Winterfeuer
von Cúthalion

Kapitel 2
Zwei Tagebücher


Sie haben mich verlegt. Dies ist nicht mehr das Krankenhaus, in dem ich zuerst aufgewacht bin. Irgendwann zwischen der seltsam surrealen Begegnung mit der Ärztin und diesem Augenblick haben sie mich woandershin gebracht.

Ich habe einen säuerlichen Geschmack im Mund und ein pelziges Gefühl auf der Zunge. Von dem Bett aus kann ich das Fenster sehen. Draußen geht die Sonne auf und wieder unter, Sonnenstrahlen geistern durch das Zimmer, erst bläulich rosa, dann weiß. Abends färbt sich das Licht rot und verschwindet, während ich still liege, den Kopf in das Kissen gedrückt, und versuche, nicht zu denken.

Sie machen es mir leicht – nicht zu denken, meine ich. Sie haben mich mit einem Tropf ruhig gestellt, und als ich das erste Mal halbwegs zu mir kam, war ich außerdem an dem Bett festgeschnallt. Während der ersten Tage, die ich hier war, zog sich die Zeit wie ein elastisches Band. Ich starrte mit halb geschlossenen Augen auf das Fenster, und registrierte gleichgültig, dass es vergittert ist – elegant geschwungenes, schwarzes Schmiedeeisen, aber ein Gitter bleibt ein Gitter, wie elegant auch immer.

Seit heute morgen habe ich zum ersten Mal das Gefühl, richtig wach zu sein. Ein Arzt kam mit einer Schwester herein; sie haben den Tropf entfernt. Der Arzt hat mich angesprochen. Ich habe einsilbig geantwortet, meinen Namen genannt, und schließlich bekamen wir so etwas wie eine Unterhaltung zustande. Anscheinend befürchten sie nicht mehr, ich könnte mich während eines Anfalls verletzen oder auf das Pflegepersonal losgehen; nach dieser kurzen Unterhaltung hat der Arzt die Gurte gelöst und kurz meine Schulter getätschelt.

Als ob er mich damit trösten könnte.

Draußen geht wieder die Sonne unter. Ich stemme mich hoch, schlage die Decke zurück und setze vorsichtig die Füße auf den Boden. Als ich aufstehe, dreht sich das Zimmer in einem übelkeitserregenden Wirbel; in hoher Ton summt in meinen Ohren und ich halte mich krampfhaft am Kopfteil meines Bettes fest. Als das Zimmer zur Ruhe gekommen ist, gehe ich zum Fenster hinüber. Der Himmel ist von einem prachtvollem Purpurrot.

Hinter dem Haus liegt ein kleiner Garten mit weiß gekiesten Wegen, die sich um winterkahle Beete herumschlängeln. Drei, vier sorgsam beschnittene Apfelbäume recken ihre blattlosen Äste in den Himmel. Dann kommt ein Zaun (er ist hoch und sieht sehr stabil aus) und hinter diesem Zaun erstrecken sich abgeerntete Felder bis zum Horizont. Ganz weit hinten ist ein größerer Wald zu sehen. Eine Straße gibt es auch; Autoscheinwerfer tauchen auf wie Glühwürmchenlichter, ziehen einen Bogen und verschwinden wieder. Es sind nicht viele. Diese Klinik muss ziemlich abgelegen sein.

Ich gehe langsam zum Waschbecken an der Wand und drehe den Hahn auf. Erst ist das Wasser lauwarm, dann erfrischend kalt. Ich fahre mir mit nassen Händen durch die Haare und über die Wangen; als ich aufblicke, sehe ich mich im Spiegel.

Augen, die zu groß sind für das Gesicht. Kränklich blasse Haut und eine seltsam spitz wirkenden Nase. Strähnige Haare, die schlaff und wirr bis über den Rücken hinunterhängen. Ein fest verschlossener Mund... als müsste er ein Geheimnis gewaltsam zurückhalten.

Der letzte Spiegel, in den ich geschaut habe, war aus poliertem Messing. Seine Hände hatten mein Haar spielerisch zu einem Zopf geflochten, und ich löste die Flechten wieder auf, während ich mich wie gebannt betrachtete. Mein Arm war weiß bandagiert und die Wunde pochte, aber in diesem Moment spürte ich die Schmerzen nicht. Er trat hinter mich, noch immer nackt, und seine warme Hand umfasste meine bloße Brust.
„Du bist so schön. Ich kann kaum fassen, was für ein Geschenk du mir gemacht hast.“

Ich starre mich an und spüre, wie ich anfange zu zittern.

„Wann musst du gehen?“
Seine Hände liebkosten mich, sein Atem strich warm über meine Haut.
„Das Heer bricht heute Mittag auf.“
Ich zuckte heftig zusammen.
„Ich will dich nicht gehen lassen.“ sagte ich. Mein Köper war starr und angespannt.
„Wir haben noch eine Stunde.“
Er konnte so leicht in der Schlacht sterben.
„Eine Stunde...“

Ich beiße mir auf die Lippen und schließe die Augen.

„Eine Stunde ist viel...“
Seine Stimme war warm und tief, ich konnte das Lächeln darin hören. Ich spürte, dass er den Gedanken an den Weg zum Schwarzen Tor gewaltsam in sich verschloss. Er wollte mich schützen, und ich liebte ihn dafür so sehr, das mir das Herz wehtat.
„Vrlass mich nicht. Ich will nicht, dass du gehst.“

Ich lege eine Hand auf meinen Mund und spüre die Tränen, die mir unaufhaltsam über das Gesicht laufen. Mühsam taste ich mich zum Bett zurück, steif und hölzern wie eine alte Frau. Ich lege mich hin und ziehe mir die Decke über den Kopf.

„Verlass mich nicht.“

Ich krümme mich im Bett zusammen. Der Schmerz ist fast unerträglich. Am Ende hat er mich nicht verlassen. Der von uns beiden, der schließlich ging, war ich.

*****

Mittlerweile bin ich schon ein oder zwei Wochen hier – ich kann es nicht einmal genau sagen, obwohl auf den Gängen ein paar Fotokalender hängen. Die Ärzte sind sehr geduldig; fast jeden Tag sitze ich in einem weiß gestrichenen Sprechzimmer und beantworte Fragen. Jedenfalls wird das von mir erwartet.

Natürlich sage ich ihnen nicht die Wahrheit.

Ich sage nichts davon, wie die Realität, die über fünfundzwanzig Jahre lang mein Leben ausgemacht hat, sich von einem Tag zum anderen aufgelöst hat und verschwand. Ich erzähle nichts davon, wie sich die Worte plötzlich fremd anfühlten in meinem Mund.... von dem Schock, als ich begriff, dass ich mühelos und selbstverständlich eine völlig andere Sprache sprach, die ich nicht einmal kannte. Dass meine Jeans und mein handgestrickter Pullover verschwunden waren... und dass ich statt dessen weiche Lederstiefel und fremdartig geschnittene Hosen aus Leinen trug, und eine Tunika, die über der Brust mit Hornknöpfen geschlossen wurde.

Was ich ihnen vor allem nicht sage, ist das Unfasslichste an der ganzen Sache – dass dies nicht etwa eine Zeitreise war, die mir da zugestoßen ist. Die hätte ich vielleicht noch in mein Weltbild einordnen können. Statt dessen habe ich mich über Wochen in einem Universum bewegt, das es nicht gab, das es niemals gegeben hat und niemals geben wird.

Jedenfalls hatte ich das bis dahin geglaubt.

Die Ärzte haben mir vorgeschlagen, ein Tagebuch zu führen. Der Psychiater, der sich seit Tagen bemüht, eine Art Gesprächstherapie mit mir zu durchzuführen, hat mir ein Buch mit leeren, weißen Seiten gegeben. Ich soll hineinschreiben, was mich bewegt, meint er. Alles, woran ich mich erinnere, soll ich festhalten, damit sich irgendwann ein Gesamtbild ergibt, das einen Sinn macht. Nachdem er das gesagt hat, meldet sich sein Pieper; er entschuldigt sich und geht hinaus. Ich lasse meinen Blick müßig durch das Zimmer wandern und entdecke in einem Regal hinter seinem ausladenden Schreibtisch einen ganzen Stapel der gleichen Bücher wie das, das ich in der Hand halte. Ich stehe schnell auf, schleiche zu dem Regal, nehme ein weiteres Buch, schiebe es hinter den Hosenbund und lasse die lange, dunkle Bluse, die man mir gegeben hat, lose darüberfallen. Als der Arzt zurückkommt, wechseln wir noch ein paar Worte und er reicht mir mit großer Geste einen Kugelschreiber. Ich verabschiede mich, gehe hinaus und fühle auf dem ganzen Weg in mein Zimmer den kühlen Druck des Einbandes auf meiner Haut.

Mittlerweile sind sie zu dem Schluss gekommen, dass ich an schwerer Amnesie leide, und ich werde sie in ihrem Glauben lassen. Diese Lüge ist genauso aus der Verzweiflung geboren wie das letzte Mal, und auch damals ist sie mir nützlich gewesen. Es spielt keine Rolle, ob ich mich wirklich nicht daran erinnern kann, was ich die letzten drei Monate getan habe. Hauptsache, ich kann jedermann davon überzeugen, dass ich es tatsächlich nicht weiß.

Aber es muss – genau wie dort – jemanden geben, dem ich die Wahrheit sagen kann. Und unter meinen wenigen Verwandten und Freunden gibt es nur eine, der ich vielleicht erzählen kann, was mir passiert ist

Ich habe Faith in einem internationalen Journalisten-Forum kennen gelernt, und wir haben uns auf Anhieb sehr gut verstanden. Wir stellten fest, dass wir ähnliche Interessen haben, und fingen an, uns regelmäßig Mails zu schicken. Sie hat eine meiner Artikelserien redigiert, und ich halte sie für einen der klügsten und humorvollsten Menschen, den es gibt. Die Tatsache, dass wir uns noch nie gesehen haben, ist ein zusätzlicher Vorteil. Ich werde nicht gezwungen sein, den Zweifel in ihren Augen zu sehen, während ich ihr meine Geschichte erzähle... oder gar das Entsetzen und die wachsende Überzeugung, dass ich zu Recht in dieser psychiatrischen Klinik gelandet bin. Wenn sie dieses phantastische Bekenntnis liest, wird sie in Amerika vor ihrem Computerbildschirm sitzen – gesetzt den Fall, ich komme rechtzeitig wieder an meinen Laptop und kann mich noch daran erinnern, wie man ihn benutzt.

Vielleicht reiße ich auch die Seiten heraus und stecke sie in einen Umschlag. Hauptsache, ich kann es aufschreiben, und sie liest es irgendwann. Denn erzählen muss ich es jemandem, sonst verliere ich tatsächlich noch den Verstand.

Also sitze ich an diesem Abend an dem schmalen, wackligen Tisch am Fenster, und vor mir liegen zwei Bücher. Das eine – das, was ich den Ärzten geben werde – enthält ein paar karge Sätze. Ich kann mich kaum erinnern. Von Zeit zu Zeit treiben Namen vor meinem inneren Auge vorbei, aber sie verschwinden immer gleich wieder. Ich wünschte, ich wüsste, was ich in den letzten drei Monaten getan habe. Hoffentlich sind sie damit zufrieden.

Natürlich stimmt kein Wort davon. Ich weiß genau, wo ich war.

Liebe Faith, schreibe ich (und ich hoffe, mein Englisch lässt mich nicht im Stich), liebe Faith, ich muss dir etwas erzählen. Möglicherweise wirst du mir nicht glauben, aber ich muss es trotzdem versuchen.

Ich halte inne. Ich bin es nicht mehr gewöhnt, wie früher mit einem Stift zu schreiben; wahrscheinlich wird mir nach drei Seiten die Hand entsetzlich weh tun. Ich entscheide, dass das keine Rolle spielt, und schreibe weiter.

Es fing alles vor etwa drei Monaten an; ich war mit einer Recherche beschäftigt und auf dem Weg in die Stadtbücherei...


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