Traumkind
von Cúthalion


Rating: PG-13

Kapitel 2
In Gesundheit und in Krankheit

Er erwachte Stunden später, zitternd und mit eiskalten Füßen. Die Federbetten und die kostbare, pelzgefütterte Samtdecke – ein Hochzeitsgeschenk von König Éomer – waren vom Bett gerutscht und lagen jetzt auf dem Boden. Er verbrachte ein paar ziemlich unbehagliche Augenblicke damit, nach seinem verlorenen Nachthemd zu fahnden und die Decken wieder dort hinzulegen, wo sie hingehörten, und seine Füße fühlten sich noch immer taub an, während er aufrecht auf der Matratze saß, sein Kinn und seine Zehen in weichem Fuchsfell vergrub und sich mit wachsender Besorgnis fragte, wo seine Frau hingeraten sein mochte.

Er wartete noch ein paar Minuten, unwillig, das warme Nest zu verlassen, das er um sich her aufgebaut hatte, aber dann schwang er die Beine aus dem Bett und machte sich auf die Suche. Der lange Korridor war dunkel und still, und als er das Ende erreicht hatte, war er dankbar für die offene Tür zum Studierzimmer, die zuließ, das ein Schimmer Mondlicht in die Eingangshalle fiel und ihm den Weg wies. Er bog um die Ecke in den nächsten Gang und kam an den Türen vorbei, hinter denen Sam, Rosie und die kleinen Gamdschies schliefen. Noch immer keine Spur von Lily.

Er beschloss, zurückzugehen; vielleicht würde er sie jetzt friedlich schlafend im Bett vorfinden. Er dachte daran, einen Umweg in die Küche zu machen und sich etwas Milch und Honig warm zu machen, aber bevor er sich entschieden hatte, sah er, dass die Tür zum frisch dekorierten Kinderzimmer nur angelehnt war. Drinnen brannte eine Kerze und zog ein Band aus blassgoldener Helligkeit auf dem Boden des Korridors. Und er konnte hören, dass jemand sang; er war noch nicht nahe genug, um die Worte zu verstehen, aber es war eine langsame, beruhigende Melodie, wie ein Wiegenlied. Er ging auf lautlosen Sohlen zur Tür und spähte hinein.

Er hatte seine Frau gefunden; sie kniete neben der alten Beutlin-Wiege, die mit dem Bettzeug, das sie vor Wochen fertig gestellt hatte, liebevoll vorbereitet worden war. Die Hände hielt sie um das reich geschnitzte Kopfteil geschlossen. Die Wiege schaukelte sachte hin und her, und im Licht der Kerze konnte er Lilys Gesicht sehen. Ihr Blick war unverwandt auf das bestickte Kopfkissen gerichtet, und der Ausdruck in ihren Augen erschreckte ihn, um das Mindeste zu sagen… es war eine Mischung aus schmerzhafter Zärtlichkeit und bitterem Kummer. Jetzt sang sie nicht mehr; sie murmelte vor sich hin, leise und voll unendlicher Traurigkeit, und nach einer Weile wurden die unverständlichen Worte durch leises, ersticktes Schluchzen ersetzt.

Frodo schüttelte die Starre ab, die ihn auf der Stelle festgehalten hatte und eilte an ihre Seite; er berührte sanft ihre Hand auf dem Kopfteil.

„Lily? Was fehlt dir, meine Indil?”

Sie kniete, ohne sich zu rühren, dann wandte sie den Kopf. Ihre Augen begegneten sich, und für einen Moment dachte er, dass er die Frau, die er seit Jahren kannte und liebte, an einem dunklen, verlassenen Ort herumirren sah, wo es dunkel war und kalt. Aber dann kehrten Bewusstsein und Leben in ihr Gesicht zurück, erschöpft und niedergedrückt von einem Schmerz, den er nicht kannte, aber Leben war es dennoch. Es war immer noch Lily. Er zog sie dicht an sich, erschüttert von einer plötzlichen, tiefen Erleichterung.

„Lily…” murmelte er und streichelte das zerzauste Haar unter seinem Kinn. „Um Himmels Willen, was tust du hier mitten in der Nacht? Es ist viel zu kalt, um aus dem Bett zu sein, Liebste… du wirst dich krank machen. Hattest du einen bösen Traum?“

Sie holte an seiner Brust schaudernd Atem.

„Ja…” flüsterte sie. „Einen bösen Traum. Einen sehr bösen Traum.”

Er brachte sie ins Schlafzimmer zurück und hüllte sie in die Felldecke. Dann ging er in die Küche, schürte die Glut im Herd, bis das Feuer wieder brannte und füllte einen kleinen Tiegel. Als er mit einer dampfenden Tasse zu Lily zurückkam, war sie bereits fast wieder eingeschlafen, aber er brachte sie sanft dazu, die honiggesüßte Milch zu trinken. Er betrachtete ihr Gesicht, während sie einen Schluck nach dem anderen nahm; er hatte mehr als ein Dutzend Fragen, aber er wusste mit ruhiger Sicherheit, dass er jetzt keine Antworten erhalten würde, und er beschloss zu warten und sie in Frieden zu lassen. Sie war sehr still, und sobald ihr die Augen zufielen und ihr Atem langsam und regelmäßig wurde, streckte er sich neben ihr aus, nahm ihre Hand und drückte sie an sein Herz.

Er hatte gedacht, dass die meisten Dämonen nun vertrieben wären. Sobald sie die Worte gefunden hatten, über ihr Leiden in den dunklen Zeiten des Ringkrieges zu sprechen, hatte es keine Zurückhaltung mehr gegeben, weder von seiner noch von ihrer Seite. Er wusste von Folco Gutleibs unerwiderter Liebe zu Lily, und sie hatte sogar von der verzweifelten Versuchung gesprochen, sich an diesen guten und ehrlichen Hobbit zu klammern, als er der Einzige war, an den sie sich um Hilfe und Unterstützung wenden konnte. Sie hatte ihm von dem Tag erzählt, als sie die Erinnerung an ihre Liebe wie einen Schild gegen den durchbohrenden Blick eines Raubtieres benutzt hatte, das einst ein großer Zauberer gewesen war. Er wusste von der dunklen, schrecklichen Nacht damals im Februar 1419, als Lotho auf die grausamste und persönlichste Weise an ihm Rache genommen hatte… indem er die Frau missbrauchte, die er liebte und sie damit für Jahre zeichnete. Frodo war sich sicher gewesen, dass er alles wusste, was es zu wissen gab.

Offenbar hatte er sich geirrt.

*****

Am nächsten Morgen setzten sie sich gemeinsam zu einem sehr stillen Frühstück. Sam hatte sich kurz nach der Morgendämmerung auf eine Tagesreise nach Michelbinge gemacht. Ein Rechtsfall, bei dem es um ein großes Stück Land ging, musste geklärt werden, und das Gewicht der Autorität des Bürgermeisters war offenbar vonnöten, um zwei wohlhabende, örtliche Hobbitsippen davon abzuhalten, eine ausgewachsene Familienfehde vom Zaun zu brechen.

Rosie hatte den Kindern bereits ihr Frühstück gegeben; Klein Pippin wurde seit neustem nicht mehr gestillt, sondern hatte seinen ersten Holzbecher samt Löffel in Gebrauch (mit wechselndem Erfolg), aber als Frodo und Lily in die Küche kamen, war die Schweinerei bereits verschwunden. Sie konnten die lachenden Stimmen der vier Gamdschie-Geschwister und das Quietschen des Jüngsten aus dem Kinderzimmer hören, und Rosie stand vor der Spüle und schrubbte den Milchtopf. Sie wünschte ihnen fröhlich „Guten Morgen“, sorgte dafür, dass Lily sich hinsetzte und schnippte eine Handvoll kleiner Würstchen in die Pfanne. Binnen kürzester Zeit hatten sie Röstbrot, Rühreier und brutzelnd heiße Würstchen, Rosie stellte eine große Kanne mit Kamillentee auf den Tisch, fügte zwei kleine Schüsselchen mit Honig und braunem Zucker hinzu und verschwand mit einem energischen Flattern ihrer fülligen Röcke in Richtung Kinderzimmer.

„Sie ist vollkommen, nicht wahr?” sagte Frodo mit einem Grinsen und füllte Lily die Tasse. „Manchmal ist es geradezu furchterregend.“

„Ein Juwel unter allen Hobbit-Hausfrauen,” erwiderte Lily mit einem blassen Lächeln, „Im Moment wäre ich ohne sie verloren.”

Frodo betrachtete sie genauer; während er Rosies Köstlichkeiten alle Ehre antat, die sie verdienten, hatte sich seine Frau nur eine kleine Scheibe Röstbrot mit Butter und einem Klecks Honig genommen. Aber anstatt zu essen, ließ sie das Brot auf ihrem Teller fast unberührt liegen. Er hatte daran gedacht, sie auf die merkwürdigen Ereignisse der vergangenen Nacht anzusprechen, aber beim Anblick ihres müden Gesichtes und der erschöpften Linien um ihren Mund ließ er die ganze Idee fallen. Plötzlich dachte er daran, Rosie zu fragen, ob sie noch mehr nächtliche Ausflüge mitbekommen hatte; er war fast eine Woche fort gewesen, und vielleicht hatte die Sache schon angefangen, bevor er zurückgekommen war. Also überredete er sie sanft, aber nachdrücklich dazu, das Brot zu essen, und noch dazu eine zweite Scheibe mit Lily Kattuns hausgemachtem Käse. Er war nicht sehr überrascht, als sie ihre Mahlzeit mit einem herzhaften Gähnen beendete.

„Süße Herrin, heute fühle ich mich so schwer und so riesig wie Sams Lieblingssau,” seufzte sie. „Mein Rücken tut weh, und ich bin schrecklich müde. Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich mich ein bisschen hinlege und den Elf-Uhr-Imbiss auslasse?“

„Natürlich nicht,” sagte er mit einem besorgten Stirnrunzeln. „Abgesehen von der Müdigkeit und den Rückenschmerzen – geht es dir wirklich gut? Soll ich gehen und Aster holen?“

Sie schenkte ihm ein liebevolles Lächeln, das ihre Augen nicht ganz erreichte.

„Es ist noch viel zu früh, um Aster zu holen,” erwiderte sie und streichelte ihm die Wange. „Alles, was du hier hast, ist eine ungeduldige Ehefrau, die es leid ist, dass sie ihre Zehen nicht mehr sehen kann, und dass sie herumwatschelt wie ein voll gestopfter Mehlsack. Und jetzt werde ich ins Bett watscheln.“

Er sah, wie sie im Korridor verschwand und hoffte flehentlich, dass sie nicht wieder anfangen würde, schlafzuwandeln und damit die Kinder zu erschrecken, wenn sie ihr vor die Füße liefen. Es war wirklich an der Zeit, mit Rosie zu reden. Vielleicht würde er hinterher klarer sehen.

*****

Er kümmerte sich um die Teller und die Pfanne und zog sich dann ins Studierzimmer zurück; er hatte seit Wochen vor, einen Brief an Pippin zu schreiben und beschloss jetzt, diese lang verschobenen Plan in die Tat umzusetzen. Nach der dramatischen Geburt von Klein-Faramir hatte Juweline Tuk eine starke Zuneigung zu Lily gefasst.* Sie war immer eifrig darauf bedacht zu erfahren, wie es ihr ging, und sie schickte regelmäßig Einladungen in die Groß-Smials. Diesmal war es Frodo, der Pippin und seine hübsche, junge Frau mit den neuesten Nachrichten versorgte, und als er den Brief endlich beendet hatte, war die Zeit für den Elf-Uhr-Imbiss und das Mittagessen lange verstrichen. Er versorgte sich selbst mit Brot, Nusspastetchen und einem Glas Milch als schnellen Imbiss in der Küche und ging auf die Suche nach Rosie.

Er fand sie im Kinderzimmer, in der Mitte einer dieser idyllischen Szenerien, die zu schaffen sie die einzigartige Gabe besaß, einfach, indem sie da war. Elanor hockte zusammengerollt in der runden Fensternische, die Nase in einem Buch, Klein-Rosie saß auf dem Boden, wiegte eine Holzpuppe in den Armen und fütterte sie mit Brotkrümeln. Jung-Frodo war stirnrunzelnd über ein Buch mit vielen Bildern und wenig Text gebeugt, in Großbuchstaben geschrieben. Seine Finger folgten den Zeilen, er murmelte vor sich hin und schüttelte ab und zu den Kopf, wenn ein Wort für ihn keinen Sinn machte.

„Er sieht genauso aus wie Sam, als Bilbo ihm die ersten Buchstaben beigebracht hat, vor dreißig Jahren,” sagte Frodo mit einem Lächeln. Rosie – die in einem großen Sessel saß, einen halb eingeschlummerten Merry auf dem Schoß – hob den Kopf und lächelte zurück.

„Hallo, Frodo! Ist Lily schon wieder auf?”

„Nein, sie schläft noch,“ erwiderte er. „Hast du eine Minute – ohne die Kinder, meine ich?“

„Ja, natürlich. Ellyelle? Würdest du das Märchenland bitte lang genug verlassen, dass du ein Weilchen auf die Kleinen achten kannst? Ich muss ein Wörtchen oder zwei mit Herrn Frodo reden.“

Ellyelle klappte ihr Buch zu. „Ja, Mama.“

„Ich muff auch ein Wörtchen oder pfwei mit Herrn Frodo reden!“ sagte Klein-Rosie eifrig, ließ ihre Puppe fallen und verstreute die Brotkrümel großzügig auf dem Teppich.

„Das nächste Mal, Süße,“ sagte Frodo und zerzauste ihr den lockigen Kopf. „Du hast deine Mama gleich wieder.“

Sie verließen das Kinderzimmer und gingen in die Studierstube, wo die Flammen im Kamin noch immer für behagliche Wärme sorgten. Rosie setzte sich in den Sessel neben dem Fenster und sah ihn erwartungsvoll an. Er entschied sich, keine Umschweife zu machen.

„Letzte Nacht bin ich aufgewacht und habe mich allein im Bett vorgefunden. Lily war auf und wanderte ganz offensichtlich herum, und ich entdeckte sie in der Kammer, die wir für das Baby vorbereitet haben. Ich hörte sie singen; als ich hereinkam, kniete sie auf dem Boden und schaukelte die Wiege. Und sie weinte.“

„Süße Herrin!“ flüsterte Rosie und biss sich auf die Lippen. „Weißt du… die Nacht, bevor du zurückgekommen bist…“

„Das war nicht das erste Mal?“

„N… nein.“ Jetzt rang Rosie die Hände. „Ich bin ihr auf dem Weg zum Örtchen begegnet; da ging sie auch in das neue Kinderzimmer, und ich ging hinter ihr her, und ich fand sie, wie sie ein Baby in den Armen wiegte, das gar nicht da war, und sie sang ein Wiegenlied… mein Wort, Herr Frodo, das war das eigenartigste Wiegenlied, das ich je gehört hab. Keines, das ich meinen Kleinen je vorsingen würde, gar kein Zweifel.“

Frodo musste ein plötzliches Lächeln unterdrücken, als er hörte, wie sie eine von Sams Lieblings-Redewendungen benutzte. „Wieso denkst du, dass es eigenartig war?“

„Wegen der Worte. Ich weiß nicht mehr alle Strophen, und die Melodie kannte ich nicht, aber eine gab es, bei der hat es mich geschaudert.

Schlaf mein Lieb und ruh dich aus
Kindchen, sollst nicht traurig sein,
Mama trägt dich sanft hinaus
Weiche Erde hüllt dich ein…

Dann kam irgendwas über Blumen, die über dem Kind blühen, und Regen, der fällt, und das hier war die letzte Strophe, die sie gesungen hat:

Schlaf, mein Lieb, ich wieg dich leis
Hast dich auf den Weg gemacht
Blumen säumen kalt und weiß
Deine Straße durch die Nacht

Das war der Augenblick, als ich sie angefasst hab. Sie hat mir eine Todesangst eingejagt, weißt du? Und als ich sie am nächsten Morgen am Frühstückstisch gesehen hab, da wusste sie überhaupt nichts mehr davon – und das hat mir noch mehr Angst gemacht.“

Er öffnete den Mund, um zu antworten, aber im nächsten Moment kam ein plötzliches Geräusch von der Tür. Beide wandten die Köpfe und stellten fest, dass Lily auf der Schwelle stand, noch immer im Nachthemd, das Gesicht totenbleich. Frodo fragte sich in jäher Panik, wie lange sie wohl schon zugehört hatte, aber er bekam nie die Gelegenheit, sie zu fragen.

„Das ist nicht wahr!“ Es war kaum mehr als ein würgendes Flüstern. „Ich kenne ein solches Lied nicht, es gab nie… es gab niemals…“

Sie schwankte, versuchte vergeblich, sich am Türrahmen festzuhalten, und dann erlebte Frodo Beutlin zum ersten Mal seit er sie kannte, dass seine Frau in Ohnmacht fiel.

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*Aus: Fünf Dinge, die im Leben von Lily Stolzfuß nie geschehen sind, Kapitel 2


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