Winterfeuer
von Cúthalion


Kapitel 3
Erinnerungen


Schreib was über Tolkien. hatte der Chefredakteur der Zeitung, für die ich zuweilen arbeitete, am Telefon gesagt. Ich konnte das ironische Grinsen in seinem Gesicht beinahe sehen. Sie haben diese Filme über seinen Riesenschinken gedreht, und der Werbeaufwand, den die betreiben, ist gigantisch. Der erste Film bricht alle Kinorekorde und ist über ein Dutzend Mal für den Oscar nominiert. Erklär unseren Lesern doch mal , woran das liegt. Du musst das doch wissen, nicht?

Aber sicher doch. Und jetzt war ich an einem farbenglühenden Septembertag auf dem Weg in die Bücherei. Ich kannte die Bibliothekarin und sie liebte Tolkien ebenso sehr wie ich, wenn nicht noch ein bisschen mehr. Sie hatte reichlich Sekundärliteratur auf Lager, und auch manche der Neuerscheinungen, die ich mir noch nicht gekauft hatte. Meine Ausgabe des „Herrn der Ringe“ war zwölf Jahre alt, die anderen Bücher von ihm, die ich besaß, kaum jünger.

Die Bücherei war in einem alten, verwinkelten Fachwerkhaus untergebracht; an jedem Fenster standen bequeme Stühle und kleine Tischchen, auf die man seine Lektüre ablegen konnte. Ich ließ mich in einer Nische nieder und schlug die Tolkien-Biographie von Humphrey Carpenter auf, die ich aus einem Regal gezogen hatte. Das Buch öffnete sich an einer offenbar vielgelesenen Stelle. Humphrey Carpenter schrieb über einen sehr wichtigen Zeitabschnitt in Tolkiens Leben... der kurze, idyllische Teil seiner Kindheit, den er und sein Bruder mit ihrer Mutter im ländlichen Sarehole nahe Birmingham verbracht hatten. Meine Augen blieben an einem Satz hängen: Sie fiel in ein diabetisches Koma und starb Stunden später. Der Tod von Mabel Tolkien hatte ihren Sohn tief verstört, und die kurze glückliche Zeit vor ihrem Ende hatte ihn für den Rest seines Lebens geprägt.

Ich las den Satz wieder und wieder; mit einem Mal brannten meine Augen und ich spürte, wie mir die Kehle eng wurde.

Und plötzlich war ich wieder dreizehn, und ich saß an einem Tisch, der liebevoll gedeckt war... aber ein Stuhl blieb leer. Wir saßen einander gegenüber, mein Vater und ich, und wagten nicht, uns anzusehen. Meine Mutter war einen Monat zuvor bei einem dieser sinnlosen Autounfälle ums Leben gekommen, die man hinterher nie so richtig erklären kann. Warum hatte die alte Frau bloß ausgerechnet in diesem Moment mit überhöhter Geschwindigkeit aus ihrer Ausfahrt hervorpreschen müssen – nämlich, als meine Mutter gerade mit einem vollen Einkaufskorb daran vorbeikam? Sie hatte wohl bremsen wollen, statt dessen aber das Gaspedal erwischt, und sie fuhr meine Mutter einfach über den Haufen. Sie war sofort tot. Und für meinen Vater brach seine ganze Welt zusammen.

Er verstummte fast völlig. Ich hätte jemanden gebraucht, der mit mir sprach, der mich in den Armen hielt und tröstete, aber mein Vater war einfach nicht dazu imstande. Nachts konnte ich ihn im halbleeren Ehebett bitterlich weinen hören, aber die schreckliche Wucht seiner Trauer schreckte mich ab; es war als sei ich für ihn unsichtbar geworden. Eine energische Tante nahm die Sache endlich in die Hand; als mein Vater die Einladung zu einem Ärztekongress erhielt und sie erleichtert akzeptierte, wurde ich in einen Zug gesetzt und in Richtung Norddeutschland verfrachtet, zu meiner Großmutter.

Einige Tage vor dem Tod meiner Mutter hatte ich angefangen, den „Herrn der Ringe“ von Tolkien zu lesen, und in den langen Wochen des Kummers und der herzzereißenden Einsamkeit hatte ich mich immer wieder hinter dieser Geschichte verschanzt. Mochten die Tolkien-Gegner über Eskapismus spotten... noch nie zuvor in meinem Leben hatte ich eine Fluchtmöglichkeit so nötig gebraucht. Frodo Beutlin, der kleine tapfere Hobbit mit seiner schier unlösbaren Aufgabe, wurde mein bester Freund. In den langen Nächten, wenn das Schluchzen meines Vaters durch die Wand zu mir drang und ich mich mit Buch und Taschenlampe unter meiner Bettdecke verkroch, schloss ich eine Art Handel mit der Vorsehung ab: Wenn es meinem Helden gelänge, den Ring des Feindes tatsächlich in den Schicksalsberg zu werfen, dann würde mein Vater mich wieder wahrnehmen, und wir könnten einander endlich den Trost spenden, den wir beide so dringend brauchten. Ganz bestimmt.

Während der Eilzug Richtung Norden ratterte, saß ich in meine Abteilecke gedrückt und arbeitete mich durch den dritten Band. Ich las, wie Frodo ins Auenland zurückkehrte, nachdem seine Aufgabe endlich erfüllt war, und wie er von dort, erschöpft und lebensmüde, zu den Grauen Anfurten ging. Und ich kann nicht mitgehen! sagte Sam im Buch zu seinem Herrn. Verlass du mich doch bitte nicht auch noch! flüsterte eine verzweifelte Stimme in meinem Herzen.

Ich erreichte den Bahnhof, ein kleines, holsteinisches Nest weit hinter Hamburg, als es schon dämmerte. Auf unsicheren Beinen stieg ich aus dem Zug und sah meine Großmutter, die ganz allein in der kleinen Station auf mich gewartet hatte. Ihre langen, eisgrauen Haare waren zu einer geflochtenen Krone aufgesteckt; sie trug einen knöchellangen, schwarzen Rock und ihre himmelblaue Lieblingsjacke, die meine Mutter erst zum letzten Weihnachtsfest selbst für sie gestrickt hatte. Sie saß auf einer niedrigen Holzbank, und als sie mich erkannte, lächelte sie ihr vertrautes, geliebtes Lächeln und breitete die Arme aus.

„Hallo, min seute Deern“*. sagte sie. „Da bist du ja endlich.“

Ich ließ meine Reisetasche fallen und ging auf sie zu; als ich sie erreicht hatte, war ich buchstäblich am Ende meiner Kraft. Das nächste, was ich weiß, war, dass ich mitten auf dem Bahnsteig vor der Bank hockte, den Kopf in ihrem Schoß vergraben, und dass ich weinte wie noch nie zuvor in meinem Leben. Ich weinte um meine tote Mutter und um meinen Vater, der mit ihr gestorben zu sein schien, und ich weinte um mich selbst, während sie mir den Kopf streichelte und leise, fast stimmlos vor sich hinsummte.

Und so eigenartig das klingt – ich weinte auch um Frodo Beutlin, der mir so sehr ans Herz gewachsen war, und der vor meinem inneren Auge hinter den Horizont segelte, an Bord eines Elbenschiffes, dessen weiße Segel in der Dämmerung verschwammen.

*****

Die Erinnerung, die mich in der Bücherei überfallen hatte, verfolgte mich den ganzen Rest des Tages. Ich aß abends eine Kleinigkeit, dann setzte ich mich an meinen Schreibtisch, klappte meinen Laptop auf und versuchte einen ersten Entwurf des Artikels.

Ich bekam nicht einmal einen Satz zustande. Fast eine halbe Stunde starrte ich blicklos auf den leeren Bildschirm und erinnerte mich an immer noch mehr. An das reetgedeckte Haus meiner Großmutter, das mitten in einem bienensummenden Garten stand und die vielen Kräuter, die sie dort zog und trocknete. Sie betrieb einen schwunghaften Handel mit selbst zusammengestellten Tees und versorgte die halbe Nachbarschaft ihres Dörfchens damit (Die andere Hälfte wechselte zuweilen die Straßenseite, wenn meine Großmutter sich näherte und kreuzte verstohlen die Finger hinter dem Rücken. Meine Großmutter machte sich nichts daraus, und so manche Frau, die sie tagsüber nicht grüßen wollte, kam nach Einbruch der Dunkelheit, um sich von ihre die Karten legen zu lassen).

Ich lernte bei ihr, dass man Weidenrinde zum Fiebersenken benutzt und wie man aus Ringelblumen eine zähe, stark duftende Salbe herstellt. Nach ein paar Wochen konnte ich die echte von falscher Kamille unterscheiden und brachte einen recht ordentlichen Beruhigungstee mit Kapuzinerkresse und Johanniskraut zustande. Und wenn ich mit meiner Großmutter nicht gerade Kräuter pflückte, dann lag ich auf der Wiese hinter ihrem Haus, kaute an einem Sauerampferstengel und las den „Herrn der Ringe“ ein zweites und ein drittes Mal.

Mein Vater meldete sich nur ein paar Mal telefonisch, und wir redeten auch nur denkbar kurz miteinander. Nach jedem dieser Telefonate vergrub ich mich noch tiefer in mein Fluchtbuch. Offenbar hatte mich das Schicksal betrogen – der Ring war ins Feuer geworfen worden, aber mein Vater – inzwischen vom Ärztekongress zurück und in seiner Praxis bis zum Hals in Arbeit vergraben – ließ mich immer noch nicht an sich heran. Meine Großmutter hielt sich klugerweise zurück, nur einmal sagte sie: „Immer sutje, Deern**. Er braucht seine Zeit.“ Ich sah sie an, dann klemmte ich mir „Die zwei Türme“ unter den Arm und ging mit hängendem Kopf hinaus auf die Wiese. Ich brauche keine Zeit, dachte ich, ich brauche ihn, und er lässt mich im Stich.

Vier Monate später fuhr ich dann zu ihm zurück und wir tasteten uns mühsam wieder aneinander heran. Ich wiederholte das abgebrochene Schuljahr, hielt ein paar Jahre die Position als Klassenbeste und machte meinen Abschluss. Mein Vater, der damals schon krank gewesen war, hätte es gern gesehen, wenn ich seine Praxis übernommen hätte. Ihm zuliebe studierte ich zwei Jahre lang Medizin, aber als er starb, gab ich den Versuch auf. Er hatte mich gut versorgt zurückgelassen; ich behielt unser Haus und fing an, als freie Journalistin zu arbeiten.

Als letzter von allem kam er. Seine Mannen zogen hinein. Die Ritter zu Pferde kehrten zurück, und in ihrer Nachhut das Banner von Dol Amroth und der Fürst. Und in seinen Armen vor sich auf seinem Ross hielt er seinen Vetter Faramir, Denethors Sohn, den man auf dem Schlachtfeld gefunden hatte.

Ich zuckte zusammen. Das Zitat aus der „Rückkehr des Königs“ kam mir so deutlich in den Sinn, als säße jemand neben mir und würde es laut vorlesen. Und wieder erinnerte ich mich; wie ich auf der Wiese hinter dem Haus meiner Großmutter lag, die Szene las und meine Tränen wegblinzeln musste.

„Faramir! Faramir!“ riefen die Leute weinend auf den Straßen. Aber er antwortete nicht, und sie trugen ihn die gewundene Straße hinauf zur Veste und zu seinem Vater.

Entnervt schaltete ich den Laptop ab und trank das Glas Wein aus, das ich mir eingegossen hatte, um gewissermaßen meine Inspiration zu beflügeln. Frische Luft... vielleicht würde ein Spaziergang helfen.

Ich zog einen handgestrickten Pullover über meine Hemdbluse und schlug den Weg zum Stadtpark ein. In dem verschlafenen Städtchen, in dem ich lebte, konnte eine Frau ohne weiteres auch zu später Stunde unbesorgt dort herumlaufen, und genau das hatte ich vor. Als ich den Park erreichte, war es fast Mitternacht, und die Straßenlaternen spiegelten sich gelb und weiß im Wasser des Teiches. Die Luft war feucht und kühl.

Ich umrundete den Teich ein paar Mal, aber ich war müde und fing an zu frösteln. Wahrscheinlich würde ich heute Abend sowieso nichts mehr schreiben. Ich konnte genauso gut nach Hause gehen und mich ins Bett legen.

Ich drehte mich um und machte ein paar Schritte, aber plötzlich war unter meinen Füßen nicht mehr der weiß gekieste Weg, sondern kurzes Gras. Mir wurde schwindelig, und zwar so heftig, dass ich den Halt verlor. Vor mir hatte ich eben noch eine Parkbank gesehen, und ich versuchte, mich daran festzuhalten... aber sie war verschwunden. Plötzlich fand ich mich auf Händen und Knien wieder, von starkem Brechreiz geschüttelt. Ich würgte und schloss die Augen. Das Gefühl, das ich in diesem Moment empfand, ist nicht ganz leicht zu beschreiben... es war, als würde ich aus mir selbst herausgerissen und durch einen langen Tunnel fallen. Dann wurde ich – obwohl ich mich immer noch nicht bewegte – mit voller Wucht aus diesem Tunnel ins Leere geschleudert... zurück in meinen Körper hinein.

Ich zitterte so stark, dass meine Zähne aufeinander schlugen. Mein gesamtes Knochengerüst vibrierte wie eine Bogensaite. Noch immer war mir entsetzlich übel, und ich fragte mich verzweifelt, wie ich es in diesem Zustand nach Hause schaffen sollte. Aber immerhin ließ der Schwindel nach und ich konnte meine Umgebung wieder wahrnehmen.

Das erste, was mir auffiel, war, dass sich der Geruch geändert hatte. Der Park roch zweifelsohne grün, der vielen Bäume und Sträucher wegen, aber man nahm auch noch die Nähe der Straße wahr, selbst wenn nachts vergleichsweise wenige Autos darauf fuhren. Der Geruch, den ich jetzt in der Nase hatte, war fremd und neu, und erstaunlich unverbraucht. Ich weiß, das klingt seltsam, aber besser kann ich es nicht ausdrücken.

Dann öffnete ich die Augen, richtete mich langsam auf und sah mich um.

Vor mir erstreckte sich, so weit das Auge reichte, eine grasige Landschaft ohne Häuser und Straßen, überwölbt von einem bleigrauen Himmel. Weit am Horizont waren verschwommen Berge zu erkennen. Und dieses Land war buchstäblich leer.

„Was um Himmels Willen...“

Jetzt stand ich auf den Beinen, schüttelte den Kopf und drehte mich langsam einmal um mich selbst, um mich zu orientieren. Auch hinter mir setzte sich die grasige Ebene bis an den Horizont fort. Diese Gegend schien völlig unbesiedelt zu sein.

Wie war ich hierher gekommen? War das ein Traum? Aber wie sollte das möglich sein – schließlich hatte ich nicht im Bett gelegen und geschlafen. Das letzte, was ich wusste, war, dass ich im Stadtpark vor dem Teich gestanden hatte und mich gerade auf den Heimweg machen wollte.

Ich rieb mir mit einer Hand über das Gesicht, und das war der Moment, in dem ich merkte, dass ich nicht mehr die Kleidung trug, in der ich an diesem Abend meine Wohnung verlassen hatte. Ich sah dunklen Stoff und darunter einen weißen Hemdsärmel. Für einen Augenblick erstarrte ich, dann schaute ich einigermaßen fassungslos an mir herunter.

Die Jeans, der bunte Pullover und die Turnschuhe waren verschwunden. Meine Füße steckten in weichen Lederstiefeln, die Beine in einer engen Hose aus einer Art Wollmaterial. Außerdem trug ich ein Hemd und darüber eine hüftlange Tunika. Zusätzlich war ich in einen fast knielangen Umhang gehüllt. Er hatte eine Kapuze, die über meinen Kopf gezogen war, und als ich nach dem Verschluss tastete, fand ich eine Art Brosche oder Fibel, die den Umhang am Hals zusammenhielt. Bei Versuch, sie zu öffnen, stach ich mir in den Finger.

„Au!“

Es tat weh, aber jetzt war ich sicher, dass das hier kein Traum sein konnte, denn ich wurde nicht wach - weder fand ich mich in meinem Bett wieder noch im Stadtpark.

Endlich brachte ich die Nadel auf, hielt den Mantel mit der freien Hand unter meinem Kinn fest und betrachtete die Brosche.

Sie maß etwa fünf Zentimeter im Durchmesser, war geformt wie eine Raute und sah aus wie mattiertes Silber, aber dafür war sie zu leicht. Möglicherweise Zinn. In die Oberfläche war ein Baum mit reich verästelter Krone graviert, und oberhalb der Krone hatte eine geschickte Hand sieben winzige, weiße Kristallsteinchen wie Sterne in das Metall eingesetzt.

Ein Baum und sieben Sterne.

In diesem Augenblick spürte ich, wie der Boden unter meinen Füßen sachte zu beben begann. Ich wandte mich nach Osten – jedenfalls nahm ich an, dass es Osten war, denn zur Orientierung fehlte mir die Sonne – und sah eine Gruppe von Reitern in schnellem Trab, etwa fünf oder sechs Mann. Sie waren noch ungefähr hundert Meter von mir entfernt, aber in meiner Verwirrung hatte ich sie bis jetzt schlichtweg nicht gehört. In dem Augenblick, als ich aufsah und sie endlich bemerkte, hielt die Gruppe plötzlich an. Und während ich noch zu ihnen hinüberstarrte, sah ich, dass einer der Reiter in meine Richtung zeigte.

Angst machte mir die Kehle eng, aber ich blieb stehen, ohne mich zu rühren. Wo hätte ich mich auch verstecken sollen?

Die Reiter setzten sich wieder in Bewegung und kamen direkt auf mich zu.


*„min seute Deern" - mein süßes Mädchen
**„Immer sutje, Deern" - Immer mit der Ruhe, Mädchen

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