Über das Wasser (Across the waters)
von oselle, übersetzt von Cúthalion


1. Kapitel
Die Förde

Frodo und die anderen standen an der Reling des Schiffes, während es sich von der Küste entfernte. Er hob seine Hand zum Abschied, aber er brachte es nicht über’s Herz, zu winken. Er sah, dass Sam seinerseits die Hand hob und sie hochhielt. Die ganze Zeit, während das Schiff durch die lange Förde segelte, konnte Frodo diese erhobene Hand sehen, ein kleines, weißes Zeichen in der aufziehenden Abenddämmerung. Das Schiff wandte sich hinaus aufs Meer und Frodo lehnte sich über die Reling. Er konnte Sams Hand noch lange Zeit erkennen, während sie kleiner und undeutlicher wurde.

Die schattigen Ufer der Förde wichen zurück und vor ihnen öffnete sich die weite Wasserfläche. Der Abend hatte sich verdunkelt und Frodo wusste, dass es Sam nicht länger möglich sein würde, das Schiff zu sehen. Plötzlich erinnerte er sich an die Phiole der Herrin in seiner Manteltasche, und er zog sie hervor und sah sie an, während sie mit Eärendils Licht in seiner Handfläche erglühte. Als das Schiff den Golf verließ, hielt er die Phiole vor sich in die Höhe. Sie schimmerte in den abendlichen Schatten und ihr heller Schein erleuchtete sein Gesicht. Siehst du sie, Sam? Siehst du mich?

Das Schiff entfernte sich weiter vom Land und die Küste von Mittelerde verblasste im Abendnebel. Als die Küstenlinie zu einem undeutlichen Schatten dahingeschwunden war, wandten sich die anderen von der Reling ab, einer nach dem anderen, bis nur noch Frodo zurückblieb. Frodo wusste, dass Sam nicht weggeritten war, als er das Schiff aus den Augen verlor; er würde mit Merry und Pippin am Ufer bleiben und auf das Wasser hinausschauen, noch lange nachdem nichts mehr zu sehen war als die dunkler werdenden Wellen. Deshalb blieb Frodo ebenfalls, an der Reling des Schiffes stehend, die Phiole der Herrin in der Hand. Sie leuchtete wie ein Stern und ihr Spiegelbild glitzerte auf dem Wasser. Siehst du das, Sam? Siehst du mich? Leb wohl, Sam. Leb wohl.

Als er sicher war, dass das Schiff sich weit vom Land entfernt hatte und dass Sam ihn nicht länger sehen konnte, steckte er die Phiole in seine Manteltasche und wandte der verschwundenen Küstenlinie den Rücken zu. Sein ganzes Leben lang hatte Frodo das Meer in seinen Träumen gehört, aber jetzt, als er darüber hintrieb, wurde er von seiner Weite überwältigt. Um sich her sah er nichts als Wasser, und über ihm kreisten und funkelten die Sterne. Noch nie hatte er sich so klein gefühlt.

Er wickelte sich in seinen Mantel und wanderte zum Bug des Schiffes. Weißer Schaum wogte davor hoch, und feine, salzige Gischt legte sich wie ein Nebel über sein Haar und sein Gesicht. Sie schienen sich mit großer Geschwindigkeit zu bewegen, obwohl sich das Wasser leise am Bug brach und das Schiff so leicht dahinglitt wie ein Ruderboot auf einem stillen See. Frodo konnte kaum fühlen, wie es sich unter seinen Füßen regte. Über ihm glitzerten die über den Himmel verstreuten Sterne. Die Augen schließend, sah er wieder Sams Hand, erhoben im dunklen Zwielicht.

Frodo spürte eine sanfte Berührung auf seiner Schulter und öffnete die Augen. Er sah, dass Gandalf neben ihm stand.

„Das Meer ist wunderschön, nicht wahr?“ sagte der Zauberer.

„Ich habe nie etwas ähnliches gesehen.“ antwortete Frodo. „Ich frage mich, ob ich jemals wieder so etwas zu sehen bekomme.“

Gandalf lächelte. „Du wirst feststellen, dass du in Elbenheim nie weit vom Meer entfernt bist. Die Elben lieben das Meer, wie sie die Sterne lieben.“

„Und was werde ich dort sonst noch finden, Gandalf? Was wartet auf mich?“

Gandalf ließ sich auf die Knie nieder und sah Frodo in die Augen. „Frieden und Trost wirst du dort finden. Du musst dir keine Sorgen machen.“

„Ich mache mir keine Sorgen... nicht richtig. Aber...“ Er betrachtete die leeren Wellen um sich her. „Alles ist so... groß. Es ist nicht wie daheim.“

„Es wartet ein Heim auf dich, Frodo. Ein Ort, wo du ausruhen und geheilt werden kannst.“

„Ausruhen...“ sagte er, und eine große Erschöpfung und Sehnsucht überkam ihn. Er schloß die Augen und holte tief Atem.

„Bist du müde, Frodo?“ fragte Gandalf. „Möchtest du nach unten gehen?“

Frodo öffnete die Augen. „Ich bin müde. Aber ich glaube, ich möchte noch eine Weile auf das Wasser hinausschauen.“

„Also gut, Frodo. Wenn dir kalt wird, oder wenn du schläfrig werden solltest, dann geh ein bisschen hinunter.“

„Ja, Gandalf.“ sagte Frodo und lächelte zu ihm hoch. „Das werde ich.“

Frodo blieb im Bug des Schiffes, nachdem Gandalf gegangen war, und lauschte den Worten des Zauberers in seinem Geist. Ein Ort, wo du ausruhen und geheilt werden kannst. Natürlich, deshalb hatte er Mittelerde verlassen. Er wusste, dass er ein kurzes Leben voller Schmerzen und Krankheit vor sich gehabt hätte, wenn er geblieben wäre, ein Leben voll ständig wachsender Verzweiflung. In nur zwei Jahren war die durch seine Wunden verursachte Qual in dem selben Maß gewachsen, wie sich seine Schwermut vertieft hatte. Er fragte sich, welches von beiden zuletzt sein Ende gewesen wäre. Nein... es hatte wenig Hoffnung für ihn gegeben in Mittelerde, und Arwens Opfer hatte ihm die freie Überfahrt in den Westen ermöglicht. Hätte er sich anders entscheiden können?

Und doch, jetzt, da er an Bord des Schiffes stand, Mittelerde den Rücken zugewandt und vor sich seine unbekannte Zukunft, fragte er sich, ob eine Heilung überhaupt möglich war. Er hielt seine rechte Hand in den Himmel und untersuchte ihren verwundeten Umriss. Er zog seine Finger zusammen und der kleinste krümmte sich hinüber und bildete ein kleines Dreieck über der Stelle, wo sein Mittelfinger sein sollte. Durch die Lücke konnte er die hellen Sterne sehen.

Er begann eine langsame, bedächtige Bestandsaufnahme von jeder Verletzung auf seinem Körper. Die schwere Narbe in seinem Nacken, die die Ringkette zurückgelassen hatte, fühlte sich unter seinen Fingern dick und unangenehm an. Er zog eine Grimasse, als er die Vertiefung von dem Spinnenstich ertastete, und zwang den Gedanken an das Ungeheuer aus seinem Geist. Selbst durch sein Hemd hindurch konnte er die Narbe ausmachen, die der Peitschenhieb des Orks in seine Seite gezeichnet hatte. Er fing an, seine Hand in den Hemdkragen zu schieben und nach der linken Schulter zu tasten, dann hielt er inne. Er brauchte sie nicht zu berühren. Die Verletzung quälte ihn jetzt ununterbrochen, und er war sich ihrer ständig bewusst.

Frodo fühlte sich unermesslich müde, und er fand es mühsam, seine Augen offen zu halten. Ich sollte hinuntergehen, dachte er, und doch zog er es vor, an Deck zu bleiben. Er war erschöpft, zu erschöpft, um irgendjemandem gegenüberzutreten, zu erschöpft selbst dafür, sich auf die Suche nach seinem Bett zu machen. Er raffte seinen Mantel mit den Händen zusammen und setzte sich hin, gegen die Aufbauten des Vorschiffes gestützt. Er legte den Kopf zurück und schloss mit einem dankbaren Seufzer die Augen. Das war besser.

In der Dunkelheit hinter seinen Augenlidern sah Frodo wieder Sams weiße Hand, so klein gegen die Weite der Nacht, das letzte, was er jemals von Mittelerde sehen würde. Oh, Sam. dachte Frodo. Wie ist all dies passiert? Und wie wird es enden?

Bilder aus der Vergangenheit trieben durch Frodos Geist, als würde er die Bilder einer Ausstellung betrachten. Das Geräusch des Wasser gegen das Schiff war beruhigend, und es schien lauter zu werden, als er sich der Grenze zum Schlaf immer mehr näherte. Das Wasser, dachte er träumerisch. Wasser...


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