Thanksgiving
von Cúthalion

Drei Tage lang hatte es geregnet. Die Wege vor dem Institut entlang zu gehen fühlte sich an wie ein merkwürdiges Hindernisrennen; wenn man den tiefen Pfützen nicht sorgsam auswich, dann schwappte einem das Wasser in die Stiefel und durchweichte einem die Socken. Storms letzte Freilandrosen verstreuten ihre Blütenblätter auf dem Rasen. Sie hatten die erste, dünne Schneeschicht in der ersten Frostnacht überstanden, aber die nächste würden sie nicht überleben.

Genau wie ich.

Was nicht heißen sollte, dass ich demnächst erfrieren würde. Natürlich nicht. Ich konnte einfach nicht schlafen. Und nachdem ich mich mehr als zwei Wochen in meinem Bett im College hin- und her geworfen hatte, waren meine Beine so schwer wie Blei und meine Hände derart ungeschickt, dass Bobby jedes Mal einen schützenden Satz in Richtung Kaffeemaschine machte, wenn ich am Samstagmorgen hinunter in die Küche kam. Zwei zerbrochene Kaffeekannen wären genug, meinte er.

Es fing alles in der Nacht an, als das Päckchen kam. Nachdem ich das Lederband ein paar sehr ungemütliche Tage lang mit mir herum getragen hatte, bewahrte ich es jetzt in der Schublade meines Nachtschränkchens auf. Ich wusste zwar, dass es mir kaum ein Loch in die Tasche brennen würde, aber es fühlte sich ganz sicher so an.

Wieso ich es nicht trug? Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich keine Ahnung hatte, aber das wäre eine Lüge. Spät in der Nacht, wenn meine Augen brannten, wenn mein Geist schmerzhaft klar war und von einer Vielzahl dunkler Vorahnungen widerhallte, dann wusste ich es.

Ich wusste es.

Der tiefe Frieden, den ich empfunden hatte, als ich Logans Päckchen öffnete, war spurlos verschwunden. Während dieser langen, schlaflosen Stunden verfluchte ich meine eigene Unsicherheit, aber ich konnte es nicht ändern. Außer diesem Lederband gab es so beängstigend wenig, das mich an ein Wunder glauben ließ, von dem ich nie gedacht hatte, dass es jemals passieren würde. Jedenfalls nicht mir. Ein Kuss, ein Abend in der Küche und meine Hand in seiner, während ich ihm die uralte Geschichte von einem übers Ohr gehauenen Riesen erzählte... und der Papierstreifen mit Logans Worten darauf, den ich unten in dem Päckchen gefunden hatte. Schick es zurück, wenn du es nicht willst. Aber wenn doch, dann bringe ich den dritten Apfel an Thanksgiving mit. Sie gehören zusammen.

Trotzdem, man sollte meinen, dass es genug war. Es gab sehr wenige Menschen, für die ich so viel empfand wie für ihn, und ich wusste, er tat es auch, und ich hätte wissen müssen, dass es genug war, um Himmels Willen.

Ich erinnerte mich ziemlich lebhaft daran, wie es gewesen war, ihn in meinem Kopf zu haben, nach diesem Unfall in seinem Schlafzimmer, und - noch viel stärker - nach der Statue. Ich kam leicht mit dem plötzlichen Durst auf Bier und der Lust auf Zigarren klar - ich konnte sogar Witze darüber reißen - und meine Freunde vergaben mir, dass ich praktisch jeden anknurrte, der mir im Weg stand. Es gab Dinge, mit denen ich viel weniger leicht klar kam. Bestimmte Bilder, das Gefühl von nackter Haut unter Händen, die meine waren und gleichzeitig nicht meine, und ein wilder, ungehemmter Hunger, der mir den Atem nahm, während er durch meinen Geist raste wie blendend helles Feuer... und der mich bis zu den Haarwurzeln erröten ließ, während ich in allen Einzelheiten mitbekam, wie er gestillt worden war.

Aber diese Einzelheiten hätten mir wenigstens helfen sollen, eine Sache zu begreifen: die Tatsache, dass Logan mir das Lederband geschickt hatte, musste etwas bedeuten, viel mehr als bloß irgendein flüchtiges Interesse. Es sah aus wie ein Versprechen... so stark und bindend wie das, das er mir vor Jahren gemacht hatte, in diesem Zug. Komm schon ... ich pass auf dich auf.

Und doch, das hier war etwas anderes. Es war mehr... oder nicht?

Einen Kuss.

Es war jetzt mehr als ein Jahr her, dass ich das Heilmittel genommen hatte, und ich konnte die "echten" Küsse, die ich bekommen hatte, immer noch an einer Hand abzählen. Da war den Kuss von Bobby, als ich zurückkam und ihn mit bloßen Fingern berührte, und vielleicht ein halbes Dutzend andere danach - jeder davon so keusch und sanft wie der erste. Heutzutage küssten wir uns nicht mehr... natürlich nicht. Es war Bobby gewesen, der mein Herz gelesen hatte, als ich nicht wagte, das zu tun, und seine Großzügigkeit hätte mich sicher beschämt – bloß, dass mir auffiel, wie er Kitty anschaute, wenn er glaubte, dass ich es nicht sah. Eines Tages würden sie ein unwahrscheinlich süßes Paar abgeben, und ganz und gar mit meinem Segen.

Einen Kuss.

Der Kuss, den ich Logan gegeben hatte, damals an diesem Morgen im August... der eine, der zählte, der eine, der meine Welt auf den Kopf stellte. Dieser Kuss öffnete eine Tür, die den größten Teil von vier Jahren geschlossen und versiegelt gewesen war. Sie führte von der Freundschaft zur Liebe, und jetzt hatte ich Angst, über die Schwelle zu treten, weil ich mich so schrecklich davor fürchtete, dass ich die Anzeichen falsch verstand.

Gott, ich war so ein jämmerlicher Waschlappen.

Drei Wochen bis Thanksgiving. Drei Wochen noch, bis ich wusste, ob die Tür tatsächlich offen stand... und ob Logan auf der anderen Seite wartete.

ooOoo

Nach fast zwanzig Tagen Schlaflosigkeit hatte ich die absolute Grenze dessen erreicht, was ich aushalten konnte. Meine Lehrer fingen an, sich über mein allgemeines Desinteresse und meine glasig starrenden Blicke zu wundern, und ich hatte unglaubliches Glück, dass keiner von ihnen irgendwelche Aufsätze oder Prüfungen auf den Stundenplan setzte. Ich hatte jetzt verschiedene Möglichkeiten. Ich konnte am nächsten Wochenende den Giftschrank des Medizinlabors plündern und ein paar von den kleinen Pillen darin dazu benutzen, mich Nacht für Nacht in die Welt der Träume zu schießen; aber ich fühlte mich nicht wirklich wohl dabei, Drogen zu nehmen. Ich konnte hingehen und endlich ein bisschen Dampf ablassen, indem ich Jubes von meinem Dilemma erzählte - sie würde zweifellos entzückt sein. Aber das würde bedeuten, dass ich ihr auch von dem Kuss erzählen musste... und ich hatte niemandem davon erzählt, nicht einmal Bobby. Sie würde mein Geheimnis für sich behalten, auch wenn es das saftigste Stückchen Klatsch war, das ihr seit Monaten untergekommen war. Sie war eine echte Freundin und ich wusste, dass ich ihr trauen konnte... und trotzdem konnte ich einfach nicht darüber reden.

Oder - die letzte Möglichkeit - ich konnte Logan einen Brief schreiben.

Ich hatte es versucht, Gott weiß, dass ich es versucht hatte. Ich hatte immer noch die Adresse von dem Postfach in Alberta, und der Papierkorb war mit einem ganzen Haufen missglückter und in Fetzen gerissener Versuche voll gestopft. An einem dieser Tage würde ich den Korb hinaus in die Wälder tragen und ein Freudenfeuer anzünden müssen, bevor irgendjemand etwas von meiner heimlichen Quälerei mitbekam. Was um Himmels Willen fragte man jemanden in so einem Brief? Sag mir, ob das Lederband bedeutet, was ich glaube, das es bedeutet. Sag mir, dass ich mich nicht irre, und dass du nicht "nur" als mein bester Freund nach Hause kommst. Sag mir, dass ich kein Idiot bin. Sag mir, dass du... dass du...

Na bitte. Ich konnte es nicht einmal hinschreiben.

Wieder in das Institut zurückzukehren half nicht wirklich. In meinem eigenen Bett schlief ich nicht besser als im College, und während der zweiten Samstagnacht ohne jedes bisschen Ruhe beschloss ich, mich hinunter in die Küche zu schleichen. Dieses Mal war es Kakao, aber ich hatte schon jedes Hausmittelchen gegen Schlaflosigeit ausprobiert, das mir einfiel. Ein halbes Dutzend von Storms Kräutertees, aus dem Schrank stibitzt, indischen Chai, heiße Milch mit Honig, heiße Milch mit Brandy, sogar Hot Toddy. Der letztere hatte mich halb betrunken gemacht und mir war schlecht geworden... aber wach war ich immer noch.

Ich wanderte durch die leeren Korridore, die Hände um den warmen Becher gelegt, und plötzlich fand ich mich vor einer Tür wieder, die seit Jahren meist geschlossen geblieben war. Storm benutzte Xaviers Studierzimmer nicht, obwohl sie die Schule praktisch seit seinem Tod leitete. Sie benutzte ihr eigenes Büro, und vielleicht war es immer noch zu viel für sie, das in Besitz zu nehmen, was ihm gehört hatte.

Ich öffnete die Tür - verriegelt war sie nicht - und wurde von dem vertrauten Duft von Ledersesseln und Büchern begrüßt. Kein Geruch nach Staub oder Schimmel; der Raum war immer gut gelüftet und makellos sauber, als ob irgendein Wunder seinen Besitzer eines Tages wieder zurückbringen könnte.

Man hatte den Rollstuhl hinter den Schreibtisch gestellt. Für ein paar Tage nach seiner Beerdigung hatte er noch mitten im Zimmer gestanden, und ein starkes Bild schoss mir durch den Kopf; wie ich davor auf dem Boden saß, den gepackten Seesack zwischen den Knien. Ich hatte gerade Bobby und Kitty auf dem gefrorenen Brunnen gesehen, und ich war tödlich entschlossen, fortzugehen. Ich würde verschwinden und das Heilmittel nehmen, und zum Teufel mit den Konsequenzen... und trotzdem blieb ich noch eine halbe Stunde in dem stillen Studierzimmer, den Kopf gegen die Armstütze des Rollstuhls gelehnt. Ich sprach mit dem Mann, der nicht länger hier war, ich sagte ihm, dass ich am Ende meiner Kraft angekommen war. Es war, als würde ich um seinen Segen bitten, und irgendwie hatte ich das Gefühl. dass ich ihn bekam, und dass er verstand.

Das Klick! des Lichtschalters war sehr laut in der Stille, und sanfte Helligkeit breitete sich unter dem grünen Glasschirm über der Mahagoni-Tischplatte aus. Da waren ein paar Silberrahmen mit Photographien; eine zeigte Xavier, noch auf zwei gesunden Beinen, und einen anderen Mann neben ihm, sein Haar dunkel und unberührt vom Frost des Alters. Doch seine Augen waren unfassbar alt und ohne jede Illusion. Erik Lehnsherr.

Es gab noch eine: Scott und Jean, Seite an Seite im Sonnenschein an einem hellen Frühlingstag. Mit jähem Schrecken begriff ich, dass sie buchstäblich auf ihren Gräbern standen... aber hier waren sie noch am Leben, jung und zuversichtlich und ganz offensichtlich sehr ineinander verliebt. Sie sahen so wunderschön aus.

"Tut mir Leid..." flüsterte ich, ohne dass ich wirklich wusste, wofür ich mich eigentlich entschuldigte, und bei wem. Oder vielleicht wusste ich es doch... vielleicht war es Scott, der meine Entschuldigung verdient hatte. Er hatte immer ein Lächeln für mich gehabt, auch dann, als der Rest der Schüler mich mit einer unbehaglichen Mischung aus Faszination und Furcht betrachtete. Und doch hatte es Zeiten gegeben, als ich dachte, er sei schwach, wenn es für Jeans Gedanken so einfach gewesen war, sich aus dem sicheren Hafen seiner Liebe davon zu stehlen. Jean... die mich nach der Nacht in der Maschine mehr als einmal aus meinen fürchterlichen Alpträumen heraus gelockt hatte. Ja, ich musste mich wohl ganz sicher auch bei Jean entschuldigen, die ich trotz all dem gehasst hatte, entschlossen, sie zu verdammen, ohne Rücksicht auf die Tatsachen.

Und die Tatsachen lagen vor mir, auf diesem Photo, in den Gesichtern des gut aussehenden jungen Mannes und der hübschen jungen Frau mit den dunklen, freundlichen Augen. Phoenix war nie die Schuld von Jean gewesen, nicht mehr als der tödliche Fluch meiner Haut meine eigene Schuld gewesen war. Es war nichts anderes als unser Geburtsmal, und in ihrem Fall hatte es sie alles gekostet... den Mann, den sie liebte, von ihren eigenen Händen getötet, ihren Verstand, ihren Mentor, und am Ende ihr Leben. Wütend auf sie zu sein, weil sie sich zu Logan hingezogen fühlte... erst jetzt, in diesem stillen Raum, begriff ich endlich, wie kindisch meine schmollende Eifersucht gewesen war, wie klein und lächerlich im Licht dessen, was sie verloren hatten. Alles, was von Jean und Scott blieb, waren die Gedenksteine draußen auf dem Rasen... während ich noch am Leben war, frei, ein neues Ziel zu finden, frei zu hoffen.

"Tut mir Leid," flüsterte ich noch einmal. "Ich vermisse euch, alle beide." Ich stellte den Bilderrahmen vorsichtig auf den Schreibtisch zurück, nahm meinen Becher und trank den Rest des lauwarmen Kakaos aus. Gegenüber von dem Schreibtisch stand ein riesiges Ledersofa, und über der Rückenlehne hing eine zusammengefaltete, karierte Decke. Ich setzte mich hin und berührte die Wolle; sie fühlte sich unter meiner Hand weich und angenehm warm an. Als ich zog, kam die Decke herunter und legte sich wie die Umarmung eines Freundes um meine Schultern.

Ich schloss die Augen.

Hier in dieser Zuflucht konnte ich mir fast einbilden, dass Xavier noch am Leben war, dass er mich von der anderen Seite des Schreibtisches aus anlächelte, dass er mir seine Unterstützung anbot, meine wirren Gedanken entgegen nahm und sie mit seinem analytischen, brillanten Verstand auseinander sortierte. Ich konnte glauben, dass er noch immer da war, dass er mir versprach, es würde immer die Chance für ein glückliches Ende geben, während er mir die Geschichte von dem Riesen erzählte, der die Erde auf seinem Rücken trug...

"Gute Nacht, Professor," murmelte ich; ich rutschte aus meiner sitzenden Lage nach unten und rollte mich auf dem Sofa zusammen wie ein erschöpftes Kind. Umgeben von den beruhigenden Düften des Studierzimmers spürte ich, wie sich meine Glieder entspannten, und mit ihnen mein ängstliches Herz. Und dann - endlich - schlief ich ein.

ooOoo

Die zweite Woche war vorbei, die dritte ging vorüber, die vierte fing an und am Mittwoch kam ich zum Thanksgiving nach Hause. Das gesamte Institut war von dem üppigen Aroma von Kürbistörtchen und Zimtgebäck erfüllt. Kitty hatte seit Tagen in der Küche das Szepter geschwungen, bis über die Ellbogen in Walnuss-Käsekuchen, glasiertem Schinken und grünem Bohnengemüse. Und jetzt, auf der Zielgerade, weniger als vierundzwanzig Stunden, bevor das große Festessen für mehr als vierzig Leute anfangen sollte, wurde ich von Jubes nach Westchester mitgeschleppt, um ganz dringend und in letzter Minute Cranberries in Dosen zu kaufen.

Die Regale in dem Walmart vor Ort waren abgegrast, aber wir fanden einen kleinen Lebensmittelladen, wo die Besitzerin, eine nette, sehr gesprächige, alte Dame, noch immer ein halbes Dutzend Dosen auf Lager hatte. Nach fünfzehn Minuten schamloser Schmeichelei wurde Jubes zur Enkeltochter ehrenhalber erklärt, und wir verließen den Laden im Triumph.

Zurück ins Institut zu kommen wurde zu einer Herausforderung; den meisten Tag über war Schnee gefallen. Die Bundesstraße war geräumt, aber die kleineren Straßen wurden von hohen Mauern aus gefrorenem Weiß eingefasst. Der Asphalt war von einer dünnen Eisschicht überzogen, und ich war dankbar dafür, dass der alte, aber noch immer stabile Jeep, den wir benutzten, einen Vierradantrieb hatte. Jubes lenkte ihn mit entspanntem Selbstvertrauen; ich lehnte mich in dem abgewetzten Sitz zurück und versuchte mit aller Macht, nicht daran zu denken, wie Logan wohl auf diesem verflixten Motorrad nach Hause kommen wollte.

"Du darfst mich loben und preisen," bemerkte Jubes fröhlich. "Ich hab das Thanksgiving-Essen gerettet, oder?"

"Hast du nicht." Ich grinste sie an. "Kitty hat genügend frisches Cranberry-Chutney gemacht, um eine Armee zu füttern; dass wir Nachschub in Dosen besorgen mussten, war nichts als Panik. Obwohl, ich muss zugeben, dass du bei dieser alten Dame ganze Arbeit geleistet hast; du könntest einem Eskimo jederzeit einen Kühlschrank verkaufen."

"Und du könntest viel mehr reden, als du es seit Wochen getan hast," warf sie ein und schoss unter ihren langen Wimpern einen kritischen Blick in meine Richtung. "Du bist nicht mehr du selbst gewesen seit... Ende Oktober, denke ich. Erst läufst du im Institut herum wie ein Roboter und ignorierst mich total, und denk bloß nicht, dass ich diese eindrucksvollen, dunklen Ringe um deine Augen nicht mitbekommen habe! Wie viel Schlaf hast du jede Nacht gehabt - eine Stunde? Zwei?"

"Zwei Stunden," murmelte ich. "Mit viel Glück."

Jubes wich einer Schneewehe mitten auf der Straße aus und ließ den Jeep mit erstaunlicher Leichtigkeit zurück in die Spur schlingern.

"Und dann," fuhr sie fort. "bist du plötzlich so fleißig wie ein Bienchen und spielst den Pfadfinder für jeden, der dich braucht - und immer noch gehst du mir aus den Weg, als hätte ich die Pest. Jedes Mal, wenn ich versuche, dich festzunageln, bist du mit Bobby zusammen, mit Kitty, mit Storm... hab ich dich wirklich heute Nachmittag beim Töpfeschrubben in der Küche gesehen?"

"Ich hab bloß Kitty einen Gefallen getan." Ich seufzte. "Und sie hat sich sehr gefreut."

"Aha." Jubes' Augenbrauen verschwanden unter ihrem Haaransatz. "Wo wir gerade von Kitty reden... darf ich mal fragen, was zwischen dir und dem Eismann vorgeht? Er schleicht um Kitty herum wie die Katze um den Sahnetopf, und dir scheint das gar nichts auszumachen! Gibt es da plötzlich irgendeinen ,Freundschaft immer-Liebe nimmer'-Nichtangriffspakt zwischen euch beiden, von dem ich keinen Schimmer hab?"

"Ach, dann hast du also bemerkt, dass er um sie herumschleicht?" Ich nickte zustimmend. "Dachte ich mir... ist ja auch offensichtlich genug, nicht?"

"Hör auf damit, bevor ich diese beschissene Rostlaube gegen den nächsten Baum setze!"

Es war eine eindrucksvolle Explosion, sogar für Jubes, die sowieso ständig Feuer und Flamme war. Ich starrte sie mit offenem Mund an. Sie starrte wild zurück, dann schaute sie wieder geradeaus. Plötzlich zog sie die Handbremse und trat gleichzeitig das Bremspedal durch. Der Motor des Jeeps gab ein entsetztes Aufheulen von sich und soff dann vollständig ab, während der Wagen sachte in Richtung Straßenrand schlidderte, geradewegs in die nächste Schneewehe.

Es folgte ein langer Augenblick fassungsloser Stille. Ich saß da, die Finger in das Sitzpolster gekrallt, und wartete darauf, dass mein Herzschlag sich beruhigte. Als ich wieder sprechen konnte, war meine Stimme überraschend gleichmäßig.

"Hast du nicht mehr alle Tassen im Schrank, Jubilee Lee?"

Sie atmete lang und schwer durch die Nase; ihre Hände lagen immer noch um das Lenkrad, und die Knöchel waren weiß.

"Hab ich wohl," sagte sie endlich, und ihr Ton war so gelassen wie meiner. "Was ist mit dir? Ich dachte immer, dass wir Freunde wären, und dass du mir traust. Und dann versteckst du dich wochenlang vor mir... zur Hölle noch mal, es gab Tage, da hast du durch mich hindurch geschaut, als wäre ich ein Geist!" Sie schluckte. "Kannst du dir nicht vorstellen, dass ich mir Sorgen gemacht hab? Um die Wahrheit zu sagen, das tu ich immer noch."

"Tut mir Leid," sagte ich leise. "Tut mir echt Leid, Jubes."

Unsere Augen begegneten sich; ohne nachzudenken langte ich hinüber und meine Finger schlossen sich um ihre Hand. Sie biss sich auf die Lippen, dann blinzelte sie und kam sichtlich zu einer Entscheidung.

"Darf ich dich noch was fragen?" sagte sie. "Hat dieses ganze Theater irgendwas mit dem Lederband zu tun, das du in deinem Nachttisch versteckst? Das, an dem der Anhänger fehlt?"

"Und was," gab ich zurück, meine Stimme gefährlich leise, "weißt du bitte sehr darüber, was ich in meinem Nachttisch hab? In meinem Zimmer, das wir uns jetzt schon seit zwei Jahren nicht mehr teilen?"

Ich hatte das seltene Erlebnis, die unverbesserliche Jubilee Lee aus echter Scham erröten zu sehen.

"Ich..." Sie räusperte sich. "Ich hab nach dem Lippenstift gesucht, den du dir vor ein paar Wochen von mir geliehen hast. Wenigstens zuerst. Ich schwöre, ich wollte nicht rumschnüffeln... aber da war dieser Samtbeutel, und ich konnte dich nicht fragen, weil du nicht mehr mit mir geredet hast, und ich... also schön, ich konnte mir nicht helfen, ich musste es heraus kriegen." Eine lange, schmerzhafte Pause. "Wahrscheinlich bin ich jetzt damit dran, mich zu entschuldigen."

"Nein, Jubes." Ich schüttelte den Kopf. "Wir sind quitt."

Es wurde mehr und mehr unmöglich, etwas durch die Windschutzscheibe zu erkennen: wieder fiel Schnee, und die Flocken ließen sich auf dem Glas nieder wie ein dicht gewebter Schleier. Ich schaute Jubes an und lächelte ganz leicht.

"Gib mir Zeit bis nach diesem Wochenende. Danach kannst du mein Zimmer mit einer Flasche Tequila stürmen, und ich werde dir erzählen, was du willst... jede Einzelheit. Und ich sollte dich warnen: es kann gut sein, dass ich mir die Augen aus dem Kopf heule."

"So schlimm?" Sie drückte leicht meine Hand. Gott, sie hatte mir wirklich gefehlt.

"Weiß ich nicht - noch nicht," sagte ich ehrlich. "Frag mich am Sonntag noch mal, okay? - Und jetzt tu mir einen Gefallen und bring den Jeep hier raus. Ich will wirklich ins Institut zurück, und nebenbei, Kitty wird nur noch mehr Panik schieben, wenn sie ihre Cranberry-Sauce nicht kriegt."

"Kein Problem." Jubes lächelte, und das vertraute Funkeln kehrte langsam in ihre hübschen Mandelaugen zurück. "Kinderspiel."

Sie stellte ihre Fähigkeiten auf der Stelle unter Beweis, indem sie den Motor anwarf und den Rückwärtsgang einlegte. Ein wohldosiertes Tippen ihres gelb bestiefelten Fußes auf das Gaspedal ließ den Jeep so sanftmütig gehorchen wie ein Lamm. Die dicken Reifen rollten nach hinten und manövrierten uns und unseren fahrbaren Untersatz gelassen wieder in Richtung Heimweg. Nur noch drei Meilen, und ich stählte mich für ein gnadenloses Trommelfeuer von Fragen. Aber Jubes hielt den Mund, und nie zuvor war ich für einen unerwarteten Segen so dankbar gewesen.

Als wir das Institut erreichten, war es schon sehr spät. Das Eisentor glitt zur Seite, als der Jeep sich näherte. schloss sich wieder hinter uns und bestäubte die geräumte Auffahrt mit frischem Schnee. Zwei Minuten später hielt Jubes vor dem Haupteingang an.

"Geh rein und bring Kitty die Dosen, während ich den Jeep abstelle," sagte sie. "Und wenn sie dich fragt, ob du für sie noch eine Tonne Süßkartoffeln schälen kannst, dann dreh dich einfach um und hau ab."

"Okay." Ich öffnete die Beifahrertür. Die eisige Luft schlug mir ins Gesicht und ließ mich aufkeuchen; während der letzten Stunde war die Temperatur drastisch gefallen, und es war viel kälter, als ich gedacht hatte. Ich drehte mich um und nahm die Tasche, die Jubes mir hinhielt.

"Oh, und Rogue?"

“Hm?”

"Ich hoffe, er nimmt nicht das Motorrad, wenn er zurückkommt. Wenn er sich in diesem Dreckwetter überschlägt, dann könnte es sein, dass er sich seine Adamatiumknochen in irgend einem Straßengraben abfriert, und dann werde ich ihn finden und umbringen müssen."

Ich starrte sie an, den Herzschlag hart und schnell in meiner Kehle. "Wie---"

"Da war eine geschriebene Nachricht in dem Samtbeutel, und du hast die Nummer von dem Postfach auf die Rückseite gekritzelt, Süße. Wenn ich am Sonntag mit meiner Tequilaflasche ankomme, dann musst du mir wirklich mal alles über diese Sache mit den Äpfeln erzählen."

Die Tür knallte zu, der Motor erwachte stotternd wieder zum Leben und der Jeep rollte die Auffahrt hinunter in Richtung Garage. ich stand da, von einer weißen Atemwolke umgeben. Eine absolute Nase für die Wahrheit, so scharf und unbeirrt wie die Sinne des Mannes, auf dessen Heimkehr ich wartete.

Tränen stiegen mir in die Augen, und gleichzeitig wurde mir plötzlich klar, dass ich lachte. Es war das erste, echte Lachen seit Wochen, und es fühlte sich einfach großartig an. Ich brauchte eine Weile, um mich zu beruhigen, und während ich die Tasche ins Haus trug, gluckste ich noch immer vor mich hin.

ooOoo

Thanksgiving dämmerte unter schweren, dunklen Wolken. Ich hatte den Wecker auf neun Uhr gestellt und erwachte von Shania Twain, die melancholisch irgendwas über "die Frau in mir" sang, die "den Mann in dir" brauchte.

Ausgesprochen wahr.

Ich gab mir alle Mühe, während der Nachrichten aufzuwachen; ich streckte mich zwischen den warmen Decken und spürte, wie sich meine Mundwinkel zu einem Lächeln kräuselten, als der Nachrichtensprecher davon redete, dass "Botschafter McCoy aus Washington zurückgekommen war, um Thanksgiving mit guten Freunden in der Nähe von New York zu feiern." Hank würde heute Abend hier sein, und ich freute mich sehr darauf, ihn zu sehen.

Die Wetteraussichten waren alles andere als viel versprechend. Die Temperaturen waren weit unter Null gefallen; die Stimme der Wetterfee sagte irgendwas über den kältesten Winter seit zwanzig Jahren, und die Meteorologen erwarteten wenigstens noch dreißig Zentimeter Schnee. "Wenn Sie schon dort sind, wo Sie hinwollen, dann genießen Sie ihren Truthahn und seien Sie dankbar," trällerte sie gutgelaunt, "und wenn nicht, dann bleiben Sie zu Hause und feiern Sie mit der Mikrowelle."

Ich hievte mich aus dem Bett, nahm eine sehr lange, sehr heiße Dusche und schlüpfte in Jeans, Socken und ein warmes Flanellhemd. Mein Wolverine-Outfit, dachte ich, während ich meine Haare zu einem straffen Pferdeschwanz zähmte. Ich würde mich später aufbrezeln, vor dem Abendessen; bis dahin würde Kitty jede hilfreiche Hand nötig haben, die sie kriegen konnte.

Der Tag verging in einem Wirbel, ausgefüllt mit hastiger Kocherei in letzter Minute, letzten Putzarbeiten und mit der Dekoration des riesigen Esszimmers. Bis über beide Ellbogen in Arbeit zu stecken wirkte Wunder auf meine gereizten Nerven. Ich konnte mir keine Sorgen darüber machen, wo Logan sein mochte, während ich ein halbes Dutzend jüngerer Schüler davon abhalten musste, das feine Porzellan zu zerschlagen. Ich konnte keine Panik schieben über demolierte Motorräder und gebrochene Adamantiumknochen, als ich mich darauf konzentrieren musste, einen langen Riss in Kittys Lieblingskleid zu flicken, während sie gleichzeitig zwei gigantische Truthähne füllte und sie in die Öfen schob.

Danach half ich einem weiteren halben Dutzend aufgeregter Mädchen in ihre feinsten Festtagskleider, ohne irgendeine Frisur zu ruinieren - so lange, bis Jubes entschied, dass es reichte. Sie schleppte mich in mein Zimmer hinauf, überprüfte meine eigene Kleiderauswahl mit kritischem Blick und gestattete mir endlich, einen schlichten schwarzen Samtrock, schwarze Wildlederstiefel und einen weichen, kupferbraunen Pullover mit einem großzügigen Rollkragen und Trompetenärmeln anzuziehen. Ich wartete geduldig, bis sie für eine halbe Stunde verschwand, um sich selbst aufzuhübschen, dann legte ich eine winzige Dosis Rouge, Wimperntusche und Lippenstift auf und nahm das Lederband aus der Nachttischschublade. Es war einiges Gefummel nötig, um alle Karabinerhaken allein zu schließen, aber am Ende bekam ich es hin und segnete die losen Ärmel für die Tatsache, dass sich so viel darunter verstecken ließ. Jubes kam zurück und verbrachte die nächste halbe Stunde damit, wahre Wunderwerke mit meinem Haar anzustellen.

Dann begann das Abendessen; es war alles, was ein Thanksgiving-Festmahl sein sollte, komplett mit tonnenweise köstlichem Essen und glücklichen Leuten rings um die langen Tische. Wir hatten eine strahlende Kitty (die - wieder einmal mit der unbezahlbaren Hilfe von Jubes - sehr hübsch aussah und kein bisschen erledigt, trotz ihres Koch-Marathons), eine lächelnde Storm (die wenigstens einmal beschlossen hatte, sich zu entspannen), und einen fröhlichen Pjotr mit einem erstaunlichen Repertoire aus russischen Volksliedern, das nach vier Gläsern Wein zum Vorschein kam. Es gab außerdem Dutzende hungriger Kinder und Hank, der sich sehr rasch zum Mittelpunkt des Festes und zu jedermanns Lieblingsonkel entwickelte.

Ich machte regelmäßige Umwege in die Eingangshalle, mit leeren Platten und benutzten Gläsern für die Spülmaschine in der Küche beladen. Aber die riesige Eichentür blieb geschlossen; es kam kein später Gast mehr, und gegen elf fingen wir an, die Tische abzuräumen und die Kinder ins Bett zu schaffen, die vor ihren abgegrasten Tellern eingeschlafen waren. Ich hatte das exklusive Vergnügen, Botschafter McCoy dabei zuzuschauen, wie er zwei zwölfjährige Lausejungen gleichzeitig in ihr Schlafzimmer schleppte; sie waren nach der fünften Portion von der gewaltigen Eisbombe glücklich weg gesackt. Als er wieder herunter kam, sagte ich ihm Gute Nacht und wurde mit einem - sehr väterlichen - Kuss auf die Wange belohnt. Mitternacht war schon fast vorbei, als ich zum letzten Mal durch die Eingangshalle kam und beschloss, einen letzten, kurzen Blick nach draußen zu werfen.

Ich zog die Eingangstür hinter mir zu, um Wärme und Licht in den Mauern zu halten. Ein tiefes Einatmen brachte mich zum Husten; die Luft war trocken und eisig, und der Himmel hatte sich aufgeklart. Eine Myriade von Sternen glitzerte an einem Baldachin aus reinem, schwarzen Samt. Der tiefe Schnee verlieh der Nacht eine trügerische Helligkeit; ich konnte bis hinunter zum Tor schauen. Die Reifen von Hanks Mercedes hatten zwei dunkle, parallele Linien in den frischen Reif auf der Auffahrt gemalt, und die Nacht war sehr still. Beißende Kälte kroch mir langsam unter den dicken Pullover, drang durch das Tanktop darunter und überzog meine Arme mit einer Gänsehaut.

"Logan," murmelte ich. "Wo steckst du?"

Er hatte es nicht rechtzeitig zu Thanksgiving geschafft. Und ich konnte nur hoffen, dass nicht noch etwas anderes daran schuld war als bloß der kälteste Winter seit zwanzig Jahren.

ooOoo

Um ein Uhr nachts scheuchte ich Kitty endlich aus der Küche und geradewegs in Bobbys Arme - der es ziemlich genoss, den Ritter in weißer Rüstung zu spielen und unsere erschöpfte Martha Stewart auf ihr Zimmer zu eskortieren.*

"Hübsches Paar," stellte Jubes hinter mir fest, das Gesicht zu einem gewaltigen Gähnen verzogen. "Jemand sollte für die beiden ein schmalziges Geigen-Solo spielen."

Sie hatte gerade eine erstaunliche Anzahl Tupperdosen in den größeren Kühlschrank geräumt und war jetzt dabei, die Überreste des grünen Bohnengemüses in eine saubere Schüssel zu löffeln.

"Halt den Schnabel, Jubilee Lee." Ich setzte mich an den Tisch und ließ das Kinn auf die verschränkten Arme sinken. "Du bist ein zynisches Biest, jawohl."

"Bin ich nicht." Sie deckte die Schüssel mit Klarsichtfolie ab. "Aber die sehen zusammen so unwahrscheinlich süß aus, dass mir die Zähne weh tun."

"Weißt du was? Geh ins Bett."

"Großartige Idee." Jubes nahm die Schürze ab und warf sie ohne viel Federlesens in die Ecke. "Liege ich falsch, oder hast du heute Abend auf einen gewissen Jemand gewartet?"

"Ich warte jetzt schon seit Wochen, und heute war keine Ausnahme." Ich rieb mir die Augen. "Und wenn man das Wetter bedenkt, dann sollte ich wahrscheinlich dankbar sein, dass er nicht versucht hat, her zu kommen."

"Stimmt." Plötzlich beugte sie sich über mich und küsste mich auf den Scheitel. "Und trotzdem - zu blöd, dass er dich nicht in diesem Outfit zu Gesicht gekriegt hat. Du siehst absolut umwerfend aus. Nacht, Süße."

"Nacht, Jubes."

Ich hörte, wie ihre leisen, raschen Schritte im Flur verklangen und musste gegen den wachsenden Drang ankämpfen, einfach da einzuschlafen, wo ich war. Endlich schaffte ich es, mich von dem Stuhl hoch zu stemmen. Ich verließ mit schleppenden Schritten die Küche, machte die Lichter hinter mir aus und ging langsam die Treppe hinauf in mein eigenes Zimmer. Alles, was ich jetzt tun wollte, war, auf mein Bett zu fallen und auf einen neuen Tag zu hoffen.

Ich öffnete die Tür. Drinnen war es dunkel, und als ich vor Stunden hinaus gegangen war, hatte das Zimmer nach meinem Shampoo und meinem Parfum gerochen, eine Mischung aus Rosen und Vanille. Jetzt allerdings...

Leder und Tabak und Holz und Farn.

Plötzlich war ich hellwach.

Alle Engel im Himmel...

“Marie.”

Ich erstarrte auf de Stelle, eine Hand noch immer auf der Türklinke. Die Stimme war unverkennbar, warm, leise, ein wenig heiser, als hätte er zu lange geschwiegen.

Mein Körper übernahm, wo mein Kopf sich nicht traute. Ich spürte, dass ich mich umdrehte, als würde ich von einem starken Magneten angezogen. Und dann sah ich, wie sein hochgewachsener Umriss aus dem Schatten heraus trat, ein Schimmer von Augen in der Dunkelheit, ein kurzes Aufglänzen von Zähnen. Seine Hände, die sich um meine Taille schlossen und mich an die lebende Barriere zogen, die er war.

“Marie.”

Sein Atem warm auf meiner Wange. Nahe. So nahe. Finger, kraftvoll und zielstrebig, die meine Mitte verließen und mein Gesicht fanden. Ein Daumen, der liebkosend meinen Wangenknochen nachzog, meine Ohrmuschel, meinen Kiefer.

“Marie?”

Ich hatte keine Stimme, um ihm die Worte zu sagen, die ich in meinem Geist Nacht für Nacht geflüstert hatte. Sie waren sowieso verloren gegangen und hatten nichts als einen atemlosen Abgrund hinterlassen, der vor meinen Füßen gähnte und drohte, mich mit Haut und Haar zu verschlucken. Mit einem Gefühl, das der Panik gefährlich nahe kam, zwang ich mich dazu, mich zu rühren; ich hob meine Hände zu seinen Schultern und grub meine Finger in glattes, kühles Leder.

"Marie? Schätzchen, bist du okay?"

"Ich bin... ich hatte..." Meine Stirn sank gegen seine Brust, und ich konnte spüren, dass mein Körper von Kopf bis Fuß zitterte. Ich atmete in langen, tiefen Zügen und sog seinen Duft gierig wie eine Ertrinkende ein. Er war hier. "Ich hatte Angst, du würdest nicht kommen."

Sein Lachen war ein leises Rumpeln, das durch meine Haut vibrierte. "Meine Nachricht hast du doch gelesen, oder?"

"Ja." Ich schluckte. "Ja, hab ich. Aber..."

"Du hast es nicht geglaubt." Seine Hände kehrten zu meiner Taille zurück; sie hoben mich mühelos hoch, bis ich den Boden unter den Füßen verlor. Ich gab einen winzigen, überraschten Laut von mir; mein Körper wurde herum geschwungen und auf der Bettkante abgesetzt. Er kniete auf dem Boden vor mir, beugte sich herüber, und die kleine Lampe auf dem Nachttisch leuchtete auf und zeigte mir sein Gesicht. Es sah bleich und müde aus, aber seine Augen waren ruhig, grüngoldenes Haselnussbraun mit dem Hauch eines Lächelns. "Wieso?"

Da war kein Vorwurf, keine Enttäuschung; es war eine einfache Frage.

"Ich hab es ja geglaubt," murmelte ich. "Es war bloß... lach mich nicht aus, aber es gab Zeiten, da dachte ich, die ganze Sache wäre bloß ein Traum gewesen. Ich konnte wochenlang nicht schlafen, und ich hab sogar versucht, dir einen Brief zu schreiben und dich zu fragen... dich zu fragen, ob..."

"Ob es wahr ist?"

"Ja, genau. Was immer es auch war. Was immer es auch... ist."

Er antwortete nicht gleich, sondern nahm stattdessen meine Hand, eine simple Geste, die sich anfühlte wie Balsam auf meinen Nerven. Ich starrte auf unsere verschränkten Finger hinunter, dankbar für den Kontakt. Nach einem langen, merkwürdig friedlichen Augenblick des Schweigens verschwand seine freie Hand in der Lederjacke und tauchte wieder auf, und er hielt sie mir hin. Ein kleiner, goldener Apfel schimmerte in der Handfläche.

"Hilft das hier?"

Wortlos hob ich den Arm und ließ den losen Trompetenärmel zurückfallen, so dass er das Lederband sehen konnte. Er schloss den winzigen Karabinerhaken um den leeren Ring, und zusammen sahen wir zu, wie die drei kleinen Anhänger Seite and Seite baumelten.

"Schaut gut aus." Das Lächeln in seiner Stimme war verschwunden, ersetzt durch etwas, für das ich keinen Namen hatte. Oder vielleicht hatte ich doch einen, wenn ich bloß den Mut dazu fand... doch in diesem Moment fühlte ich mich überhaupt nicht mutig, nur furchtbar unsicher und ein bisschen schwindelig.

"Mit dem Motorrad bist du nicht gekommen, oder?"

Es war ganz bestimmt das Dusseligste, was mir in diesem Augenblick einfallen konnte, und eine seiner Brauen zuckte aufwärts; aber dann entspannte sich sein Gesicht und er lachte leise.

"Nein, natürlich nicht. Ich hab meinen neuen Wohnwagen genommen."

"Du hast einen neuen Wohnwagen?"

"Zehn Jahre alt, und er säuft Benzin wie ein Loch, aber er ist verdammt verlässlich, und viel besser, als dass ich mir auf dem Weg hier herunter die Eier abfriere."

Das Kichern kam heraus, bevor ich es aufhalten konnte. Jetzt schossen beide Augenbrauen in Richtung Haaransatz, aber ich war sowieso verloren. Ich dachte an die Heimfahrt gestern aus Westchester und kicherte noch mehr.

"Weißt du, Jubes hat gesagt... sie hat gesagt..."

Er bedachte mich mit dem ungläubigen Blick, der für Männer reserviert ist, die sich mit Frauen konfrontiert sehen, die offensichtlich den Verstand verloren haben.

"Was hat Jubes denn gesagt?"

"Sie..." Ich bekam kaum Luft; meine Seiten fingen an, weh zu tun. "Sie sagte, du könntest dir vielleicht die Adamatiumknochen brechen, wenn du dich mit dem Motorrad überschlägst, und... und..."

Unsere Augen begegneten sich, und es gelang mir, den nächsten Anfall irgendwie zu unterdrücken.

"Sie hat gesagt, wenn du in einem Straßengraben festfrierst, dann muss sie kommen und dich umbringen." Ich schluckte nervös und wurde langsam wieder ernst. "Schau, ich... ich hab es ihr nicht gesagt. Sie hat bloß gesehen, dass ich wochenlang total neben mir war, und sie wollte, dass ich mit ihr darüber rede, und ich hab nicht... ich meine, ich konnte nicht... sie hat einfach die Tatsachen zusammen gezählt und den Rest ganz allein herausgefunden."

"Ich hätte früher kommen sollen. Es tut mir Leid." Die haselnussbraunen Augen hatten sich zu einem tiefen Bernstein verdunkelt.

"Nein, hättest du nicht. Ich hab doch die ganze... Sache... angefangen, mit diesem Kuss, weißt du noch? Ich hab mich die ganze Zeit gefragt, ob ich vielleicht... ob ich vielleicht zu viel Druck gemacht hab."

"Ich sag dir was," antwortete er, und seine Stimme klang ein bisschen schroff. "Ich hab einen Goldschmied gefunden, der mir die Kette verkauft und die Äpfel für mich gemacht hat. Das war vor sechs Wochen. Die zwei Tage danach habe ich damit verbracht, das Lederband hinzukriegen, und vor fünf Wochen hab ich dir endlich das Päckchen geschickt. Seitdem hab ich gewartet."

"Auf was?"

Er wandte den Kopf ab, das Gesicht merkwürdig ausdruckslos. Wie schon einmal zuvor schöpfte ich Kraft aus seinem Schweigen. "Logan... auf was?"

"Dass du es zurück schickst."

Mein Atem kam in einem lauten Zischen heraus, und zum ersten Mal wurde mir klar, dass ich ihn angehalten hatte.

"Logan, schau mich an."

ich streckte die Hand aus und strich ihm mit den Fingerspitzen durch das Haar. Er lehnte sich in meine Berührung hinein, mit der instinktiven Anmut einer großen, geschmeidigen Katze.

"Ich hätte es nicht zurückgeschickt. Nie." ich sprach mit so viel Nachdruck, wie ich es fertig brachte. "Verstehst du mich? Niemals."

Seine Hände hoben sich und schlossen sich um mein Gesicht. Er starrte mich mit stiller Intensität an und zog mich an sich, bis wir Stirn an Stirn saßen.

"Hör mal, Kleine... Marie." Seine Stimme war sehr leise. "Ich hab keine Ahnung, wo diese Sache zwischen uns herkommt, und ob sie hält. Alles, was ich weiß, ist, dass sie da ist... vielleicht war sie immer schon da, ganz von Anfang an, nur dass ich es nicht sehen sollte, idiotisch, wie ich bin. Und was immer es auch ist, es war stark genug, um mich in den letzten zwei Tagen 2600 Meilen fahren zu lassen."

Ich antwortete nicht. Meine Hände bebten, und ich legte sie gegen seine Brust und fand das Flanellhemd unter der Lederjacke. Es war so leicht, den letzten, winzigen Abstand zwischen uns zu schließen. Als mein Mund seinen berührte, gab er einen leisen, heiseren Laut von sich - halb Verblüffung, halb Erleichterung - und dann hießen mich seine Lippen Willkommen und seine Hände hielten mich und zogen mich in seine Wärme hinein.

In diesem Moment begriff ich endlich etwas sehr Grundlegendes an Logan - er war fähig, sich ohne jeden Zweifel und jede Zurückhaltung zu verschenken. Das hatte er natürlich früher schon getan, und vor allem, wenn es um mein Wohlergehen ging, aber das, was hier geschah, hatte eine ganz andere Qualität. Es war beides gleichzeitig, Unterwerfung und Eroberung, und dieses Mal zuckte ich vor dem glühenden Funken nicht zurück. Dieses Mal stürzte ich mich ins Feuer und ging in Flammen auf.

Innerhalb von wenigen, unfassbaren Minuten saß ich nicht mehr auf der Bettkante, und er kniete nicht mehr davor. Er lag auf dem Rücken und ich saß praktisch rittlings auf ihm, die Schenkel auf beiden Seiten seiner Hüften. Wieder grub ich die Finger in seine Schultern; es muss ihm weh getan haben, aber er beschwerte sich nicht. Seine Lippen hatten meinen Mund verlassen, sie erforschten meinen Hals und mein bloßes Schlüsselbein; der Pullover war wundersamerweise verschwunden, ein weicher Haufen Wolle in der Ecke hinter dem Nachttisch, und seine Hände hatten bereits die Haut unter meinem Baumwolltop gefunden und zogen eine lange, hitzige Spur an meinem Rückgrat entlang. Und oh, wie sehr meine Hände danach hungerten, seine Reise nachzuahmen, über die weite Fläche ais köstlicher Nacktheit unter diesem vertrauten Flanellhemd zu wandern...! Meine Unerfahrenheit hatte nicht die geringste Chance gegen einen solch enormen, neu gefundenen Hunger, gegen den ungläubigen Jubel über die Tatsache, dass ich endlich jemanden ohne irgend eine Schutzschicht berühren konnte, ohne Furcht oder tödliche Gefahr. Alles, was ich tun musste, war dieses Hemd aufzuknöpfen, um ihn zu spüren... ihn zu spüren, ihn zu schmecken und einzuatmen und...

“Marie.”

Ich konnte ihn durch das weiße Rauschen in meinen Ohren kaum verstehen. Er atmete schwer, wie nach einem raschen Lauf hügelaufwärts, und seine Augen glitzerten schwarz wie Obsidian. Ich setzte mich auf und war mir auf herrliche Weise der Stelle bewusst, wo sich mein Schritt an seinem Unterleib rieb. Die Frisur, in die Jubes so viel Arbeit gesteckt hatte, war lange verschwunden. Weiche, zerzauste Strähnen streiften seine Hände, die um meine Arme lagen, und mein Gesicht glühte.

“Marie.”

“...was?”

"Du..."

Ich betrachtete die ruckartige Bewegung seines Adamsapfels mit gebannter Faszination.

"Ist das dein... erstes Mal?"

"Musst du das wirklich fragen?"

Um Himmels Willen, war das meine Stimme? So heiser, so atemlos, so... gierig?

Er schüttelte den Kopf, als wollte er ihn klar bekommen, dann holte er tief und mühsam Atem. "Das... das hatte ich so nicht geplant."

Es war ganz entschieden das Letzte, was ich tun wollte, aber ich stieg trotzdem vorsichtig von seinem Körper herunter. Meine Knie waren weich. Ich ließ mich mit einem frustrierten Seufzer neben ihn fallen und landete ungeschickt im Schneidersitz auf dem Teppich. Trotz der Hitze, die mich noch immer von innen her schmelzen ließ, konnte ich nicht anders, als allmählich die komische Seite der ganzen Sache zu sehen. Ich brachte sogar ein schmales Grinsen zustande. "Du hattest einen Plan?"

"Verdammt, wenn ich das weiß." Er rieb sich mit der Hand über das Gesicht und grinste ironisch zurück. "Aber wenn ich doch einen hatte, dann gehörte es bestimmt nicht dazu, dass ich mich in dein Zimmer schleiche, dir den goldenen Apfel gebe und auf dem Fußboden über dich herfalle."

"Aha." ich warf ihm einen Seitenblick zu. "Dir ist schon klar, dass mein Bett keinen Meter weit weg ist, oder?"

"Gott, ja." Jetzt gluckste er tatsächlich. "Ist kaum zu übersehen."

"Na... und was hält dich dann davon ab..."

"Auf dem Bett über dich herzufallen anstatt auf dem Fußboden?"

"Ganz genau. Herzlichen Dank." Nun war ich mit dem Glucksen an der Reihe.

"Marie." Plötzlich schaute er ein wenig verlegen drein. "Die Sache ist die, dass ich... das hier... so tun wollte, wie es getan werden sollte. Mir Zeit nehmen. Vielleicht sogar einen Ort finden, der sich nicht gerade mitten in einer Schule voller neugieriger Kids und noch neugieriger Lehrer befindet... wenn du wirklich willst, dass ich... du weißt schon, was ich meine." Er fuhr sich mit allen zehn Fingern durch das Haar; ich war eindeutig nicht die einzige hier, die frustriert war.

"Logan." ich streckte die Hand aus und berührte ihn am Knie. "Du weißt, ich will, dass du... zur Hölle, inzwischen sollte es offensichtlich sein, was ich von dir will, oder nicht? Und ich brauche kein Rosenbett. Mit dem hier bin ich vollkommen zufrieden."

Er nahm meine Finger, hielt sie fest und küsste die Knöchel. Ich spürte, wie mein Körper sich entspannte; wir sahen einander an und lächelten zögernd.

Das war der Moment, als ich ein lautes, deutliches Knurren hörte. Und es war nicht das Knurren des Wolverine in Hitze.

Ich starrte ihn finster an und kniff die Augen zusammen. "Wann hast du das letzte Mal irgendwas gegessen, Mister?"

Seine Lippen zuckten. "Hm. - Heute Morgen?"

"Willst du mir ernsthaft erzählen, dass du seit mehr als sechzehn Stunden nichts mehr in den Magen gekriegt hast?"

"Könnte man so sagen." Er grinste mich an, ein merkwürdiges Glimmen in den Augen. "Wenn ich so darüber nachdenke... zu einem großen Truthahnsandwich würde ich nicht nein sagen."

"Glückspilz." Ich zog meine Hand weg, hin und her gerissen zwischen Ärger und Belustigung. "Unten in der Küche sind gleich zwei Kühlschränke, die vor lauter Resten fast aus den Nähten platzen, und wenigstens eine unberührte Süßkartoffelpastete. Und einen Sixpack Bier." ich lächelte ihn wohlwollend an. "Direkt hinter dem letzten Kürbis-Käsekuchen."

"Bier?"

Na klar.

"Oh ja, Baby. Sechs kalte Flaschen Becks, und ich musste sie vor Hank verstecken. Er liebt dieses Zeugs fast so sehr wie du."

Er kam mit einer fließenden Bewegung auf die Beine. "Okay. Ich dusche jetzt und suche mir ein frisches Hemd, und dann bin ich unten in der Küche. Glaubst du, du kannst es aushalten, zu warten, bis ich wieder da bin?"

"Ich habe sechs Wochen lang gewartet, du großer Trottel. ich denke, ein Weilchen länger halte ich es schon noch aus."

Er zog mich von dem Teppich hoch, und wir standen Hand in Hand.

"Ich könnte allerdings auch runter zu dir in die Küche kommen," bot ich an. "Dir ein Truthahnsandwich machen, wenn du möchtest. Dir ein Stück Käsekuchen abschneiden."

"Und mir für ein Bier oder zwei Gesellschaft leisten?"

"Klingt echt gut."

Er wandte sich von mir ab, blickte aber über die Schulter zurück. "Zwanzig Minuten?" Er öffnete die Tür.

"Ich bin da. Oh, und - Logan?"

“Ja?”

"Wenn ich dir was zu essen gegeben hab, können wir dann vielleicht noch mal über die Sache mit den... ähm.. Betten und Zimmern reden?"

Ich biss mir auf die Lippen; in diesem Moment kam ich mir ziemlich raffiniert vor.

"Zufällig weiß ich, wo man die Schlüssel zu den Gästehäusern suchen muss. Das erste ist gerade mit Hank besetzt, aber da gibt es auch noch das zweite, unten an dem kleinen See, hinter dem Wäldchen. Würdest du sagen, das ist weit genug weg von der Schule?"

Licht blitzte in seinen Augen auf, hell und golden. "Interessanter Einfall, Schätzchen." Er beugte sich vor und küsste mich rasch und hart, und nachdrücklich genug, dass mir schon wieder die Knie weich wurden. "Gib mir genug Futter und ein paar Stunden Schlaf, und wir finden es heraus."

Damit grinste er mich an, ging aus meinem Zimmer und mit langen Schritten den Korridor hinunter. Ich folgte ihm mit den Augen, bis er um eine Ecke verschwand, dann machte ich leise die Tür hinter ihm zu und rutschte an dem lackierten Holz hinunter, bis ich wieder auf dem Boden saß.

Zwanzig Minuten. 

Ich schloss die Augen, bis zum Überfließen erfüllt von einer Freude, die so tief und durchdringend war, dass es fast weh tat. Ich hatte den Sonntagsschul-Glauben meiner Kindheit lange verloren, und ich wusste nicht, ob die nächsten paar Worte, die mir durch den Kopf gingen, ein Gebet waren oder nicht, aber ich hoffte demütig, dass sie trotzdem an der richtigen Adresse ankommen würden.

Danke, dass du ihn zu mir zurück geschickt hast. Danke, dass das Ganze kein Fehler war. Danke, dass er mich will, und dass er hier ist.

Ich danke dir.

FINIS

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*Martha Stewart ist eine amerikanische Stilikone bei so ziemlich allem, was mit einem schön eingerichteten Haushalt und guter Küche zu tun hat. Sie hat eine eigene Fernsehsendung und verkauft zahllose Koch- und Dekorationsbücher.


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