Winterfeuer
von Cúthalion

Kapitel 4
Schrecken in der Finsternis

Der Anführer der Männer brachte sein Pferd direkt vor mir zum Stehen. Das Pferd war riesig, mit roten Nüstern, und seine Flanken dampften in der kalten Luft. Der Reiter war ebenfalls nicht gerade klein. Wenn er beabsichtigt hatte, mich einzuschüchtern, dann war ihm das gelungen.

Ich legte den Kopf in den Nacken, um ihn anzusehen, und unsere Augen trafen sich; seine waren grau wie ein Sturmhimmel, groß und aufmerksam in einem auffallend schön geschnittenen Gesicht. Sein von dunklem, schulterlangen Haar umrahmtes Gesicht war streng und zeigte eine gewisse Härte; aber während ich seinen prüfenden Blick erwiderte, spürte ich, wie mich unerwartet ein Teil meiner Angst verließ. Plötzlich schoss mir ein Zitat meiner amerikanischen Freundin Faith durch den Kopf. Einmal hatten wir uns über einen Kinofilm unterhalten und sie hatte einen Satz über den Helden der Geschichte fallen lassen: „He is one of the good guys.“*

Wo immer ich hier war, wer immer diese Leute sein mochten, dieser Mann war kein Feind. Obwohl ich spürte, dass seine Männer mich gespannt beobachteten und nur auf ein Zeichen von ihm warteten, mich in Gewahrsam zu nehmen, fühlte ich mich trotz all meiner Verwirrung sicher.

„Wer bist du, Junge?“ fragte er. „Und was machst du hier, ganz allein?“

Junge? Sah er denn nicht, dass... Mir fiel ein, dass die Kapuze mein Haar verbarg. Ich war nicht sehr groß und mein Körper wirkte unter dem warmen, kaschierenden Umhang wahrscheinlich eher knabenhaft als weiblich. Vielleicht war das ganz gut so.

„Ich weiß es nicht.“ sagte ich. „Ich habe nicht die geringste Ahnung, Herr. Ich... ich irre schon seit Stunden durch diese Gegend, und ich kann nicht sagen, wie ich hierher gekommen bin.“

Mir war reichlich unwohl bei dieser – wenn auch kleinen – Ungenauigkeit. Aber was hätte ich ihm auch erzählen sollen? Ich bin vor ein paar Minuten aus dem Nichts aufgetaucht? Immerhin blieb ich so nahe an der Wahrheit, wie ich konnte. Mein Instinkt sagte mir, dass es ein großer Fehler gewesen wäre, diesen Mann zu belügen.

Er hob verblüfft die Augenbrauen.

„Hast du keine Begleiter gehabt? Und wo ist dein Pferd? Du willst mir doch nicht erzählen, du bist hier zu Fuß unterwegs!“

Ich zuckte die Schultern und breitete die Arme in einer Geste der Hilflosigkeit aus. Ein plötzlicher Ruck ging durch die Männer, die den Anführer umgaben und dann kam das kurze, zischende Geräusch eines halb gezogenen Schwertes. Ich erstarrte mitten in der Bewegung und hielt die Luft an.

Lass deine Waffe stecken, Mablung.“ Der Anführer wandte leicht den Kopf und zu meiner größten Erleichterung hörte ich ein schwaches Lächeln in seiner Stimme. „Wir kämpfen nicht gegen halbe Kinder, und wie ein Diener des Dunklen Feindes sieht er nicht gerade aus.“

„Danke, Herr.“ sagte ich. „ich will Euch nicht betrügen, und ich schwöre bei Gott, ich bin keine Gefahr. Um die Wahrheit zu sagen, ich fürchte mich zu Tode.“

Das war nur allzu wahr. Und es stimmte umso mehr, als dass ich plötzlich begriff, dass mit meiner Sprache irgend etwas nicht stimmte. Ich konnte nicht sicher sagen, was... aber es war, als hätte jedes Wort einen völlig neuen, fremden Klang. Besonders auffällig war das bei Gott - ich hatte vier weiche, melodische Silben anstelle der einen gesagt, die letzte offen und deutlich betont.

Was um Himmels Willen war mit mir passiert?

Der Mann über mir sah die Panik, die zweifellos in diesem Moment in meinen Augen aufblitzte, und sein hartes, müdes Gesicht entspannte sich ein wenig.

„Wo immer du herkommst, du versuchst sicher nicht, mich zu täuschen. Weißt du wenigstens, wie du heißt?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Na schön.“ Er straffte sich und winkte einen der Reiter heran, der sein Pferd neben mich lenkte.

„Damrod, nimm den Jungen hinter dich. Wir können nicht länger warten. Wir werden uns mit seinem Fall befassen, wenn wir die Stadt erreicht haben.“

Der Reiter streckte mir die Hand entgegen, ich ergriff sie, ohne nachzudenken und wurde mit kräftigem Schwung hochgezogen. Ich landete unsanft auf der Kruppe eines mächtigen Fuchses und prallte schmerzhaft gegen den Sattelrahmen.

„Halt dich fest.“ sagte der Mann, von dem ich kaum mehr zu Gesicht bekam als seinen breiten Rücken und das dunkle, zerzauste Haar. Gehorsam schlang ich von hinten beide Arme um ihn. Der Fuchs setzte sich erst in Trab, dann in Galopp. Die Ebene flog unter uns dahin, und noch immer war nirgendwo auch nur ein Schimmer von Sonnenlicht zu sehen. Im Gegenteil, es wurde immer düsterer.

Ich schwöre bei Gott, ich bin keine Gefahr.

Ich flüsterte den Satz wieder und wieder vor mich hin wie eine Beschwörungsformel, ließ die Silben über meine Zunge rollen und kostete ihren Klang wie ein fremdartiges Aroma.

Ich schwöre bei Gott...

Wieder dieses weiche, viersilbige Wort, das fremd war und gleichzeitig eigenartig vertraut.

Gott... Gott...

Und dann wurde mir schlagartig klar, was ich wirklich gesagt hatte.

Ilúvatar.

Ich rang nach Luft, presste die Stirn gegen den Rücken des fremden Reiters und schloss die Augen.

*****

Von diesem Augenblick an klafft in meiner Erinnerung eine Lücke von etwa zwei Stunden. Möglicherweise schaltete sich mein überlasteter Geist schlichtweg ab, um mich davor zu bewahren, den Verstand zu verlieren. Glücklicherweise funktionierten meine Muskeln trotzdem weiter und bewahrten mich davor, vom Pferd zu fallen.

Als ich halbwegs wieder zu mir kam, saß ich immer noch hinter dem Reiter. Meine Schultern und Arme schmerzten vor Überlastung, von meiner Kehrseite und meinen Schenkeln ganz zu schweigen; ich war seit Jahren nicht mehr geritten und bekam das jetzt drastisch zu spüren. Mittlerweile war es nahezu völlig dunkel.

Ich schluckte und räusperte mich, weil ich meiner Stimme nicht traute.

„Wo sind wir? Wie lange ist es schon Nacht?“

„Es ist nicht mehr weit bis zur Stadt.“ sagte der Mann, den Kopf leicht nach hinten gedreht. Ich sah immer noch nicht viel mehr von ihm als eine stoppelbärtige Wange im Zwielicht. „Und normalerweise würde es erst in einer Stunde dunkel werden... wenn der Feind den Tag nicht mit seinem üblen Zauber verfinstert hätte.“

Bevor ich mich zurückhalten konnte, war mir die nächste Frage schon herausgerutscht.

„Welche Stadt?“

Das willst du in Wirklichkeit gar nicht wissen! protestierte eine panische Stimme in meinem Hinterkopf.

„Minas Tirith.“ sagte der Mann, eine leichte Verwunderung in der Stimme.

Minas Tirith.

„Und wer... und wer ist Euer Anführer?"

„Faramir" antwortete der Reiter, und seine Stimme klang stolz. „Der Sohn des Truchsessen."

Ich biss die Zähne zusammen und hielt einen Schrei zurück. Ich fühlte mich wie taub. Mein Verstand begann sich vorsichtig wieder zu regen, und ich fing an, meine Erinnerung zu durchforsten. Wenn dies Faramir mit seinen Männern war, und sie waren auf dem Weg nach Minas Tirith... und wenn man bedachte, was der Reiter eben über den Feind und seine Verfinsterung des Tageslichtes gesagt hatte... dann konnte ich eigentlich nur einen Schluss ziehen. Und der jagte mir einen Schauder des Entsetzens über den Rücken.

„Ist es wahr, dass du dich an nichts erinnern kannst, Junge?“ fragte der Reiter plötzlich. „Und dass du nicht einmal weißt, wer du bist?“

Ich seufzte.

„Es ist wahr.“ sagte ich, heilfroh darüber, dass ich ihn dabei nicht ansehen musste.

„Das muss sehr verwirrend für dich sein.“ sagte der Mann.

Verwirrend? Er hatte keine Ahnung, wie verwirrt ich wirklich war.

Plötzlich fiel der Fuchs aus dem Galopp erst in Trab, dann in Schritt. Ich versuchte, meine steifen Glieder zu entspannen und neigte mich zur Seite, um an ihm vorbeizuspähen.

Dicht vor uns erhob sich ein gleichmäßiger Mauerwall, der sich zu beiden Seiten weiter erstreckte, ohne dass ich ein Ende sehen konnte. An mehreren Stellen blitzten Fackeln auf; offenbar war die Bastion von Wachen bemannt, und überall waren Ausbesserungsarbeiten im Gange. Leise Grußworte flogen hin und her, dann ritten wir durch ein sauber gemauertes Tor im Schutzwall. Weit vor uns erhob sich ein kaum sichtbares Bergmassiv; in der Ferne konnte ich, wenn auch schwach, hoch aufragende Gebäude erkennen.

Plötzlich schoss ein verästelter Blitz aus dem tiefdunklen Himmel und in seinem grellweißen Licht leuchtete die Stadt auf wie ein bleiches Traumbild. An ihrer Spitze schimmerte ein schlanker Turm wie eine Nadel aus reinem Silber.

„Das ist Minas Tirith.“ sagte der Reiter, und ich erinnerte mich plötzlich wieder an seinen Namen – Damrod. „Die Stadt der Könige von Gondor.“

Ich öffnete den Mund, um zu antworten, aber im nächsten Augenblick überschlugen sich die Ereignisse. Ein grausiges Kreischen ertönte hoch über unseren Köpfen – eine schrille böse Stimme, und andere Stimmen, ebenso furchteinflößend, gaben ihr Antwort. „Nazgûl! Nazgûl!“ schrie jemand laut und entsetzt... möglicherweise Faramir. Gleichzeitig bäumte sich der Fuchs auf, stieg höher und höher und ich spürte, wie ich gemeinsam mit Damrod den Halt verlor.

Ich prallte mit voller Wucht auf taufeuchtes Gras, rollte mich hastig zur Seite und spürte die Erschütterung, als der Körper des Mannes neben mir aufschlug. Gleich darauf merkte ich mehr als dass ich es sah, wie Damrod sich aufrichtete, und wieder ertönte der Klang eines halb gezogenen Schwertes. Die Angst schlug über mir zusammen wie eine eisige Flutwelle. Ich wusste, etwas stieß geradewegs auf uns herab.

„Runter!“ keuchte ich erstickt. „Bleibt unten!“ Ich ertastete seine Schulter und stieß ihn mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, auf den Boden zurück. Dann segelte eine geflügelte Gestalt so dicht über unsere gebeugten Köpfe hinweg, dass die Luft heftig aufgewirbelt wurde. Ich hörte meinen eigenen Schrei, seltsam schrill und dünn, und ich presste mein Gesicht blind vor Panik in die Erde. Der Nazgûl entfernte sich ein kleines Stück, dann wendete er und kam wieder zurück. Plötzlich spürte ich, wie Damrod sich noch einmal aufrichtete, und dann lag er halb über mir und schützte meinen Rücken, meinen Kopf und meine Schultern, während die Bestie ein zweites Mal keine zwei Meter über uns hinwegschoss.

Und dann...

... dann sah ich aus den Augenwinkeln, wie eine einzelne, strahlend weiße Gestalt dicht an uns vorbei galoppierte. Nach Luft ringend hob ich den Kopf und starrte; blendend helles Licht ging von einem Stab aus, den die Gestalt hochhielt, und noch einmal war das Kreischen der Nazgûl zu hören, diesmal aber leiser und schwächer, als hätten sie den Mut verloren.

Ich setzte mich auf. Mir war schwindelig und übel, und ich hatte Grashalme und Erde im Mund. Ich spuckte aus und wischte mir mit unsicherer Hand über das Gesicht.

„Bist du verletzt, Junge?“

Damrods Stimme, dicht neben mir. Ich spürte seine Hand, die sich auf meinen Arm legte, und das heftige Zittern, das ihn von Kopf bis Fuß durchschauderte, sprang auf mich über. Ich hätte gern geantwortet, aber ich wagte es nicht. Ich wusste, wenn ich jetzt den Mund aufmachte, würde ich anfangen zu weinen. Glücklicherweise bestand er nicht auf eine Antwort und nahm auch seine Hand nicht weg; beides war ein Segen.

Schattenhafte Gestalten bewegten sich rings um uns her, und ein paar Minuten später kamen zwei Reiter aus der Dunkelheit auf uns zu. Einer davon war Faramir; sein Gesicht war kreidebleich und er schwankte leicht im Sattel. Der andere war ganz in Weiß gekleidet, schneeweißes Haar und ein langer Bart fielen über sein Gewand und er hielt den Stab immer noch erhoben. Ein ruhiges Licht ging davon aus; es umgab ihn wie eine kristallene Gloriole und erleuchtete die Stelle, wo wir immer noch im Gras knieten. Echtes Staunen fegte meine Angst und meine Erschöpfung beiseite. Ich kam auf die Beine und schaute zu ihm auf, zu ihm und zu dem gewaltigen, wunderschönen Pferd, auf dem er saß. Dann hörte ich, wie Damrod neben mir verblüfft nach Luft schnappte und begriff, dass mir beim Sturz vom Pferd die enge Kapuze vom Kopf gerutscht war. Ich war immer stolz auf mein kupferrotes Haar gewesen; in den letzten Jahren hatte ich es bis fast auf Taillenlänge wachsen lassen, und jetzt war es zum ersten Mal für jedermann sichtbar.

Der Blick des weißen Reiters bohrte sich in meinen, und er beugte sich leicht im Sattel vor, um mich genauer anzusehen.

„Ein Junge, sagtet Ihr, Faramir?“ Es war eine klare, tiefe Altmännerstimme, in der etwas mitschwang wie Musik. „Ihr seid offenbar doch hinters Licht geführt worden, mein Freund. Wenn mich meine Augen nicht täuschen, ist dies hier ja wohl ein Mädchen!“


*„Er ist einer von den Guten.“

Top          Nächstes Kapitel          Stories          Home