Über das Wasser (Across the waters)
von oselle, übersetzt von Cúthalion


3. Kapitel
Wasserfälle

Wasser.

Das Geräusch des Wasserfalls war das erste gewesen, was Frodo in Bruchtal gehört hatte, und es schien, als würde es auch das letzte sein. Seit seinem Erwachen an jenem hellen Oktobermorgen hatte der Klang von herabstürzendem Wasser ihn beruhigt und in jeder Nacht, die er in diesem Zimmer verbrachte, hatte er seinen Geist erhoben. Jetzt, an einem eisigen Dezembertag, stand Frodo auf dem kleinen Balkon außerhalb seines Zimmers und ließ sich von dem silbrigen Murmeln erfüllen, wohl wissend, dass er es wahrscheinlich nie wieder hören würde.

Es war spätnachmittags, und die letzte Helligkeit des Wintertages wich aus dem Himmel. Warme Lichter erschienen in den Fenstern um ihn herum, und Frodo konnte das Glühen von Feuer durch das offene Tor der großen Halle erkennen. Es war eine so friedliche Szenerie, dass Frodo kaum glauben konnte, dass er so bald gehen würde. Und doch war er hier, in Reisekleidung, ein Schwert am Gürtel, darauf vorbereitet, sich auf den Weg zu machen, sobald der Abend hereingebrochen war.

Frodo ließ die Hand in sein Hemd gleiten und arbeitete sich unter das Kettenhemd vor. Er legte seine Finger über die Narbe auf seiner linken Schulter und ließ versuchsweise den Arm kreisen, wie er es sich angewöhnt hatte. Wie immer fühlte sich die Narbe leicht gerunzelt an und die Haut an ihren Rändern zerrte ein wenig bei der Drehung der Schulter, aber ansonsten spürte er kaum etwas. Dennoch war da eine schwache Kälte; die Haut an dieser Stelle schien geringfügig kühler zu sein als anderswo. Frodo war sicher gewesen, dass er sich das nur einbildete, aber Elrond hatte es auch bemerkt und leicht die Stirn gerunzelt.

„Tut es dir weh, Frodo?“ hatte er gefragt.

„Nein. Ich kann nicht einmal sagen, dass da irgend etwas Ungewöhnliches wäre, es sei denn, ich berühre die Stelle mit meiner anderen Hand. Meint Ihr, dass es nach einer Weile vergehen wird?“

„Ich kann es nicht sagen. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so grausam verletzt wurde, und überlebt hat, um davon zu berichten. Es mag vergehen, oder es mag dir in deinen späteren Jahren einiges Unwohlsein bereiten.“

Frodo hatte nicht geantwortet, denn er argwöhnte, dass es, was ihn anging, nicht allzu viele „spätere Jahre“ geben mochte.

Er ließ die Hand zu seiner Brust wandern, wo der Ring an Seiner Silberkette hing. Es war außergewöhnlich, das dieses Ding, das für so lange Zeit still in Beutelsend gelegen hatte, ihn jetzt auf diese hoffnungslose Reise schickte. Und hoffnungslos schien sie zu sein. Frodo hatte in seinen zwei Monaten in Bruchtal Karten studiert und mit den Weisen gesprochen, und er würde Gefährten bei sich haben, die wesentlich mehr vom Rest der Welt wussten als er; und doch blieb er unsicher, ob es möglich sein würde, seine Aufgabe zu erfüllen. Nur Gandalf war in den Dunklen Landen gewesen, und das vor einiger Zeit, und nicht mit dem Ring des Feindes um seinen Hals. Frodo hatte mit einiger Bestürzung registriert, dass Elrond und Gandalf es zufrieden gewesen waren, ihn die meiste Zeit mit Bilbo verbringen zu lassen, als wüssten sie, wie wenig Rat oder Ermutigung sie ihm zu bieten hatten.

Frodo schaute hinauf in den Winterhimmel und erinnerte sich an Bilbos Lied.

Am Feuer sitze ich und denk,
Die Welt ist wunderlich,
Folgt auf den Winter doch der Lenz
Dereinst nicht mehr für mich.

Er seufzte bei dem Gedanken, dass dieser Winter sehr wohl auch sein letzter sein konnte, und dass er den darauf folgenden Frühling dann auch nie sehen würde.

Ein Geräusch im Zimmer hinter ihm riss ihn aus seinen düsteren Gedanken. Er hatte weder eine Lampe noch eine Kerze angezündet, bevor er hinausging, und es war zu dunkel, um zu sehen, wer sein Zimmer betreten hatte.

„Ist da jemand?“ rief er.

„Bloß ich, Herr Frodo.“ sagte Sam. „Ich hab geklopft, aber nichts gehört, und da bin ich reingekommen.“

„Also, dann versteck dich nicht im Dunkeln, Sam. Komm heraus zu mir.“

Sam trat nach draußen auf den Balkon. Wie Frodo trug er die warme Reisekleidung, die die Elben ihnen gegeben hatten. Sein Mantel war am Hals fest verknotet, als fühlte sich Sam bereits von den eisigen Winden auf einem verlassenen Gebirgspass umzingelt, und das Pelzfutter strich über sein Gesicht.

„Jedermann versammelt sich in der Halle, Herr Frodo. Sie sagen, wir gehen los, sobald es dunkler ist.“

„Ich bin gleich unten. Es ist noch nicht dunkel, und ich wollte einen letzten Blick auf das Tal werfen.“

„Das ist ein hübscher Ort, nicht wahr? Und nicht nur hübsch, sondern auch glücklich. Weil ich mich nämlich in der ganzen Zeit, in der ich hier gewesen bin, kein bisschen besorgt oder traurig gefühlt hab. Ausgenommen von den ersten paar Tagen, in denen du so elend warst, natürlich.“

Frodo selbst hatte keinerlei Erinnerung an seine ersten Tage in Bruchtal. Er erinnerte sich, dass ihn der Klang von Vogelstimmen und herabsprudelnden Wasser geweckt hatte, und an das tanzende Muster aus Sonnenlicht an der Wand. Davor gab es nur eine riesige Leere aus eisiger Dunkelheit.

In dem Augenblick, bevor diese Dunkelheit über ihn hereingebrochen war, hatte Frodo gewusst, das er ertrank. Der Nebel vor seinen Augen hatte sich verdichtet, bis er fast blind war, und er konnte das wahnwitzige Kreischen von den Pferden der Schwarzen Reiter leichter hören, als dass es ihm möglich war, zu sehen, was mit ihnen geschah. Wasser strudelte um seine Knöchel, eben als er anfing, abzurutschen. Ich werde ertrinken, hatte er gedacht, erfüllt von absoluter Gewissheit. Er war auf die Pferdemähne gekrochen, aber in seinem blinden und geschwächten Zustand gelang es ihm nicht mehr, Halt zu finden. Das Pferd war sehr groß für einen Hobbit und Frodo schien lange Zeit zu fallen, bevor er auf die Wasseroberfläche traf. Jetzt ertrinke ich. begriff er, als der Fluß über seinem Kopf zusammenschlug; und in seinem letzten, bewussten Moment hatte er an seine Mutter und seinen Vater gedacht und daran, wie seltsam es war, dass ihr einziges Kind auf die gleiche Weise sterben sollte, wie sie vor so vielen Jahren gestorben waren.

„Herr Frodo?“

„Tut mir leid, Sam. Ich war nur in Gedanken.“

Sie schwiegen für eine kleine Weile. Über ihren Köpfen kamen am tiefblauen Himmel weiße Sterne zum Vorschein, einer nach dem anderen. Normalerweise liebte es Frodo, die Sterne anzuschauen, aber heute bedeutete ihre Ankunft nur, dass seine Zeit in diesem sicheren Hafen vorüber war, und sie erschienen ihm kalt und gleichgültig. „Ich nehme an, wir sollten gehen.“

„Müssen wir denn, Herr Frodo?“

„Du hast gesagt, wir würden gehen, wenn es dunkel ist.“ Frodo warf noch einen Blick hinauf zum Himmel, dann sagte er widerwillig: „Und dunkel scheint es zu sein.“

„Nein, Herr Frodo, ich meine...“ Sam senkte den Kopf und zupfte ein bisschen Fell vom Rand seines Mantels. „Ich meine, müssen wir überhaupt gehen? Müssen wir?“

„Sam, nur ich muss gehen. Der Ring gehört mir, und Er ist meine Bürde. Ich habe mein Wort gegeben, Ihn zu zerstören, und ich kann es nicht zurücknehmen. Ich weiss nicht, ob es mir möglich sein wird, das zu tun, aber ich muss es versuchen, so lange ich kann. Ich bin sehr glücklich, dass du mit mir kommst, aber du bist nicht verpflichtet, mitzugehen, genauso wenig wie jeder der anderen.“

„Herr Frodo!“ rief Sam überrascht. „Das hab ich nicht gemeint! Ich gehe dahin, wo du hingehst... diese Elben haben gesagt Verlass ihn nicht! Und ich hab ihnen gesagt, ich würde dich nicht verlassen, und wenn du auf den Mond kletterst. Und das habe ich nicht gesagt, um ihnen einen Gefallen zu tun, wenn du mir folgen kannst, Herr.“

Frodo musste trotz der bedrückenden Lage der Dinge lächeln. „Ich folge dir doch immer, Sam.“

Sams Gefühle überwältigten ihn. Er schob die Hand unter seinen Kragen, als würde er ihn kratzen. „Nun, das ist gut zu hören, Herr Frodo. Ich wünschte nur, ich wünschte...“ Sam blickte unglücklich in das Tal hinunter. „Ich wünschte, du müsstest nicht gehen.“

„Ich weiß. Ich wünschte mir das auch.“

„Aber es sieht so aus, als wären die Dinge nicht mehr zu ändern.“ Sam seufzte schicksalsergeben. „Und so lange du gehst, gehe ich mit dir. Du könntest mich nicht davon abhalten, selbst wenn du’s versuchst.“

Frodo legte Sam die Hand auf den Arm. „Sam weißt du, was die Elben in dieser Nacht zu mir gesagt haben?“

„Nein, Herr Frodo. Was haben sie denn gesagt?“

„Sie sagten, dass man Mut an ungewöhnlichen Orten finden kann. Und weißt du was, Sam? Ich finde meinen Mut in dir.“

Sam ließ den Kopf sinken und selbst im schwachen Licht aus dem Tal konnte Frodo sehen, dass er errötete.

„Ich glaube, wir haben sie lange genug warten lassen. Bist du bereit zu gehen?“

Sam schaute zu ihm auf. „Ja, Herr Frodo. Früher angefangen ist früher zu Ende gebracht, mein’ ich jedenfalls.“

„Wollen wir’s hoffen, Sam. Wollen wir’s hoffen.“

Frodo gönnte dem lichterfunkelnden Tal einen letzten Blick. Er schloss die Augen und lauschte dem Wasserfall; er hoffte, er würde sich daran erinnern, und dass diese Erinnerung ihm ein Trost sein würde, wohin immer seine Straße ihn führte. Dann verließen er und Sam das Zimmer und machten sich auf den Weg durch die Abenddämmerung, um sich dem Rest der Gemeinschaft anzuschließen.


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