Sub Luna
von Cúthalion


Kapitel 4:
Tagesanbruch

Es gibt Fragen, die stellt man fast nie bei Tageslicht; sie brauchen das geheimnisvolle Schweigen der Nacht, die Seifenblase zwischen Traum und Wirklichkeit. Kurz vor der Morgendämmerung öffnet sie die Augen; die Fenster sind tiefgraue Rechtecke in der Dunkelheit, erhellt von den bleichen Lichtfingern der Autoscheinwerfer.

Sie hebt den Kopf und spürt seine Finger, die ihr zerzaustes Haar glatt streichen. Seine Stimme ist ein warmes Flüstern an ihrer Wange.

„Hast du jemals versucht, dich in ein Tier zu verwandeln?“

Sie stützt sich auf einen Ellbogen und starrt ihn an. Seine Augen schimmern schwach und sie fühlt seinen stetigen Herzschlag unter ihrer Hand.

„Hast du?“

Langsam schüttelt sie den Kopf. „Nein, niemals,“ sagt sie ruhig. „Und ich weiß nur von zwei Metamorphmagi, die jemals die Gestalt eines Tieres angenommen haben. Einer von ihnen, Aurora Bloom, lebte im frühen 17. Jahrhundert und verwandelte sich in ein Schaf… eine Laune vielleicht, aber sie war wohlbekannt als eine ziemlich exzentrische, alte Dame. Sie fanden sie drei Tage später; es sah aus, als wäre sie von einem Wolf zerrissen worden.“

Der letzte Satz der alten, allzu vertrauten Geschichte rutscht ihr heraus, bevor sie es verhindern kann. Für eine Sekunde stolpert der Herzschlag unter ihren Fingern, dann findet er zurück zu seinem gemessenen Rhythmus.

„Kein Werwolf, nehme ich an.“ Sein gelassener Tonfall ist beruhigend, aber sie schluckt trotzdem, kalt vor Entsetzen über ihre eigene Gedankenlosigkeit.

„Nein, es war ein verwilderter Schäferhund,“ bringt sie endlich heraus, und ihre Stimme zittert immer noch ganz leicht. „Tatsächlich war es der Schäferhund ihres Sohnes, Ambrose Bloom. Der arme Mann hat sich niemals wirklich von dem Schock erholt.“

„Und der zweite?“

„Eine Nachfahrin von Aurora Bloom, Ambroses Enkeltochter Araminta. Sie machte nicht denselben Fehler wie Lady Aurora. Sie nahm mehrere Male die Gestalt eines Adlers an und hatte scheinbar keine Probleme, in ihre menschliche Gestalt zurückzufinden. Araminta wurde sehr alt, aber in ihren letzten Lebensjahren fing sie einen Dauerstreit mit ihrem nächsten Nachbarn an, offenbar irgend so ein kleiner Landjunker und mit den Malfoys verwandt… von einem weit entfernten Ast des Familienstammbaumes wahrscheinlich, weil die Quellen ziemlich ungenau sind, wenn es um diese spezielle Einzelheit geht.“

Remus setzt sich im Bett auf, und in der nächsten Sekunde brennen die Kerzen in dem Leuchter auf dem Nachttisch. Es ist eine kleine Geste mit gespreizten Fingern und ganz ohne Zauberstab, eine Fähigkeit, die nie aufhört, sie zu verblüffen, seit sie ihn das zum allerersten Mal hat tun sehen. Warme Helligkeit breitet sich um sie aus, vergoldet den Quilt und seine nackte Brust.

„Was geschah dann?“

„An einem Morgen im Frühling frühstückte sie mit ihrem Sohn und verließ dann das Haus für einen Spaziergang. Eine halbe Stunde später sahen die Leute, wie ein großer Adler über dem Dorf kreiste und dann über die Baumwipfel des nahen Waldes davonsegelte. Sie kam an diesem Tag nicht nach Hause, aber am nächsten Mittag fand der Wildhüter ihres Sohnes sie tot auf einer Lichtung. Jeder Knochen in ihrem Leib war zerschmettert wie von einem tiefen Sturz, und ein Pfeil ragte aus ihrer Brust.“

Seine Augen sind ruhig und nachdenklich, mit einem Funken schwarzer Ironie.

„Aha. Also hat der kleine Malfoy-Junker sich entschieden, seine nervtötende Gegnerin mit Pfeil und Bogen loszuwerden?“

„Scheint so, ja.“ Ein kleines Grinsen hebt ihre Mundwinkel. “Obwohl es genauso gut ein Mitglied der Black-Dynastie gewesen sein könnte, es gab immerhin genügend reinblütige Heiraten zwischen beiden Familien. Ich wäre nicht überrascht… Sirius war das weiße Schaf der Familie, stimmt’s?“

„Sehr wahr.“ Sein Blick irrt ab, und für einen niederschmetternden Moment erhebt sich jener schicksalhafte Nachmittag im Ministerium für Zauberei zwischen ihnen wie eine Mauer. Schreie, grüne Lichtblitze, die über ihren Kopf hinwegzischen, und dann das gnadenlose Gesicht ihrer Tante, das in ihr Blickfeld schwimmt… Sekunden, ehe ein scharfes, rasches Zucken von Bellatrix’ Zauberstab sie erst in brüllenden Schmerz und dann ins Vergessen fallen lässt.

Tonks schaudert zusammen, und mit einer schnellen, fließenden Bewegung beugt er sich vor und zieht sie an sich.

„Denk nicht daran,“ murmelt er in ihr Haar. „Wir haben beide viele Dinge, die wir hinter uns lassen müssen; wenn wir das nicht tun, könnten unsere Träume für den Rest unseres Lebens düster bleiben.“ Seine Lippen berühren ihre Stirn. „Und heute Nacht möchte ich, dass sie so hell sind wie nur möglich.“

Sie vergräbt ihr Gesicht an seiner Brust und sucht instinktiv nach dem beruhigenden Rhythmus seines Herzschlages; sie kann das Lächeln, das sie in seiner Stimme hört, noch nicht erwidern. Nach einer Weile des Schweigens sagt er wieder etwas.

„Welchen Fehler hat Lady Aurora gemacht?“

„Welchen… oh. Sie… weißt du, sie hat sich in Beute verwandelt.“ Sie zögert, nicht ganz sicher, wie sie ihm etwas erklären soll, das ihr selbst merkwürdig genug vorkommt. „Wenn du dich in ein Tier weiter unten in der Nahrungskette verwandelst, dann riskierst du, gefressen zu werden… vor allem, wenn es dir nicht gelingt, die Verbindung zu dem Ort tief in dir aufrecht zu erhalten, der immer menschlich bleibt. Für einen Metamorphmagus ist die Verwandlung in jemand anderen wie ein Wasserfall von Bildern, der durch seinen Geist und seine Seele strömt wie ein Strudel. Es kann überwältigend werden, sogar gefährlich, wenn man nicht daran gewöhnt ist… oder wenn man sich fürchtet.“

„Ich verstehe.“ Sein Seufzer bewegt ihr Haar, und er verfällt wieder in Schweigen. Tonks ist allerdings nicht bereit, es dabei zu belassen. Jetzt ist sie an der Reihe damit, eine der Fragen zu stellen, die man nie bei Tageslicht auszusprechen wagt.

„Noch zwei Wochen und wir haben Vollmond.“ sagt sie, ihre Stimme klar und dünn. „Lässt du mich dann bei dir bleiben?“

Der Körper in ihren Armen erstarrt, aber sein Herz setzt keinen Schlag aus – als ob er schon eine ganze Weile auf diese Frage gewartet und sich bereits dagegen gestählt hätte.

„Nein.“ Sein Ton ist sanft, aber fest. “Und du weißt, warum.”

„Nein, tu ich nicht.“ Sie fühlt sich wie eine dumme Schülerin in ihrem ersten Jahr, die nach einem besonders garstigen Streich vor dem Büro des Schulleiters wartet, aber sie kann es nicht ändern. „Tu ich nicht.“

„Du erinnerst dich doch noch daran, dass Severus den Wolfsbann-Trank immer für mich gebraut hat, nicht wahr?“ sagt er geduldig. „Und ich wage zu bezweifeln, dass er das ausgerechnet jetzt für mich tun würde, wenn man die Umstände bedenkt. Ich müsste ihn erst finden, und er würde mich höchstwahrscheinlich mit einem der unverzeihlichen Flüche begrüßen.“

„Aber…“

„Nein.“ Jetzt hat seine Stimme einen leicht angestrengten Unterton. “Niemand sollte sich in meiner Nähe befinden, während ich… während ich verwandelt bin. Ich würde dich in Gefahr bringen. Beim letzten Mal, als ich mich in einen Werwolf verwandelt habe und dabei nicht allein war, hätte ich Harry und Hermine beinahe in Stücke gerissen. Und da war der Trank verfügbar… diesmal ist er es nicht.“

„Und wenn du den Trank hättest… würdest du mich dann bei dir bleiben lassen?“

„Nein.“ Er schüttelt den Kopf und seine Hände beschreiben sanfte, massierende Kreise auf ihren verkrampften Schultern. „Nein, Liebstes, das würde ich nicht.“

Die Gedanken überschlagen sich in ihrem Kopf und formen langsam ein kühnes Bild, das dafür sorgt, dass sich ihr Atem beschleunigt. Es könnte funktionieren – vielleicht… Aber es würde bedeuten, dass sie…  Tonks schluckt, schiebt die plötzliche, eisige Panik beiseite und entspannt jeden einzelnen Körperteil, als würde sie resigniert aufgeben. Sie wird sich ihrer Furcht nicht einschüchtern lassen. Hier ist alles, wonach sie sich jemals gesehnt, alles, was sie sich jemals erträumt hat. Er ist das Risiko tausendfach wert.

„Dann habe ich wohl Pech gehabt,“ wispert sie gegen seine warme Haut. „Reg dich nicht auf… ich musste es einfach versuchen.“

So leicht lässt er sich nicht hinters Licht führen. Er hebt den Kopf und betrachtet sie in der wachsenden Helligkeit des stillen Zimmers. „Was denn… keine hysterischen Tränen? Kein verzweifeltes Betteln? Keine Drohung, jeden Fluch, den du jemals gekannt hast, an mir auszuprobieren?”

Zu ihrer Überraschung verspürt sie den irritierenden Drang zu kichern. „Natürlich nicht. Ich fürchte, du verwechselst mich mit Bellatrix.“

„Aber ganz und gar nicht.“ Gelächter vibriert in seiner Brust, und plötzlich findet sie sich selbst auf dem Rücken wieder, niedergehalten von sehnigen Armen und einem geschmeidigen, nackten Körper. „Und ich werde es dir sofort beweisen, meine liebliche Hexe.“ Seine Lippen streifen über ihren Mund. „Oh… und keine Angst, wir werden es schaffen, im Fuchsbau zu sein, wenn Bill und Fleur heiraten. Sie haben sich auf ein Datum zwei Wochen nach dem nächsten Vollmond geeinigt. Arthur und Molly wollten ganz einfach sicher sein, dass Fleur nicht allzu… überrascht ist über das, was sie in ihrem Ehebett vorfindet.“

„Ihr unterschätzt sie immer noch, ihr alle miteinander.“ flüstert Tonks, und ihre Hände verfolgen eine wissbegierige, erregende Spur zu seinen Hinterbacken hinunter. „Sie wäre nicht überrascht…. und enttäuscht ganz sicher auch nicht.“

Ihr Mund lädt ihn ein, jeder Gedanke wird fortgespült von einer Woge heftiger, trunkener Gefühle. Aber sie wird trotzdem ihre Pläne schmieden… später.


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