut, der is’ tot. Alles klar?“

Es war ein Alptraum. Bald würde er aufwachen. Sam würde rufen: „Wach auf, Herr Frodo“, und er würde seine Hand spüren, die sanft über seine Stirn glitt und die Locken zurückstrich. Sam. Sam, wo bist du? Bist du tot?

Harte Klauen zerrten an seinen Kleidern und zerrten sie herunter. Jemand schleppte den Elbenmantel weg – dann die Jacke, die Weste, das Mithrilhemd, die Hosen, alles. Er wehrte sich aus Furcht und Raserei, aber hauptsächlich aus Furcht. Die Orks heulten und johlten, während er sich wie ein Wahnsinniger zur Wehr setzte, sich wand und krümmte gegen ihre brutal klammernden Hände. Aber es schien immer mehr zu geben von diesen Kreaturen; ihre zahllosen Krallen schwärmten über seinen Körper aus und zwangen ihn, sich zu unterwerfen. Ich träume... ich muss aufwachen... bitte...

Sein Kopf wurde hart nach hinten gegen die Wand geschmettert, und der scharfe, krachende Schmerz in seinem Schädel ließ ihn aufschreien. Dann umwölkte das dunkle Fieber von dem Gift wieder seinen Geist und er spürte alles nur noch verschwommen durch einen heißen Nebel aus Schmerz und Verwirrung. Er sank hilflos in den Klammergriff grausamer Klauen und begriff betäubt, dass die Orks ihm auch noch den letzten Fetzen Kleidung vom Körper gerissen hatten. Er war nackt, zur Schau gestellt, allein... er trieb dahin auf einer eisigen See aus Schrecken und Chaos.

Von irgendwoher flutete kalte Luft über sein bleiches Fleisch. Sein Kopf rollte nach vorne, als der Fieberwahn wieder die Kontrolle übernahm. Ein schnarrendes Gelächter. „He, komm schon, wach auf! Wir wollen dich hübsch munter haben für die Hauptmänner!“ Eine harte Hand packte sein Kinn und zwang seinen Kopf nach hinten. Plötzlich bedeckte etwas seinen Mund; eine abscheulich schmeckende, brennende Flüssigkeit wurde seine Kehle hinuntergegossen. Er spuckte und würgte. Ein rasselndes, metallisch klingendes Lachen. Sie drängten sich alle um ihn herum, höhnend und spottend...

Und manche von ihnen stritten sich auch. Er konnte sich nicht erinnern, welcher Ork es gewesen war, der sich als erster das Mithrilhemd grob über den Kopf zerrte und sich dabei in den feinen Ringen ein paar Krallen abbrach... er erinnerte sich nur, dass seine sanft glitzernde Schönheit von Klaue zu fauler Klaue weitergereicht wurde, und das begleitende Gekreisch und Gefluche. „Gib mir das!“ – „Zieht Leine! Das geht an Schagrat, ihr dämlichen Maden! Er ist der, der im Dienst ist, also hört auf, rumzuspinnen!“ Eine andere Stimme, tief und schnarrend. „Ja, und wie ich verdammt noch mal im Dienst bin, und wenn einer von euch erbärmlichen, kleinen Ferkeln mir jetzt nicht auf der Stelle das hübsche Hemd gibt, schlitze ich euch die erbärmliche Kehle auf, ich schwör’s bei dem Dunklen höchstselbst, so war Er mir helfe. Her damit. JETZT!“

Ja, Schagrat, der Hauptmann des Turmes von Cirith Ungol, war im Dienst gewesen.

„Wo kommst du her?“ zischte er Frodo an.

Fragen, Fragen, Fragen.

„Wer bist du? Wieso bist du hier? Wer bist du?“

Dolche und Augen, Dolche und Augen.

Höhnische Augen, die sich in ihn hineinbrannten. Ein Dolch, gegen seine Kehle gepresst. Die Messerspitze, die spöttisch eine Spur über die ganze Länge seines nackten Körpers zog. Er war zusammengeschaudert, hatte die Augen geschlossen und sich selbst gezwungen, wach zu bleiben. Er konnte dies überleben. Er hatte keine Wahl. Er musste dies überleben, musste wach bleiben, durfte nichts offenbaren. Er durfte Sam nicht erwähnen. Süße Varda, konnte Sam noch am Leben sein? Liebe Elbereth, er durfte den Ring nicht erwähnen...

Der Ring.

Der unglaubliche Schock riss ihn vollständig aus dem halben Fiebertraum. Der Ring hing nicht länger um seinen Hals. Wie konnte das auch sein? Sie hatten ihn ganz und gar ausgezogen. Er starrte wild vor sich hin, mit hämmerndem Herzen, während sein Entsetzen ihn blind machte für alles andere. Er sah nicht einmal das hässliche, hämische Lächeln der Orkhauptleute und die Grausamkeit in ihren Augen. Der fürchterliche Verlust des Ringes war viel einschneidender als die Tatsache, diesen niederträchtigen Kreaturen nackt und hilflos ausgeliefert zu sein. Er konnte sich nicht erinnern, dass sie Ihn von seinem Hals gerissen hatten, als sie ihn auszogen. Alles andere hatten sie heruntergerissen, jeden einzelnen Überrest seiner Kleidung; seine von der Reise mitgenommene Jacke und seine Hosen, das Mithrilhemd, seine Unterkleidung, Sams Schwert in seiner Scheide, der Elbenmantel... wann? Liebe Herrin der Sterne, wann? Sie mussten Ihn genommen haben, während er noch bewusstlos war, als sie ihn im Tunnel fanden und an diesen höllischen Ort trugen. Er vergrub seinen Kopf in den Händen, unfähig, seine Qual zu unterdrücken. Die Ork-Hauptleute grollten und einer von ihnen schlug ihm brutal über den Mund und riß seine Lippe auf. „Wir reden mit dir!“

Es kümmerte ihn nicht. Wenn der Ring fort war, dann war Sam tot. Sie hatten den Ring zu Sauron gebracht und die ganze Welt wurde von der Dunkelheit verschlungen.

Alles, wonach er sich sehnte, war der Tod. Aber er wusste, sie würden ihm nicht erlauben, schnell zu sterben.


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