Wolfsmond
von Cúthalion


Kapitel Vier
Erbe der Vergangenheit    

Ruta folgte nicht ihrem ersten Impuls, der ihr riet, geradewegs zu Stephen Seekers Cottage hinüber zu gehen und ihn mit ihrem brandneuen Wissen zu konfrontieren. Sie war erschüttert genug, dass sie ohnehin nicht wusste, was sie zu ihm sagen sollte; sie musste zuerst ihre Gedanken ordnen und ihre Fassung wiedergewinnen.

Severus Snape.

Die Nemesis der Jugendtage ihres Cousins. Der Mann, von dem Remus immer mit einer merkwürdigen Mischung aus stillem Zorn und Schuld gesprochen hatte. Der Mann, der den Wolfsbann-Trank für ihren Vetter gebraut hatte, um dann mit kalter Absicht die Wahrheit über den grausamen Fluch in seinem Blut offen zu legen. Der Mann, der – als Junge – das Ziel der gnadenlosen Streiche von Remus’ Freunden gewesen war, während der nahezu nichts tat, um sie davon abzuhalten.

Remus gab seine Stellung als Lehrer auf und war kaum imstande, eine neue, anständige Stelle zu finden. Ruta erinnerte sich nur zu gut daran, wie bedrückt sie darüber gewesen war, dass er jedes Mal, wenn sie ihn nach seiner überstürzten Abreise von Hogwarts im Jahr 1994 zu Gesicht bekam, ein wenig müder und eingefallener aussah. Aber Remus machte Snape keinen Vorwurf. Ich hätte James und Sirius vor all den Jahren davon abhalten können, Severus zu drangsalieren, hatte er ihr gesagt, als sie sich zum letzten Mal vor der endgültigen Schlacht gegen den Dunklen Lord begegneten. Aber ich habe es nie getan. Ich werde nie wissen, ob die Dinge nicht anders hätten laufen können, mit ein wenig mehr Mut und Anstand von meiner Seite.

Im Licht der neuesten Informationen fand sie die Erkenntnis äußerst merkwürdig, dass sie und der Mann, der sich selbst Stephen Seeker nannte, tatsächlich zur gleichen Zeit in Hogwarts zur Schule gegangen waren, zumindest für die Spanne von fünf Jahren. Ruta bekam den fortgesetzten Krieg zwischen den älteren Jungen aus Slytherin und Gryffindor nur aus der Entfernung mit. Remus hatte ihr ausdrücklich verboten, sich in diesen schmutzigen Guerillakampf verwickeln zu lassen. Du bist hier, um zu lernen, Kleine, sagte er, nachdem sie nach Ravenclaw sortiert worden war; sie war hin und her gerissen zwischen Stolz und der bitteren Enttäuschung darüber, dass sie mit ihrem Cousin nicht das gleiche Haus teilte. Die Dinge sind sowieso schon schwierig genug. Bis jetzt weiß noch niemand, was ich bin, und ich habe Angst, dass du ebenfalls verletzt werden könntest, wenn die falschen Leute die Wahrheit über mich herausfinden. Die Slytherins… na, sagen wir mal, da gibt es Leute, die hätten keine Skrupel, dich gleich mit nieder zu trampeln, wenn du ihnen vor die Füße gerätst.

Sie hatte seinen Wunsch akzeptiert, blieb aus dem Weg und konzentrierte sich auf ihre Studien – was leicht gewesen war, denn sie liebte es, zu lernen, und Hogwarts war eine Welt voll von neuen, faszinierenden Lehren und Kenntnissen. Obendrein waren die dunklen Zeiten jenseits der Burgmauern bedrohlich genug, sie von dem Wunsch zu heilen, irgendwelche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie hatte auf die Hoffnung vertraut, dass Remus Recht hatte und den Kopf eingezogen, und so war Snape nicht mehr als ein bleicher, leicht Furcht einflößender Schatten, der sich in den Kerkern der Slytherins verbarg, eine verdächtige Gestalt, die zu meiden sie sich anerzog. Und diese Gestalt, dieser entfernte Schatten, hatte nichts mit dem Mann zu tun, den sie während dieser letzten paar Wochen entdeckt hatte… dieser mysteriöse Fremde, der Worte des Trostes und der unerwarteten Anerkennung für den „getreuen Werwolf“ gefunden hatte.

Nach allem, was ich über Remus Lupin weiß, war er ein treuer Freund und ein ehrenhafter Mann.

Ruta saß am Schlafzimmerfenster, in ein Schultertuch gehüllt, und wartete darauf, dass die Sonne aufging. Ihre Augen brannten, aber sie konnte nicht schlafen; die Gedanken kreisten in einem verrückten Wirbel in ihrem Kopf. Wie passten die Teile des Puzzles, die sie bereits kannte, in das größere Bild?

Severus Snape war auf dem Gelände von Hogwarts beerdigt worden, dicht neben dem Grabmal des legendären Schulleiters – Seite an Seite mit dem Mann, den er selbst mit einem Unverzeihlichen Fluch getötet hatte, womit er Albus Dumbledores eigenem Plan folgte. Aber wenn sie Recht hatte… wenn die Medaille die Wahrheit sprach und aus dem Haus ihres rechtmäßigen Besitzers gestohlen worden war, dann war das Grab des früheren Zaubertrank-Meisters leer. Wenn sie Recht hatte, dann versteckte sich der widersprüchlichste Held des langen Untergrundkampfes gegen den Dunklen Lord im Augenblick in einem winzigen Muggeldorf im Lake District.

Sie stand auf und ging zu ihrem Bett hinüber; auf einem Regal bewahrte sie ein paar Bücher auf, die sich als leichte Bettlektüre eigneten (und die, die nirgendwo in ihr ausgeklügeltes Ordnungssystem passten). Darunter war ein Buch, von dem ihr eine ehemalige Schulkameradin vor ein paar Jahren ein Freiexemplar geschickt hatte. Zur Erinnerung an die guten alten Zeiten, hatte Vicky Stone – die mittlerweile in der Redaktion des Tagespropheten arbeitete – in der Notiz geschrieben, die in dem Päckchen steckte. Seit Ruta sich in ihrem ersten Jahr als Ravenclaw standhaft geweigert hatte, Vicky ihre Hausarbeit in Kräuterkunde zu „leihen“, hatte eine stille, aber intensive Feindseligkeit zwischen ihnen geherrscht. Und ihr das letzte, zweifelhafte Machwerk von Rita Kimmkorn zu schenken, war eine ziemlich perfide, späte Rache. Es war Rita Kimmkorn gewesen, die sich die kitschige Bezeichnung „getreuer Werwolf“ hatte einfallen lassen, und nur Rutas generelle Abscheu gegen Vandalismus hatte sie davon abgehalten, das Buch nach dem ersten Durchblättern auf der Stelle zu verbrennen.

Der glänzende Umschlag von Harry Potter – Die Wahre Geschichte Des Jungen, Der Lebt – zeigte den Titel in prahlerischen Goldbuchstaben, und unter dem Titel Teddys Paten, dessen Gesicht sich magischerweise von den runden Wangen eines elfjährigen Erstklässlers zu den klar definierten Zügen eines erwachsenen Mannes veränderte. Die grünen Augen hinter seiner Brille waren wachsam und ein bisschen gereizt. Harry hatte ihr einmal erzählt, dass er tatsächlich zugestimmt hatte, Rita mit ihrem Buch zu helfen – einfach, damit sie sich so dicht wie möglich an der Wahrheit hält, sagte er mit einem schrägen Grinsen, und weil es ohne meine Mitarbeit noch viel grässlicher geworden wäre.

Ruta überging den ersten Teil des Buches und fand ein Dutzend Seiten in der Mitte, die voller Photos waren – eines von Harry Potters Eltern, die fröhlich von einem Rasen vor ihrem Haus in Godric’s Hollow winkten; Baby Harry thronte auf Lilys Arm und zeigte ein zahnloses Lächeln. Sie sah eine Photographie von Albus Dumbledore, der über die kleinen, rechteckigen Gläser seiner Brille linste, und eine weitere von den Rumtreibern. Da standen sie, Seite an Seite am Ufer des Sees in Hogwarts – James und Sirius, umgeben von der Ausstrahlung kraftvoller, selbstbewusster Jugend, und Remus; der Ausdruck in seinem Gesicht sprach von einer schwachen Überraschung und einer überwältigenden Dankbarkeit, dass er tatsächlich Teil einer Gruppe von echten Freunden war.

Ruta weigerte sich, den vierten Rumtreiber ins Auge zu fassen. Peter Petting war ohnehin tot… sie waren alle tot.

Sie blätterte die Seite um und fand eine Reproduktion der Titelseite des Tagespropheten vom 31. Mai 1998. Wieder war Harry zu sehen, sein Gesicht grimmig und entschlossen; er stand in einem Raum, den Ruta sofort als das Büro des Schulleiters in Hogwarts erkannte. „HARRY POTTER SAGT: SEVERUS SNAPE WAR EIN HELD!“ verkündete die Schlagzeile, aber Rutas ganze Aufmerksamkeit war auf das Portrait gerichtet, das über Harry Kopf hing. Es zeigte die hochgewachsene Figur eines Mannes, in einen schwarzen Umhang mit dem silbernen und grünen Emblem von Slytherin auf der Schulter. Seine Arme waren vor der Brust verschränkt, und dunkle Augen unter schwarzen Brauen starrten mit einem Ausdruck von Strenge und schwacher Verachtung über den Beobachter hinweg.

Damals war sein Haar länger, dachte Ruta, aber er trägt immer noch gerne Schwarz. Und das Gesicht…

Dieser Mann war jünger, aber gleichzeitig – was seltsam genug war – wirkte er älter. Die Notwendigkeit absoluter Geheimhaltung, das wahnwitzig gefährliche Leben als Doppelagent, Dumbledore treu ergeben und gleichzeitig ein Todesser im engsten Dunstkreis des Dunklen Lords, all das hatte tiefe Falten auf seine Stirn gezeichnet. Tief eingegrabene Linien verliefen von seiner langen Nase hinunter zu seinen Mundwinkeln.

Zu was hatte man ihn gezwungen, wenn Dumbledore ihn aussandte, um Voldemort hinters Licht zu führen? Hatten sie ihn gezwungen zu töten, oder jemanden zu foltern? War er selbst verletzt worden?

Und wie um Himmels Willen hatte er es fertig gebracht, zu überleben?

Plötzlich wurde sich Ruta bewusst, dass Sonnenlicht ihr das Gesicht wärmte; sie hatte nicht bemerkt, dass der Raum anfing, sich mit der klaren, blauen Helligkeit eines neuen Augustmorgens zu füllen. Sie stand aus ihrem Sessel auf und dehnte den Rücken.

Es wurde Zeit.

Sie nahm ein Bad, wusch und trocknete sich das Haar und schlüpfte in ein frisches Kleid. Für einen Moment dachte sie daran, sich ein Frühstück zu machen, aber ihr Magen fühlte sich an wie ein einziger, starrer Knoten. Innerhalb der nächsten Stunde würde sie nach Berwick gehen oder eine Eule schicken müssen, die Fionnula davon in Kenntnis setzte, dass sie einen Tag frei nahm. Aber wie auch immer sie sich entschied, erst musste sie die Wahrheit herausfinden.

Fünf Minuten später stand sie auf der Schwelle von Stephen Seekers Cottage.

Sie zog an der dünnen Kette, die neben der Tür hing und hörte das schwache Läuten einer Glocke von drinnen. Zuerst kam keine Reaktion, und die Sekunden streckten sich beinahe lang genug, um ihren Mut wanken zu lassen. Aber ehe sie sich anwenden konnte, halb erleichtert, dass sie der unmittelbaren Konfrontation entgangen war, näherten sich Schritte, und im nächsten Moment öffnete sich die Tür.

„Miss Lupin?“

Er betrachtete sie mit milder Verblüffung; nur zu begreiflich, denn dies war das erste Mal in Wochen, dass sie sich weiter vorgewagt hatte als bis zu seinem Gartentor.

„Guten… guten Morgen,“ sagte sie; ihre Stimme klang dünn und nervös. „Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt.“

„Nein, haben Sie nicht. Ich wollte gerade frühstücken.“ Er runzelte die Stirn und nahm sie ein wenig näher in Augenschein. „Sie sehen aus, als hätten Sie nicht geschlafen. Ist mit dem Jungen alles in Ordnung?“

Er hatte ja keine Ahnung. Ruta unterdrückte den hilflosen Drang, zu lachen. „Ja. Nein… Teddy liegt sicher in seinem Bett, aber…“ Sie konnte einfach nicht die richtigen Worte finden.

Seekers Stirnrunzeln vertiefte sich. „Und trotzdem stimmt irgendetwas nicht – ganz und gar nicht, wenn die Sache Sie in einen solchen Zustand versetzt,“ stellte er fest; sein Ton war ein wenig ungeduldig. „Kommen Sie herein und klären Sie mich auf.“

Sie ging wie im Traum an ihm vorbei und erhaschte in dem kleinen Vorraum einen kurzen Blick auf ihr Gesicht in einem runden Spiegel an der Wand. Totenblass, die Augen riesig und von dunklen Ringen umgeben… kein Wunder, dass ihr bloßer Anblick ausreichte, ihn in Alarmbereitschaft zu versetzen.

„Setzen Sie sich, Miss Lupin,“ sagte er, als sie das Wohnzimmer erreicht hatten. „Ich bin gleich wieder da.“ Die Küchentür schloss sich hinter ihm.

Zögernd ließ sie sich in einem Polstersessel nieder. Der Raum hatte offensichtlich ein paar drastische Veränderungen durchgemacht, seit Stephen Seeker hier lebte. Was einst ein Muggel-Cottage mit elektrischem Licht und den meisten Attributen der modernen Zivilisation gewesen war, war jetzt ganz entschieden das Heim eines Zauberers. Zwei Kommoden und ein großer Schrank mit reich geschnitzten Türen hatten das frühere Mobiliar ersetzt, ein Teppich in warmen Farben bedeckte den glänzenden Holzfußboden, und auf einem großen Eichenholztisch legte ein hoher Stapel ledergebundener Bücher Zeugnis von Stephen Seekers Liebe für Bücher ab. Es war ein sehr maskuliner, erstaunlich bequemer Raum, und zu ihrer Überraschung spürte Ruta, wie sie sich langsam entspannte.

Die Küchentür öffnete sich wieder und Seeker erschien; er trug ein Tablett mit Tellern, Tassen und allen Zutaten für ein gewaltiges Frühstück. Ruta spürte, wie sich ihre Nüstern weiteten, als eine verführerische Duftwolke zu ihr hinüber wehte. Seine Lippen zuckten in einem halben Lächeln.

„Sie sehen aus wie ein müdes Pony beim Anblick der Tränke,“ bemerkte er, stellte das Tablett auf dem Tisch ab und räumte die Bücher weg. „Winky hat sich bereit erklärt, extra einen Kaffee für Sie zu kochen; aber sie weigert sich, herauszukommen und Sie zu begrüßen.“ Er füllte eine Tasse für sie und fügte ungefragt eine ordentliche Menge Zucker und Sahne hinzu. Sie nahm die Tasse entgegen, wärmte ihre Hände an dem feinen, weißen Porzellan und nahm einen ersten Schluck.

„Ich danke Ihnen… das ist köstlich,“ sagte sie langsam. „Richten Sie Winky meinen Dank aus… ich bin nicht überrascht, dass sie die Küche nicht verlassen mag. Sie sagten mir ja, dass sie sehr scheu ist.“

„Nun, sie kam ziemlich gut mit Teddy zurecht, als er gestern mein Haus gestürmt hat,“ gab er zurück und bediente sich mit Tee, Toast und Rührei aus einer silbernen Schüssel. „Aber ich denke, eine unbekannte Hexe – noch dazu eine, mit der ich in letzter Zeit tatsächlich angefangen habe, regelmäßig zu reden – das ist zuviel für ihren Seelenfrieden. Sie findet meine wachsende… Zugänglichkeit… ziemlich verstörend.“

Und sie hat einen feinen Instinkt, dachte Ruta und fühlte, wie ihr die Medaille, die sie in ein Taschentuch gewickelt hatte, ein Loch in die Tasche ihres Kleides brannte. Sie räusperte sich.

„Ich weiß, das ist nicht… unsere übliche Art, uns zu treffen, Mr. Seeker,“ sagte sie. „Aber ich fürchte, wir haben einen Notfall.“

„Wie überaus rätselhaft,“ erwiderte er, ein seltsames Licht in den Augen. „Hat dieser kleine Bengel diesmal mehr getan, als aus Versehen die Vorhänge seiner Großmutter anzuzünden?“

Für einen Moment starrte Ruta ihn an und fragte sich, wie er dieses peinliche, kleine Geheimnis aus Teddy heraus geholt hatte. Dann holte sie tief Atem, wild entschlossen, ihr Geständnis und ihre Nachforschungen hinter sich zu bringen.

„Ja,“ sagte sie. „Als er gestern hier war, hat er etwas mitgenommen.“ Sie zog die Medaille in dem Tuch aus der Tasche, aber zögerte noch, sie ihrem Besitzer zurückzugeben. „Er hat Ihre Gastfreundschaft missbraucht, und – was noch schlimmer ist – ich habe Ihr Vertrauen verraten.“

„Auf welche Weise?“ Seine Stimme war kühl; sie konnte in dem ruhigen Tonfall keinerlei Überraschung finden… als wäre es für ihn weder neu noch unerwartet, dass man ihn verriet.

„Er hat eine Medaille gestohlen, die er in einer Ihrer Schubladen fand und sie in seiner Hosentasche versteckt; ich bin sicher, er hat es nicht böse gemeint, aber das macht die Sache nicht besser. Vor allem, nachdem ich mich selbst nicht zurückhalten konnte, meine eigene Neugier zu befriedigen.“

„Oh. Tatsächlich?“

„Ja, das habe ich – zu meinem tiefsten Bedauern,“ sagte Ruta und starrte auf das Päckchen in ihren Händen hinunter. „Ich habe Teddy Hausarrest gegeben, die Medaille genommen und bin nach Hause gegangen. Ihre Form hat mich an irgendetwas erinnert… ich hatte das Gefühl, dass sie verzaubert sein könnte… Also habe ich Veritas Revelio ausprobiert, aber es hat nicht gewirkt. Und dann habe ich es mit Finite Incantatem versucht.“

Sie wickelte die Medaille aus und legte sie neben ihren unberührten Teller auf den Tisch, die Rückseite nach oben; die Buchstaben der feierlichen Inschrift glitzerten in der hellen Morgensonne.

Sie wartete. Was sie getan hatte, war unverzeihlich, und sie wusste es. Er hatte jedes Recht, ihr die Tür zu weisen. Die Zeit zog sich unendlich in die Länge, bevor er endlich sprach.

Für einen heimlichen, selbstlosen Kampf, für unbeirrte Treue und ein überaus nobles Opfer,“ zitierte Stephen Seeker, ohne sich hinunter zu beugen, um die Worte zu lesen; seine Stimme war sehr leise. Und dann änderte sich sein Ton. „Entsetzlich pompös, und obendrein absolut irreführend.“

Sie hob den Kopf und schaute ihn an. Seine Lippen bildeten eine schmale, weiße Linie.

„Wieso sagen Sie das?“

„Weil diese Worte das Resultat reiner Großzügigkeit waren.“ Er stand von seinem Stuhl auf und entfernte sich von ihr. „Auf gewisse Weise ist es ziemlich… demütigend, dass ein Junge, den ich sieben Jahre lang verabscheut und schlecht behandelt habe, mir meine Behandlung dadurch heimzahlt, dass er mich in einen Säulenheiligen verwandelt.“

„Das hat er nicht getan!“ protestierte Ruta, ohne nachzudenken. „Es war ein Akt der Ehrlichkeit… und des Ehrgefühls. Ich kenne Harry Potter – er hat einen heftigen, unbeirrten Sinn für Gerechtigkeit.“

„Im Gegensatz zu mir?“ Sein Ton war kalt und spöttisch, aber da war noch etwas anderes. Verletztheit? Stiller Zorn?

„Woher soll ich das wissen?“ schoss sie zurück. „Ich könnte ja die Bücher zu Rate ziehen, die seit der Niederlage des Dunklen Lords geschrieben worden sind – ich bin sicher, ich hätte die Wahl zwischen einem guten Dutzend Meinungen.“

Sie sah, wie sein Rücken sich versteifte. „Was hält Sie dann davon ab, die populärste zu wählen? Das wäre am einfachsten.“

„Während der letzten zwanzig Jahre habe ich gelernt, dass die wichtigen Dinge im Leben weder populär noch einfach sind,“ sagte Ruta; ihr Herz war schwer von alten Erinnerungen und neuem Bedauern. „Und wenn Sie wollen, dass ich gehe, dann werde ich es tun.“

Sie räusperte sich.

„Aber es ist wahr – Sie sind Severus Snape.“

„Das war ich einmal,“ sagte er. Die Anspannung sickerte langsam aus seinem Körper, und seine Stimme war unendlich müde. „Und um Ihren Wissensdurst zu befriedigen – ich schulde mein Leben Winky. Sie kam, um mich mit Phönixtränen zu retten – und sie gab mir den Trank der Lebenden Toten, um mir die Zeit zu erkaufen, die ich brauchte, um abzuwarten und dann unerkannt zu entkommen. Aber ich habe meine Identität nicht umsonst geändert, Miss Lupin. Ich habe wenig Interesse, den Mann, der ich einst gewesen bin, wiederzubeleben.“

Ruta atmete aus; sie hatte nicht gewusst, dass sie die Luft anhielt. Sie hatte keine Ahnung gehabt, was sie von ihm erwarten sollte. Flammenden Zorn vielleicht, entschiedenes Abstreiten oder sarkastisches Gelächter… sogar ein blitzschneller Fluch, eine kalte Stimme, die “Obliviate!” zischte und ihr Gedächtnis auslöschte wie die Schrift auf einer Schiefertafel. Aber stattdessen hatte er ihre Vermutungen sofort bestätigt, und jetzt schwirrte ihr vor Aufregung und Staunen der Kopf.

Er wandte sich zu ihr zurück und ihre Augen begegneten sich; kein Zweifel, das war das Gesicht des Mannes auf dem Portrait, und doch war es das nicht. Der größte Teil des brütenden Zorns und der Verachtung waren verschwunden. Die Linien, an die sie sich erinnerte, waren nicht vollkommen ausgelöscht; die langen Jahre der qualvollen Erfahrung, viel zu lange in der Dunkelheit zu wandern, hatten ihr Zeichen hinterlassen. Und doch…

Sie war nicht ganz und gar imstande, herauszufinden, was es war, das die Veränderung bewirkt hatte, aber verändert war er. Plötzlich dachte sie an eine leere Muschel, die sie einmal gefunden hatte, während sie in der Nähe der Klippen von Dover an der Küste entlang wanderte. Wind, Salzwasser und Sand hatten das Innenleben heraus gelöst und die Schale durchspült, bis nichts mehr übrig war als die leere, weiße Hülle. Dieser Mann war seiner Alpträume entkleidet worden, seiner Wünsche und Ambitionen, und was sie jetzt vor Augen hatte, war die Hülle seiner früheren Existenz, die immer noch darauf wartete, mit etwas Neuem gefüllt zu werden.

Sie nahm die Medaille vom Tisch und hielt sie ihm hin.

“Sie sollten sie zurücknehmen.” sagte sie.

„Nein,” sagte er ruhig. „Sie gehört zu einer Zeit, die am Besten der Vergessenheit anheim fallen sollte. Es war schiere Eitelkeit, sie so lange aufzubewahren – wie Sie mir soeben sehr überzeugend bewiesen haben.“ Er warf ihr einen nachdenklichen Blick zu. „Hat Teddy irgendeine Ahnung von Ihrer Entdeckung?“

„Natürlich nicht!“ antwortete sie ein wenig aufgebracht. „Auch seine Großmutter nicht, oder irgendjemand sonst! Was denken Sie von mir?“

„Interessanterweise weiß ich nicht, was ich von Ihnen denken soll, Miss Lupin,“ stellte Stephen Seeker – Severus Snape – fest; wieder studierte er ihr Gesicht so intensiv, als versuchte er, ein Rätsel zu lösen. „Aber ich möchte glauben, dass das Geheimnis meiner Identität in Ihren Händen sicher ist.“

„Ja,“ entgegnete Ruta, seltsam berührt von diesem unerwarteten Anzeichen von Vertrauen. Sie stellte fest, dass sie lächelte. „Und ich würde gern an irgend einem Abend in naher Zukunft wieder hierher kommen, um mehr über Ihr Leben nach der letzten Schlacht zu erfahren… natürlich nur, wenn Sie bereit sind, mir davon zu erzählen.“ Das Lächeln vertiefte sich, als er fragend eine Augenbraue hob. „Ich habe die Medaille nicht deswegen untersucht, weil ich auf der Jagd nach saftigem Klatsch gewesen bin. Ich wollte mehr über den Mann hinter der Gartenmauer wissen… ich hoffte, es würde mir helfen, Sie besser zu verstehen. Ich schätze unsere Gespräche sehr, Mr. Seeker. Und Ihre Geheimnisse – all Ihre Geheimnisse – sind wirklich sicher bei mir.“

Zu ihrer Verblüffung streckte er die Hand aus, berührte ihre Finger und schloss sie sachte über der Medaille. „Nehmen Sie dies hier bitte für mich in Verwahrung,“ sagte er. Dann trat er zurück und verbeugte sich vor ihr mit der Höflichkeit eines lang vergangenen Zeitalters.

Die Uhr auf dem Kaminsims schlug die nächste Stunde, und Ruta fuhr zusammen. „Ich sollte jetzt gehen,“ sagte sie und steckte die Medaille wieder ein. „Fionnula und ihre Blumen warten schon auf mich. Auf Wiedersehen, Mr. Seeker. Und – danke.“

„Auf Wiedersehen, Miss Lupin.“

Sie verließ das Cottage und ging durch das Gartentor; plötzlich wurde ihr bewusst, dass ihr Magen – abgesehen von einer Tasse außergewöhnlich schmackhaftem Kaffee – immer noch leer war. Sie dachte an die Platten und Schüsseln auf dem Tablett und seufzte leicht; innerlich musste sie über sich selbst lachen. Da gehst du hin und entdeckst eines der bestgehüteten Geheimnisse der Zaubererwelt, und alles, woran du in diesem Augenblick denken kannst, ist dein verpasstes Frühstück.

Sie ging nach Hause, machte sich einen kleinen Imbiss, holte ihr Fahrrad und nahm dann den Weg nach Berwick, womit sie entschlossen zu ihrer üblichen Tagesroutine zurückkehrte. Aber für den Rest des Tages, während sie farbenfrohe Sträuße band und mit ihrem Zauberstab zarte Rosensetzlinge zu vollem Glanz erblühen ließ, spürte sie die kurze, ehrerbietige Berührung seiner Hand, und ihr Herz war erfüllt von einer stillen, zögernden Freude.


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