Winterfeuer
von Cúthalion

Kapitel 1
Winternacht


Es ist stockfinster, und es ist kalt. So kalt.

Ich friere entsetzlich. Ein schneidender Wind fährt unter meinen Pullover; es fühlt sich an, als würde mir jemand einen Schwall Eiswasser über Brust und Rücken gießen.

Ich kann kaum etwas sehen. Dicker Nebel wirbelt vor meinen Augen und meine Ohren dröhnen. Ich merke, dass meine Füße mich mit stolpernden, unsicheren Schritten vorwärts tragen, aber ich weiß nicht, wohin. Meine Knie sind weich und ich taste mit ausgestreckten Armen verzweifelt nach Halt. Endlich bleibe ich stehen, keuchend und zitternd vor Angst.

Mein Blick klärt sich etwas. Vor mir ist Wasser. Ich sehe die Oberfläche in der Dunkelheit glitzern, wo sich Licht gelblichweiß darin spiegelt. Es muss Nacht sein. Allmählich kann ich Bäume erkennen, kahle Blumenrabatten und sorgsam angelegte Wege. Ein Garten? Wenn es ein Garten ist, dann scheint er um diese Zeit völlig verlassen zu sein. Es ist still, bis auf ein unaufhörliches, an- und abschwellendes Rauschen im Hintergrund, das ich nicht identifizieren kann.

Ich wage wieder ein paar Schritte und kann noch etwas deutlicher sehen. Unter meinen Füßen ist jetzt überfrorenes Gras; es kracht leise, als liefe ich über Glassplitter.

Wo bin ich? Und wie bin ich hierher gekommen?

Plötzlich nimmt die Stille ein jähes Ende. Schräg links von mir erhebt sich dröhnender Lärm, der erst immer lauter wird und dann plötzlich abbricht. Weiße und blaue Lichter, gleißend hell, blenden schmerzhaft meine Augen, und Schritte nähern sich. Dann steht jemand vor mir, eine hohe dunkle Gestalt, ein Mann, und er spricht mich an. Seine Stimme ist entsetzlich laut; meine Ohren dröhnen immer noch, und ich verstehe nicht, was er sagt. Es klingt wie eine vage vertraute Fremdsprache. Ich hebe hilflos die Hände, und plötzlich greift die dunkle Gestalt nach mir. Panik überspült mich wie eine erstickende Flutwelle. Ich wende mich ab und versuche wegzulaufen... ein jämmerlicher Versuch, und ich komme nicht weit.

Nach ein paar Schritten knicken mir die Knie ein und alles wird schwarz.

*****

(Aus dem Polizeibericht vom 14. November 2003)

Gegen 23.30 Uhr wurde von Anwohnern in der Nähe des Teiches im Stadtpark eine unbekannte Frau beobachtet und telefonisch gemeldet. Die Einsatzstreife fand eine Frau Mitte Zwanzig vor, die orientierungslos dicht am Teichufer umherirrte. Beim Versuch, sie anzusprechen, wandte diese sich zunächst zur Flucht und verlor dann das Bewusstsein. Die Personalien konnten mangels Ausweispapieren nicht festgestellt werden. Die Streife alarmierte einen Krankenwagen, der die Unbekannte gegen 0.00 Uhr ins Kreiskrankenhaus transportierte.

******

(Eintrag Notaufnahme Kreisklinikum, 15. November 2003, 0.30 Uhr)

Um 0.10 Uhr wurde eine Patientin Mitte Zwanzig eingeliefert. Die Frau war nicht ansprechbar. Blutdruck und Körpertemperatur wiesen auf einen Schockzustand hin und die Blutanalyse ergab einen starken Eisenmangel. Die Identität der Patientin ist momentan noch nicht festzustellen; bis zum Aufwachen und der erst anschließend möglichen Erstellung einer Anamnese wurde die Patientin ins Haupthaus überstellt (Innere Abteilung, Zi. 124)

*****

Als ich die Augen öffne, stürmt eine reinweiße Welt auf mich ein. Über mir, neben mir, unter mir. Ich bewege eine Hand und die Handfläche streicht über glatten Stoff. Offensichtlich hat man mich zugedeckt. Und man hat mir etwas anderes angezogen.

Ich blinzele, stütze mich auf die Ellbogen, versuche mich aufzusetzen. Ein mächtiges Schwindelgefühl lässt mich in die Kissen zurücksinken; ich schließe die Augen und schlucke den Speichel herunter, der sich in meinem Mund sammelt.

Vereinzelte Erinnerungsfetzen treiben durch meine halbe Betäubung. Ich heiße sie dankbar willkommen, obwohl ich sie nicht einordnen kann.

Noch nicht.

Ein anderes Bett, ein anderes Zimmer. Aber die Wände, die mich dort umgeben, sind grau, nicht weiß. Der Raum hat keine Fenster, und auf dem Tisch neben dem Bett brennt eine Kerze in einem Leuchter. Und dort sind Menschen. Sanfte Hände, die mich berühren. Jemand hebt meinen Kopf und gibt mir zu trinken... der Geschmack von Johanniskraut und Weidenrinde, die scharfe Bitterkeit durch Honig gemildert. Und Stimmen über mir, leise und besorgt.

„Wird sie sich erholen?“

„Wir helfen ihr, so gut wir können. Aber sie ist schwach.“

Wo war das? Ein Kloster? Eine alte Burg? Ich weiß es nicht. Aber es kommen noch mehr.

Gras unter meinen bestiefelten Füßen. Ein tödlich grauer Himmel. Und das Donnern vieler Pferdehufe, das den Boden erzittern lässt.

Eine steinerne Stadt, alt und ehrwürdig schön, aber seltsam verlassen und offenbar teilweise zerstört. Eine hohe Mauer, dahinter eine endlos grüne Weite. Aber überall brennen Feuer und die Luft ist voll von schwarzem Qualm. Er treibt in Schwaden dahin und verdeckt immer wieder die Aussicht auf das schmale, silbrige Band des Flusses am Horizont.

Ich starre mit weit geöffneten Augen an die weiße Decke. Das nächste Bild ist das deutlichste von allen, es trifft mich wie ein heftiger Schlag.

Ich stehe auf einem weiten Feld, das einstmals grün und schön gewesen sein muss. Jetzt ist es verwüstet und aufgewühlt. Überall liegen Leichen, der Geruch ist unerträglich. Meine eigene Körperlichkeit wird mir plötzlich bewusst; meine Knie zittern, mein rechter Arm hängt nutzlos herunter, und Blut tropft von meinen Fingerspitzen. Ein einzelner Reiter starrt aus dem Sattel auf mich herunter. Sein Gesicht ist rauchgeschwärzt, und er trägt ein stark mitgenommenes Kettenhemd. Sein langes, schwarzes Haar ist zerzaust und staubig. Ich schaue zu ihm auf. Der Schmerz in meinem Arm wirft mich fast um. Und trotzdem fange ich an zu lachen. Und der Reiter lächelt, die Zähne verblüffend weiß in dem schmutzigen Gesicht.

Was für Träume! Vor allem dieser letzte. Und er war so deutlich wie ein gestochen scharfer Film, der vor meinem inneren Auge abläuft. Ich spüre plötzlich einen heftigen Durst; mein Mund ist trocken. Ob hier wohl irgendwo ein Glas Wasser steht? Ich drehe mich zur Seite, und in diesem Augenblick öffnet sich die Tür.

Die Frau, die hereinkommt, ist fast genauso weiß wie das ganze Zimmer. Es muss sich um eine Ärztin handeln; sie trägt einen Kittel, der aussieht wie frisch gebügelt, ein Stethoskop hängt um ihren Hals. Meine Augen bleiben an den Kugelschreibern hängen, die in ihrer Brusttasche stecken und halten sich daran fest. Sie zieht sich einen Stuhl neben mein Bett, setzt sich und fühlt mir mit professioneller Routine den Puls.

„Sehr schön.“ sagt sie. „Viel besser als heute nacht. Wie geht es Ihnen?“

„Ich... ich weiß nicht.“

Der Klang meiner Stimme, heiser und eigenartig guttural, überrascht mich. Das Seltsamste ist, dass ich mich darüber wundere, wie sich die Worte anhören. Es ist, als spräche ich eine andere Sprache, ohne wirklich zu wissen, welche.

„Die Polizei hat Sie im Stadtpark gefunden, gegen Mitternacht. Sie sind offenbar in der Nähe des Teiches herumgeirrt. Haben Sie eine Ahnung, wie Sie da hingekommen sind?“

„Nein.“

„Können Sie mir sagen, wie Sie heißen? Sollen wir jemanden für Sie benachrichtigen?“

„Ich.. ich bin Sabrina... Sabrina Steinenberg.“

Wenigstens eine Sache, der ich mich sicher bin. Ich heiße Sabrina.

„Schön, Frau Steinenberg. Wir haben keine Ausweispapiere bei Ihnen gefunden. Können Sie mir sagen, wo Sie waren, bevor Sie im Stadtpark entdeckt wurden?“

„Ich... ich habe keine Ahnung.“

„Schon gut.“ Die Ärztin tätschelt beruhigend meine Hand. Ihr Gesicht ist müde und nicht mehr ganz jung, aber sehr freundlich. „Das kommt sicher alles wieder. Sie haben jedenfalls keine Kopfverletzung, so weit wir feststellen können, also hat es sicher nur mit der Erschöpfung zu tun. Aber wir haben etwas anderes gefunden. Ihr rechter Arm ist vor nicht allzu langer Zeit gebrochen worden. Das muss ein offener Bruch gewesen sein, und eine tiefe Fleischwunde, wie von einem langen Messer. Können Sie mir sagen, wie das passiert ist?“

Ich starre sie an. Dann, mit einer hastigen Bewegung, zerre ich mir das Krankenhausnachthemd von der Schulter und starre auf meinen Arm. Eine lange, rote, gerade erst verheilte Narbe auf der hellen Haut, wulstig und frisch.

Ein krachender Schlag, und ich liege mit dem Gesicht nach unten und schreie vor Schmerz in die aufgewühlte Erde. Über mir steht mein Tod, einen Dolch in der Hand.

Nein. Oh nein.

Der lächelnde Reiter. Er hebt mich aufs Pferd, ich spüre den zerschrammten Kettenpanzer im Rücken, rieche Blut, Verzweiflung und das Sterben von Tausenden am Körper des Mannes, der mich behutsam gegen seine Brust drückt, während sein Pferd in einen langsamen Schritt fällt.

Das ist nicht wahr.

Und plötzlich ist alles wieder da, jede Einzelheit, jedes Bild, jede Erinnerung. Mein Kopf fällt nach hinten, ich kralle die Hände in den Ausschnitt meines Nachthemdes und höre jemanden in wahnwitziger Verzweiflung aufschreien. Und dann wird mir zum zweiten Mal innerhalb von kurzer Zeit schwarz vor Augen.


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