Wolfsmond
von Cúthalion


Kapitel Zwölf
Nacht der Verwandlung

Der Raum war weiß und nur spärlich möbliert – eine altmodische Kommode in der Ecke, und zusätzlich ein großes, eisernes Bettgestell, mit einer Matratze bedeckt, einer sauber zusammengefalteten, weißen Steppdecke und einem dicken Kopfkissen. Das einzige Fenster, das Ruta ausmachen konnte, war hoch und schmal: es lag hinter einem dünnen Vorhang verborgen. Das Gewebe hatte nur den dunklen, regelmäßigen Schatten der Gitter dahinter als Muster. Die Tür sah aus, als sei sie solide genug, um selbst eine Bande aufgebrachter Riesen fernzuhalten. Die Wände waren zerschrammt, und Ruta wagte nicht zu fragen, ob die feinen Risse und Kratzer von Fäusten stammten, von Krallen... oder von Zähnen.

Sie müssen verstehen, Miss Lupin, dass Ihr Fall sehr... speziell ist.“ William Pemberthy, der Medizauberer vom Dienst – ein hoch gewachsener Mann mit einem hohlwangigen Gesicht und einem militärisch wirkenden, weißen Stoppelhaarschnitt – versuchte, ihrem Blick auszuweichen; sie konnte sein Unbehagen und seine Verlegenheit wie ein schales, kränkliches Aroma in der Luft spüren, die sie umgab. „Wir wissen nicht, ob die Tatsache, dass Sie von einem Werwolf gebissen wurden, der sich auch ohne den Vollmond verwandeln konnte, die Symptome des Fluches in Ihrem Fall verändert hat. Und wenn der Werwolf so mächtig und verworfen war wie Fenrir Greyback, dann sind die üblichen Vorsichtsmaßnahmen natürlich nicht ausreichend.“

Und das bedeutet was genau?“ Mit schwacher Belustigung erkannte sie, dass Stephen Seekers brüske Abneigung gegen die wortreiche Umschiffung schwieriger Themen offenbar auf sie abgefärbt hatte.

Wir müssen unser Personal schützen... und Sie selbstverständlich ebenfalls.“ Jetzt begegneten sich ihre Augen und die Mischung aus Mitleid und ängstlichem Misstrauen, das sie sah, sorgte dafür, dass Ruta das Blut kalt in den Adern rann. „Deshalb können wir Ihnen nicht gestatten, sich in diesem Flügel frei zu bewegen.“ Ein Wedeln mit seinem Zauberstab ließ eine große Pergamentrolle erscheinen, die vor ihm in der Luft schwebte; er studierte sie mit zusammen gekniffenen Augen. „Nun... der letzte Vollmond endete am 24. August... was bedeuten würde, dass der nächste Vollmond am 21. September beginnt. Wir müssen Ihre Gegenwart für die nächsten drei Wochen auf diesen Raum beschränken.“

Drei Wochen?“ Sie brauchte ihre gesamte Selbstbeherrschung. um die Bestürzung und den hilflosen Zorn, den sie empfand, aus ihrer Stimme fernzuhalten. „Das würde mich zu einer Gefangenen machen, oder nicht?“

Oh... aber so sollten Sie das nicht sehen.“ Der Medizauberer räusperte sich. „Es ist nichts weiter als eine simple... äh... Vorsichtsmaßnahme. Wir werden auch Ihren Zauberstab konfiszieren müssen, damit Sie sich nicht vergessen und ihn möglicherweise gegen jemand anderen benutzen.“

Wie überaus achtsam von Ihnen.“ Sie wusste, dass ihre Ironie an diesen Mann komplett verschwendet war, aber zum zweiten Mal innerhalb von Minuten fühlte sie sich an Stephens scharfen Verstand und seine scharfe Zunge erinnert, und irgendwie minderte diese Erinnerung den bitteren Druck auf ihrem Herzen.

Ruta tat ihr Bestes, die weiße Leere ihre Zimmers mit stoischer Ruhe zu ertragen. Sie erhielt drei Briefe von ihrem Vater; Andromeda hatte es auf sich genommen, ihn über die neueste Entwicklung in der tragischen Familiengeschichte der Lupins zu informieren (eine Tatsache, für die Ruta ihr unendlich dankbar war), aber der Trost, den sie in diesen Briefen zu finden hoffte, hatte einen merkwürdig hohlen, unbefriedigenden Geschmack. Er bot an, zu kommen, aber Ruta entschied sich dagegen; seine Gesundheit war nicht mehr, was sie einst gewesen war, und ihre erschreckende Gefangenschaft wäre sicherlich ein Schock für den alten Zauberer gewesen. Nach einem halben Dutzend fruchtloser Versuche brachte sie endlich eine Antwort zustande, die hoffentlich beruhigend und humorvoll genug war, um ihn fernzuhalten. Allerdings kam Harry für einen kurzen Besuch vorbei; er war eindeutig entsetzt über ihre Unterbringung. Sie tat ihr Bestes, ihn zu beschwichtigen, aber die Bestürzung in seinen Augen war nur ein Echo ihrer eigenen.

Die Besuche von Lottie Stanhope waren weit einfacher zu ertragen. Sie war die Heilerin gewesen, die Kingsley Shacklebolt geschickt hatte, um sich in der ersten Nacht nach dem Angriff um Ruta zu kümmern – eine mollige, grauhaarige Dame mit hellen, freundlichen Augen. Die ältere Frau kam fast jeden Tag; sie tat in Rutas Hörweite fröhlich William Pemberthys Aufzählung der „Keine Ansteckung“-Regeln als unsinnig ab, sehr zum Ingrimm des jüngeren Medizauberers. „Papperlapapp, Pemberthy, es ist albern, für mich die Regeln herunter zu beten, wenn ich es war, die sie geschrieben hat. Ich habe es schon mit viel härteren Nüssen aufgenommen als einem widerspenstigen Werwolf, egal, in welcher Mondphase.“

Es war Lottie, die nun damit fortfuhr, die langsam heilenden Wunden zu versorgen, und Lottie, die Rutas Zelle mit einem Stapel fröhlich bunter Kissen auflockerte. Nachdem ein Besuch in der Bibliothek völlig außer Frage stand, war es Lottie, die Ruta mit Büchern versorgte, die sie für interessant hielt, eine hochwillkommene Ablenkung von der öden Routine der dahin schleichenden Stunden. Ruta vertiefte sich hungrig in eine farbenfrohe Mischung aus medizinischen Texten, Aufsätzen über historische Kriege zwischen Kobolden und Riesen, und ein paar wildromantische Schmöker, dick genug, um ihre leeren Tage auszufüllen (und bei denen sie den Verdacht hatte, dass sie von Lottes eigenen Bücherregalen stammten).

Eines Morgens Anfang September tauchte Miss Stanhope mit einem Schachspiel auf und behexte einen Stuhl, so dass er gehorsam neben den Tisch rückte, der normalerweise nur pflichtbewusst während der Mahlzeiten auftauchte. Die schönen Figuren aus Elfenbein und Ebenholz vollführten den rituellen Tanz von Bauern und Springern auf dem Spielbrett, während Ruta halbherzig den Erzählungen ihrer Besucherin lauschte – über die Studenten auf der Akademie und die komischen Missgeschicke der Heiler im Hospital. Ihr Geist wanderte sehnsüchtig zurück nach St. Mary Green; sie fragte sich, ob sie wohl jemals wieder Stephen gegenüber sitzen würde, um mit ihm das Spiel der Könige zu spielen und einen ihrer hart erkämpften Siege zu feiern.

Die Zeit kroch dahin, Tag für Tag für Tag... und dann schrumpfte die letzte Woche vor dem neuen Vollmond zu ein paar übrig bleibenden Stunden zusammen. Ruta saß auf dem letzten, noch verbliebenen Stuhl und hielt eines von Lotties bunten Kissen gegen ihre Brust gedrückt wie einen zerbrechlichen Schild; sie sah William Pemberthy dabei zu, wie er seinen Zauberstab und ein paar rasche Zaubersprüche dazu benutzte, um Kissen, Decken und Laken vom Bett zu manövrieren. Jetzt war nur noch die nackte Matratze übrig, und er wandte sich zu ihr.

Innerhalb der nächsten halben Stunde wird Ihr Abendessen serviert, Miss Lupin,“ sagte er, die Stimme kühl und unpersönlich. „Nachdem Sie damit fertig sind, wird es erforderlich sein, dass Sie sich auf das Bett legen. Es ist außerdem nötig, Sie zu fesseln, um Sie davon abzuhalten, sich selbst oder irgend jemand anderen zu verletzen.“

Ruta hatte das Gefühl, als würde sich eine riesige Faust um ihre Kehle schließen. „Wollen Sie damit sagen, dass ich hier für den Rest des Tages liegen muss, an den Rahmen dieses Bettes gekettet wie ein wildes Tier – obwohl ich mich noch gar nicht verwandelt habe – und warten muss, bis der Fluch wirkt?“ Ihre Stimme klang ruhig, was erstaunlich genug war, denn ein kleines, verzweifeltes Geschöpf in ihrer Brust wollte schreien, davonlaufen und mit den Fäusten gegen die Tür schlagen, bis sie bluteten.

Genau,“ sagte er „Aber wie ich Ihnen schon gesagt habe, als Sie herkamen...“

Es ist nur eine Vorsichtsmaßnahme, ich weiß,“ sagte sie, immer noch krampfhaft darum bemüht, ihren Zorn unter Kontrolle zu halten „Aber es ist eine armselige Art, jemanden zu behandeln, der nichts anderes ist als ein Opfer.“

Wir haben keine Wahl,“ sagte er. „Wir können den Schaden, den Sie als Bestie anrichten könnten, nicht dulden – Opfer oder nicht.“

Er hielt sorgfältig Abstand, aber ihre geschärften Sinne – nun um so schärfer, da der Vollmond so nahe war – sorgten dafür, dass sein Körpergeruch ihr mit einer überwältigenden Mischung aus Aromen in die Nase stieg. Ruta konnte die Lavendelseife riechen, die er heute Morgen benutzt haben musste, die Stärke im Gewebe seines frisch gebügelten Gewandes, aber auch den dünnen Schweißfilm auf seiner Stirn und seinem Hals, der Zeugnis ablegte von der Abscheu und Furcht, die er unter seiner gesammelten Oberfläche verbarg. Und etwas anderes, das sogar noch tiefer ging, etwas Finsteres, zerfressen wie rostiges Eisen. Plötzlich begriff sie mit großer Klarheit.

Wissen Sie, ich sollte Kingsley Shacklebolt den Rat geben, Sie von diesem Fall zu entbinden,“ sagte sie leise. „Vielleicht ist diese demütigende Prozedur ja wirklich notwendig, aber sie sollte nicht von jemandem durchgeführt werden, der Werwölfe so sehr hasst, wie Sie es tun.“

Pemberthy trat einen Schritt zurück und sein Gesicht wurde hart.

Ich denke nicht, dass Sie in der Position sind, Forderungen zu stellen,“ sagte er.

Sie sollten besser nicht zu sicher sein,“ entgegnete sie. „Wollen Sie wirklich, dass ich Ihre offensichtliche Abneigung dem Zaubereiminister gegenüber erwähne?“

Der Medizauberer erbleichte. „Die Gelegenheit werden Sie nicht haben.“ Es war kaum mehr als ein Zischen.

Vielleicht habe ich nicht die Gelegenheit, Shacklebolt davon zu berichten, aber ich werde wohl kaum Mühe haben, Harry Potter zu informieren, und ihm hört der Minister ganz bestimmt zu,“ schoss sie zurück; in diesem Augenblick waren ihr die Konsequenzen herzlich egal. „Und da meine... meine bevorstehende Verwandlung zweifellos überwacht werden muss, möchte ich, dass Lottie Stanhope das tut, und nicht Sie.“

Lottie Stanhope!“ Er starrte sie ungläubig an. „Aber sie...“

Sie hat in der Nacht von Greybacks Angriff geholfen, meine Wunden zu versorgen,“ sagte Ruta. „Sie hat mich während der letzten Wochen besucht, wann immer es ihr möglich war, und ich habe Grund, anzunehmen, dass sie ehrlich um mein Wohlergehen besorgt ist. Und als Lehrerin für Magische Krankheiten an der Akademie für Heilung könnte sie dies... lehrreich finden.“ Sie schluckte, aber es gelang ihr, das Gesicht unbewegt zu halten, während er mit einem Wirbeln seines limonengrünen Gewandes abdrehte und aus dem Raum segelte.

Ein paar Minuten später erschien das Abendessen auf dem Tisch, und Ruta würgte ein paar Löffel Suppe und eine kleine Portion Spaghetti hinunter, damit sie etwas im Magen hatte. Kurz darauf verschwanden Tablett, Tisch und Stuhl, und sie legte sich widerstandslos auf das Bett. Sie mühte sich, nicht zusammen zu zucken, als eiserne Klammern sich um ihre Handgelenke und Knöchel legten. Sie schloss die Augen und sperrte jeden Gedanken aus, der sie in ihrem Körper verwurzelt hielt. Bilder wanderten an ihrem Geist vorüber, bunte Miniaturen ihres sonnengewärmten Gartens, von blühenden Rosenbüschen, von Teddys lächelndem Gesicht und der hoch gewachsenen Gestalt eines Mannes, mit ausdrucksvollen Händen, onyxschwarzen Augen und einer dunklen, zwingenden Stimme.

Stephen…

Sie musste eine Weile eingedöst sein, aber plötzlich war sie wieder hellwach und wandte ihr Gesicht in Richtung Tür; verschwommene Figuren bewegten sich hinter dem kleinen Sichtfenster. Die Lichter waren herunter gedämpft, der Raum füllte sich mit Schatten, aber dann glitten die Vorhänge über ihr, die ganze Zeit zugezogen gewesen waren, langsam auseinander. Silbriges Licht überspülte den Raum und ließ sie blinzeln. Sie stellte fest, dass sie unfähig war, den Kopf abzuwenden; er war auf das Himmelsgestirn fixiert, das ihr Schicksal bestimmte; eine plötzliche, furchtbare Helligkeit sickerte durch ihre Haut und hinein in ihre Adern. Endlich schloss sie die Augen, aber der Mond flammte hinter ihren Lidern wie eine Zwillingsmünze aus eisigem Silber. Er verbrannte sie mit kaltem Feuer, und sie konnte seine Macht spüren, die ihr in den Ohren pochte.

Und mit der befürchteten Gegenwart des Vollmondes kam der Schmerz, schmale Ranken des Unbehagens zuerst, die sich um ihre Glieder wanden und ihr den Brustkorb zusammendrückten... und dann wurde er jeden Augenblick stärker, während die Verwandlung ihren Griff verstärkte. Sie bemerkte in panischem Unglauben, wie ihre Arme und Beine in eine andere Form hinein schmolzen; Knochen, Sehnen und Fleisch kreischten in qualvollem Protest. Sie bäumte und wand sich auf dem Bett, sicher von den Ketten gehalten, in hilfloser Verweigerung mit dem Kopf schlagend... und endlich hallte das erste, verängstigte Heulen als Wolf in einem Schädel wider, der jegliche Ähnlichkeit mit menschlicher Form verloren hatte.

„Merlin - !“

Ruta schoss in ihrem Bett hoch, die Haare und das Nachthemd feucht von kaltem Schweiß. Der Raum rings um sie her war dunkel; die letzte Glut geloste auf dem Kaminrost. Keine weißen Mauern, kein Bett wie ein eiserner Pranger, kein Dunst von Hoffnungslosigkeit in der Luft. Dies war ihr Haus, und die gnadenlosen Augen von William Pemberthy waren nichts als eine Erinnerung, wie verstörend auch immer. Und eine Warnung... er war nicht der erste und würde sicher nicht der letzte sein, der sie mit Furcht und Widerwillen ansah.

Sie stand auf und ging zur Kommode hinüber. Ein gefaltetes Tuch hing über den Rand einer halbvollen Waschschüssel; sie tauchte es in das rosenduftende Wasser, wrang es aus und wischte sich langsam damit über das Gesicht. Sie atmete das sanfte Aroma tief ein.

Diese drei Wochen in dem weißen Zimmer in London, die endlich in jenen drei alptraumhaften Tagen gipfelten, die sie angekettet auf dem Bett verbracht hatte, waren nur der Anfang gewesen. Sie hatte keine Wahl – die nächste Verwandlung würde so unvermeidlich eintreten wie der nächste Vollmond – und selbst ein flüchtiger Augenblick von tierischem Wahnwitz wie dieser war mehr, als daran auch nur zu denken sie ertragen vermochte.

Aber nein – das war nicht wahr. Es gab eine Wahl, die sie treffen, eine Person, an die sie sich wenden konnte.

Ruta trat zum Fenster hinüber, zog den Vorhang beiseite und stieß es auf. Die kalte, frische Brise wehte ihr das Haar aus dem Gesicht und ließ ihr Nachthemd flattern, während sie auf das Echo von Nevilles Stimme in ihrem Gedächtnis lauschte.

Im Moment solltest du einfach nicht vergessen, dass er einer von den ganz wenigen Leuten ist, die den Wolfsbann-Trank überhaupt brauen können. Und ich verwette mein Jahresgehalt, dass du, wenn du seine Hilfe brauchst, nur eines tun musst: frag ihn.“

Natürlich hatte er Recht. Und doch, dachte Ruta und starrte mit blinden Augen hinaus auf die Straße, nach all den Gefahren, die „Stephen Seeker“ um ihretwillen schon durchgemacht hatte, war sie nicht sicher, ob sie gewillt war, ihm noch mehr aufzubürden.

*****

Der nächste Morgen war verregnet und grau; Wasser platschte unter Stephen Seekers Stiefeln, als er Rutas Gartentor öffnete. Die weißen Rosen dicht an der Mauer hatten die meisten ihrer letzten Blütenblätter verloren; die Büsche mussten gestutzt werden, und er spürte, wie sich seine Lippen zu einer Grimasse verzogen, als er sich daran erinnerte, dass sie Frau, die all dies normalerweise mit Leichtigkeit erledigt hätte, jetzt unfähig war, auch nur die kleinsten, gärtnerischen Pflichten zu tun, die eine solche Freude für sie gewesen waren. Er ging an den tropfenden Zweigen der Weide vorbei und streckte die Hand aus, um zu klopfen.

Zuerst geschah überhaupt nichts. Dann hörte er von drinnen das plötzliche Geräusch zerbrechenden Porzellans, und etwas, das verdächtig nach einem ausgesprochen saftigen Fluch klang.

„Ruta?“ rief er. „Ich bin’s, Stephen. Geht es Ihnen gut?“

„Stephen?“ Die warme Altstimme hatte einen beunruhigend scharfen und wütenden Unterton „Ich habe gerade... ich kann gerade... na schön, kommen Sie herein.“

Er öffnete die Tür und trat über die Schwelle. Die Diele war leer, aber als er die Küche erreichte, erwartete ihn der erstaunliche Anblick von Ruta Lupin in einem dunkelgrünen Hexengewand, die langen Haare ungekämmt und die Füße nackt. Scherben glitzerten auf dem Steinfußboden; er entdeckte einen unbeschädigten Deckel mit zarten Ornamenten und Blumen, und er schaffte es gerade noch rechtzeitig, nicht auf das größte Bruchstück zu treten, einen wunderschön geschwungenen Henkel.

„Am besten bleiben Sie genau da, wo Sie sind, bis ich dieses Durcheinander in den Mülleimer bugsiert habe,“ bemerkte er trocken, „oder Sie schneiden sich die Fußsohlen auf.“

Nicht in den Mülleimer!“ platzte Ruta heraus. „Das war meine Spode-Kaffeekanne, um Himmels Willen, aber ich habe meinen Zauberstab auf dem Büffet liegen lassen, und selbst wenn ich jetzt herankommen könnte, wäre ich unfähig, ihn so zu benutzen, wie ich sollte.“ Ihre Stimme schwankte gefährlich, und sie biss sich auf die Lippen. „Es tut mit Leid... aber diese Kanne war das erste Stück Porzellan, auf das ich jemals einen komplizierteren Zauber gelegt habe, der wirklich funktioniert – sie hat ein berühmtes Muggel-Dekor, das ich wirklich liebe, und ich konnte sie soweit verhexen, dass sie großartigen Kaffee zustande bringt – nicht so großartig wie der von Winky, natürlich – und...“

Sie bemerkte seinen geduldigen Blick und lachte auf, kurz und verzweifelt.

„Vergeben Sie mir, ich weiß, ich plappere. Ich... ich bin einfach nicht daran gewöhnt, dass ich nicht allein mit allem zurecht komme.“

„Nur zu begreiflich,“ erwiderte Seeker Er hob seinen Zauberstab. „Reparo!“

Die Scherben stiegen in einem blauweißen Wirbel von den Fliesen auf und formten eine schöne Kaffeekanne, dekoriert mit dem klassischen Gemälde einer idyllischen Landschaft. Sie landete sanft auf dem Holzbüffet.

„Da,“ sagte er. „Jetzt sollten Sie imstande sein, durch Ihre Küche zu laufen, ohne dass Sie sich selbst Schaden zufügen.“

„Danke.“ Ruta holte tief Atem. „Ich nehme an, dass ich in meiner Lage in billiges Porzellan investieren sollte.“

Plötzlich ließ sie sich schwer auf den Stuhl neben dem Tisch sinken. Sie sah ihn nicht an, aber als sie wieder sprach, war ihre Stimme leise und sehr müde.

„Ich habe es immer geschafft, sehr gut allein zu leben. Ich bin ein sehr organisierter Mensch. Ich hatte meine Arbeit, ich hatte Andromeda und Teddy, und ich habe immer geliebt, was ich tue. Jetzt kann ich mich kaum allein waschen, geschweige denn einen Reinigungszauber wirken. Meine rechte Hand ist gelähmt, und ich bin unaussprechlich ungeschickt mit meiner linken, wenn es darum geht, meinen Zauberstab zu benutzen. Ich habe heute Morgen eine Viertelstunde gebraucht, um in dieses einfache Kleid zu kommen; meine übliche Bluse und mein Rock sind vollkommen unmöglich. Ich habe keine Ahnung, was ich mit den ganzen Knöpfen machen soll. Zum Glück hat Dromeda versprochen, dass sie nach dem Mittagessen herüber kommt... mein Haar sieht aus wie ein Vogelnest, und normalerweise brauche ich beide Hände, um es zu bürsten und zu flechten.“

Sie warf ihm einen Seitenblick zu, das Gesicht plötzlich rot vor Scham.

„Das muss für Sie klingen wie das Gejammer eines dummen Kindes. Und Sie müssen es müde sein, sich meine ständigen, lächerlichen Klagen anzuhören. Es tut mir entsetzlich Leid.“

Später wusste er nie, wieso er die nächsten Worte sagte, aber sie kamen aus seinem Mund, ehe sein Geist die Chance hatte, Besonnenheit oder Vernunft zu Hilfe zu rufen.

„Ich muss zugeben, dass meine Erfahrung mit Frisuren ziemlich begrenzt ist, aber ich könnte einen Versuch machen, wenn Sie möchten.“

Ruta hob den Kopf.

„Sie könnten.. oh.“ Ihre Schultern sanken nach unten, und er konnte sehen, dass sich die Hände in ihrem Schoß krampfhaft öffneten und schlossen. „Das müssen Sie nicht tun. Ich sagte Ihnen ja, es ist dumm.“

„Ich weiß, dass ich das nicht tun muss,“ antwortete Seeker gelassen. „Aber jetzt, wo ich es nicht mehr mit einer ganzen Schule voll alberner Kinder zu tun habe, sollten Sie von Zeit zu Zeit durchaus einen weicheren Moment von mir erwarten, und dies ist anscheinend einer davon. Genießen Sie ihn, solange er andauert.“

Er trat hinter sie und überprüfte kritisch die langen, zerzausten Strähnen.

„Ich werde eine Bürste brauchen.“

„Na gut, wenn Sie wirklich... Da drüben, auf dem Büffet.“

Gleich neben Rutas Zauberstab aus Weide fand er eine Bürste und einen Kamm; beide hatten Rücken aus alten, wunderschön handgearbeitetem Silber, mit eingravierten Efeuranken und zarten, vierblättrigen Blumen. Weinraute, dachte er, und sein gut trainiertes Gedächtnis förderte prompt den richtigen, botanischen Namen zutage. Ruta graveolens. Sie bemerkte seinen überraschten Blick und sah zu ihm hoch, den Hauch eines Lächelns in den Augen.

„Das sind Erbstücke; meine Großmutter hat sie als Hochzeitsgeschenk von meinem Großvater bekommen, und wir haben den selben Namen.“ Ihr Lächeln vertiefte sich. „Aber diese beiden und die Spode-Kanne sind die einzigen, wirklich kostbaren Gegenstände in meinem Haushalt, fürchte ich.“

Nach einer Sekunde des Zögerns streckte Stephen Seeker die Hände aus und berührte ihr Haar. Er hob es vom Nacken hoch und ließ die Bürste durch die zerzauste Masse gleiten, die sich langsam unter seinen langen, sanften Strichen entwirrte. Ruta sagte nichts, aber er merkte, wie sich ihr Körper unter seiner Fürsorge deutlich entspannte. Er sprach ebenfalls nicht, seltsam gefangen von dieser neuen, unvertrauten Aufgabe, und nach einem ersten Stich des Unbehagens wurde ihm klar, dass er die ganze Prozedur tatsächlich ebenso sehr genoss wie sie. Das einzige Geräusch in der stillen Küche war das leise Zischen der Bürste, und der langsame Rhythmus seiner eigenen Hände war friedlich und beinahe einschläfernd.

Nach ein paar Minuten war ihr Haar glatt und glänzend, und er breitete es auf ihren Schultern aus. Es lag warm und lebendig an seinen Handflächen, und er starrte eine kleine Ewigkeit darauf herunter, bevor er es in drei gleiche Strähnen teilte und anfing, es zu einem dicken Zopf zu flechten.

Die linke Strähne über die mittlere, rechte Strähne... die linke Strähne wieder über die mittlere, die rechte Strähne...

... er hatte immer davon geträumt, Lilys Haar einmal auf diese Weise zu flechten, aber er hatte nie die Chance dazu gehabt. Sie hatten sich sehr nahe gestanden, bevor er ihre Freundschaft mit seiner Arroganz und seinem hilflosen Hass zerschmetterte, aber sie waren sich nie nahe genug gekommen für einen Augenblick wie diesen...

... die linke Strähne über die mittlere, die rechte Strähne... wieder die linke Strähne...

... für eine flüchtige Sekunde streiften seine Finger ihren Nacken. Rutas Gesicht, ihre Arme und Hände waren noch immer von einem Sommer gebräunt, den sie hauptsächlich an der frischen Luft verbracht hatte, aber hier war die Haut weiß und samtweich...

...die rechte Strähne über die mittlere, die linke Strähne... wieder die rechte Strähne...

... seine Augen folgten der anmutigen Linie, wo der Hals in ihre Schultern überging. Er wusste, dass er sich nur ein klein wenig vorbeugen musste, um den Ausschnitt ihres grünen Gewandes und die sanften Rundungen ihrer Brüste zu sehen...

... die linke Strähne über die mittlere, die rechte Strähne, die linke Strähne wieder über die mittlere...

Plötzlich ließ Ruta sich in seine Berührung hinein sinken und gab einen kleinen Laut von sich, der tief aus ihrer Kehle kam, wie das Schnurren einer sehr zufriedenen Katze.

„Sie sollten erwägen, Ihren Beruf zu ändern,“ murmelte sie Die scharfe Anspannung, die ihn zuvor alarmiert hatte, war völlig aus ihrer Stimme verschwunden, und der warme, vibrierende Ton schickte einen heftigen Schauder durch seinen ganzen Körper Instinktiv trat er einen halben Schritt zurück.

„Sie vergessen, dass ich im Moment überhaupt keinen Beruf habe,“ entgegnete er, während er gleichzeitig darum rang, die Kontrolle über eine Vielzahl von Nerven zurück zu erlangen, die mehr Jahre außer Dienst gewesen waren, als er zu zählen wagte.

„Was sich sicherlich eines Tages wieder ändern wird,“ sagte sie, straffte den Rücken und erhob sich von ihrem Stuhl. Sie wandte sich ihm zu; er konnte eine einzelne, feine Strähne sehen, die seiner Aufmerksamkeit entgangen war, und zu seiner Bestürzung musste er gegen den starken Drang ankämpfen, sie zwischen die Finger zu nehmen und ihr hinter das Ohr zurück zu streichen. „Danke... das war beides, sanft und freundlich. Und jetzt muss ich Sie noch um einen weiteren Gefallen bitten... einen viel größeren.“

Ihre Stimme war ruhig und klar.

„Sie sind imstande, den Wolfsbann-Trank zu brauen, und ich brauche ihn. Der nächste Vollmond wird kommen, und ich will nicht zur Bestie werden. Ich will mich nicht wieder selbst verlieren. Nicht wie...“ Sie erzitterte und biss sich auf die Lippen. „... nicht wie beim ersten Mal.“

„Das ist der Grund, wieso ich hier bin,“ antwortete er. „ich kam vor zwei Tagen nach Berwick, um meine Hilfe anzubieten. Aber ich verpasste Sie, und als wir uns endlich trafen, da nahm unsere Unterhaltung eine völlig... andere Richtung.“

Plötzlich lachte Ruta.

„Das ist eine sehr rücksichtsvolle Art, es auszudrücken,“ sagte sie, „vor allem, nachdem ich in Ihrer Gegenwart eine solche Närrin aus mir gemacht habe.“

„Noch etwas anderes,“ fuhr er fort, heimlich froh darüber, dass seine Nerven, sein Geist und sein Körper langsam zu einem anständigen Benehmen zurückkehrten; das ernste Thema wirkte Wunder, um ihm wieder einen klaren Kopf zu verschaffen. „Ich fürchte, dass es im Moment zuviel verlangt wäre von Mrs. Tonks, zwei Haushalte gleichzeitig zu führen. Und ich kann sehen, dass Sie während ihrer Rekonvaleszenz etwas zusätzliche Hilfe gut brauchen können. Sobald ich wieder Zuhause bin, habe ich die Absicht, Ihnen Winky zu schicken.“

„Winky?“ Sie schüttelte den Kopf. „Glauben Sie wirklich, Sie können ihre Dienste entbehren... und wäre sie damit einverstanden?“

„Ich kann mir kaum vorstellen, dass sie etwas dagegen hätte,“ bemerkte er. „Ich denke, sie wird entzückt sein. Seit Sie ihr die Ohrringe geschenkt haben, betet sie den Boden unter Ihren Füßen an. Nebenbei liebt sie nichts mehr, als dienstbar zu sein. Meine Bedürfnisse sind nicht so kompliziert, und ich glaube, sie hat bereits jeden Gegenstand in meinem Haus aufgestöbert, der sich blank polieren lässt.“

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ Sie sah ihn an, das Gesicht erfüllt von unverhohlener Erleichterung. „Außer, dass ich nicht weiß, was ich ohne Sie täte. Sie sind unglaublich großzügig, Stephen.“

„Ich versuche einfach, zu helfen, so gut ich kann,“ sagte er brüsk. „Und jetzt muss ich gehen. Winky wird in ein paar Minuten hier sein. Ich nehme an, dass Sie noch nicht gefrühstückt haben?“

„Ja.“

„Dann sollten Sie ihr gestatten, den Kaffee zu brauen, den Sie so sehr mögen, und Ihre Speisekammer zu plündern... und meine, wenn nötig. Sie wird alles übernehmen, so lange Ihre Wunden verheilen, und sie wird auch eine große Hilfe darstellen, wenn der Mond voll ist. Ich werde ausreichend damit beschäftigt sein, den Wolfsbanntrank zu brauen, aber sie wird ihm jeden Morgen herüber bringen und über Sie wachen, während Sie verwandelt sind. Das ist kaum eine Aufgabe für Andromeda Tonks.“

Ihre Lippen zuckten. „Nur allzu wahr.“

„Also gut. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, Ruta. Winky sollte die Dinge wesentlich leichter für Sie machen.“

„Das wird sie ganz sicher. – Stephen?“

Plötzlich stand sie vor ihm; sie nahm seine Hand. Ihre Berührung ließ seine Haut prickeln, er konnte die Wärme spüren, die von ihrem Körper ausstrahlte, und den schwachen Duft, der von ihrem Haar aufstieg. Gras und Rosen, dachte er wie schon einmal zuvor, und dann war ihr Gesicht ganz nahe, und ihre Lippen berührten seine Wange. Sein Herz setzte einen Schlag aus, aber bevor er reagieren konnte, war sie bereits zurückgetreten.

„Auf Wiedersehen, Stephen. Und.. danke.“

„Auf Wiedersehen, Ruta.“

Er wandte sich hastig ab und verließ mit schnellen Schritten das Haus. Die Weide und die verblühenden Rosen rauschten in einem grün-weißen Nebel an ihm vorüber, und dann schloss er das Gartentor hinter sich, stand auf dem Gehweg und holte tief Luft. Er blickte auf seine Hände hinunter; die Finger zitterten.

Um der Vernunft willen – um Rutas willen, er musste sich von ihr fernhalten und wieder zu Verstand kommen. Das Letzte, was sie jetzt brauchte, war ein Freund, der nach etwas hungerte, das weit jenseits aller Freundschaft lag... etwas, das zu begehren er kein Recht hatte.

*****

Winky traf kaum zehn Minuten, nachdem Stephen gegangen war, bei ihr ein, und von diesem Moment an musste Ruta buchstäblich keinen Finger mehr rühren. Nach den ersten vierundzwanzig Stunden fühlte sich die ungewohnte Gegenwart einer Hauselfe ziemlich eigenartig an, nach achtundvierzig Stunden entschied sich Ruta, Winky das Kochen von Mahlzeiten zu verbieten, die ausreichten, drei Esser zu füttern anstatt nur einen, und nach zwei weiteren Tagen fragte sie sich ganz ehrlich, wie sie es bisher eigentlich fertig gebracht hatte, ohne sie zu überleben.

Jeden Morgen erwachte sie und roch das üppige Aroma von Winkys großartigem, frisch aufgebrühten Kaffee; die Elfe hatte herausgefunden, dass sie Croissants liebte, und sie fanden sich jeden Tag auf ihrem Frühstückstisch, warm und knusprig, mit einem Töpfchen sahniger Butter und kleinen Glasschalen mit Honig und Erdbeermarmelade zum Eintauchen. Der vernachlässigte Garten wurde wieder in Ordnung gebracht; die letzten, verwelkten Rosenblüten verschwanden über Nacht, und die Büsche wurden sauber beschnitten und auf ihren langen Winterschlaf vorbereitet. Die Kleidungsstücke, die Ruta seit jenem schicksalhaften Abend nicht mehr hatte tragen können, stellten kein Problem mehr dar, und Winky überwachte sorgsam die therapeutischen Übungen, die man Ruta in St. Mungo in der Hoffnung verschrieben hatte, dass sie etwas von der verloren gegangenen Kraft und der Biegsamkeit in ihrem rechten Arm wiedergewinnen könnte.

Nach drei Tagen brachte Winky das erste, kleine Fläschchen mit Wolfsbann-Trank; er war ganz genau so fürchterlich, wie Remus es ihr beschrieben hatte, aber Ruta schluckte die dampfende Flüssigkeit mit ehrlicher Dankbarkeit, gemeinsam mit einem erstaunlich starken Gefühl der Enttäuschung darüber, dass Stephen sich nicht die Mühe gemacht hatte, das schützende Gebräu persönlich abzuliefern. Er hat gesagt, dass er beschäftigt ist, ermahnte sie sich selbst streng. Und wahrscheinlich hat er eine Pause nötig, nach dem ganzen Drama, in das du ihn hinein gezerrt hast.

In den folgenden Tagen nahm sie pflichtbewusst den Trank weiter zu sich, aber noch immer kam Stephen nicht, und eine beunruhigende Mischung aus Stolz und Verlegenheit hielt Ruta davon ab, ihn aufzusuchen. Stattdessen versuchte sie, der zerbrochenen Routine ihrer Tage einen neuen Rhythmus zu geben. Sie nutzte die Vormittage, die Bücher neu zu lesen, die sie seit Jahren vernachlässigt hatte, und an den Nachmittagen machte sie lange Spaziergänge durch das Dorf und das Tal. Die Leute von St. Mary Green begegneten ihr mit großem Mitgefühl und Freundlichkeit... was wahrscheinlich das Ergebnis der Geschichte war, die Andromeda geschickt durch ihr wöchentliches Teekränzchen gestreut hatte. Die Dorfbewohner dachten, dass es die Nachwirkungen eines schweren Unfalles bei einem Besuch in London waren, die Ruta zu Hause festhielten; sie dachten, ein unaufmerksamer Fahrer in einem schleudernden Wagen sei die Ursache ihrer schweren Verletzungen. Ruta ertappte sich mehr als einmal dabei, dass sie sich wünschte, das Märchen, das Dromeda ihren klatschsüchtigen Freundinnen erzählt hatte, sei die Wahrheit.

Wenn es dunkel wurde, ging sie Teddy und seine Großmutter besuchen; sie aß mit den beiden zu Abend und las Teddy die Legenden von Beedle dem Barden vor; einmal mehr öffnete sie das Buch auf der ersten Seite und begann mit Der Zauberer und der Hüpfende Topf, obwohl sie wusste, dass Die Quelle des wahren Reichtums das Lieblingsmärchen ihres Neffen war. Am letzten Abend vor dem Mondwechsel überging sie die Seiten mit Das haarige Herz des Hexenmeisters – eine dunkle, grausame Erzählung, die sie immer schon herzlich verabscheut hatte – und las Die Quelle des wahren Reichtums noch einmal. Ruta lächelte und erinnerte sich, wie Teddy, als er noch jünger war, sie oft gebeten hatte, „dieses ganze langweilige, romantische Zeugs“ weg zu lassen, aber an diesem Abend machte es ihm scheinbar nichts aus:

Amata wusste um den Schatz, der ihr das Herz beschwerte. Sie wusste, sie musste ihn loslassen, um ihnen allen den Übergang über den Fluss zu ermöglichen. Sie sah, wie Asha seufzte und Altheda die Stirn runzelte, und sie sah die dunklen, besorgten Augen von Sir Glücklos. Sein Blick hielt den ihren fest, und sie entdeckte den blassen Schatten eines Mut machenden Lächelns. Und so hob sie denn ihren Zauberstab, und die Erinnerung an ihren Liebsten, wertgeschätzt und viel zu lang bewahrt, stieg in einem silbrigen Nebel von ihrer Schläfe auf und trieb hinab in das Wasser.

Wohl getan, Mylady Amata,“ flüsterte Sir Glücklos. „Wohl getan.“

Mit ungläubiger Freude sah sie Trittsteine, die sich aus dem Strom erhoben; ritterlich ergriff er ihre Hand und führte sie über das Wasser, und Asha und Altheda folgten ihnen...“

Ruta klappte das Buch zu und sah, dass Teddy eingeschlafen war. Einen langen Moment saß sie völlig reglos, ihr Geist voll von der Erinnerung an die Hände eines Mannes in ihrem Haar.

Ich versuche einfach, zu helfen, so gut ich kann.

Sie seufzte, beugte sich vor und küsste den Jungen auf die Wange; sie ließ sich von seinem kindlichen Geruch nach Milch, reiner Haut und Seife einhüllen wie von einer süß duftenden Wolke. Dann erhob sie sich vom Bett, ging auf Zehenspitzen aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

*****

Am nächsten Morgen brachte Winky nicht ein Fläschchen mit, sondern zwei.

„Der Herr sagt, dies ist ein leichter Schlaftrunk,“ erklärte die Hauselfe. „Der Herr denkt, dass Miss Lupin es vielleicht vor dem Mondaufgang nehmen möchte, denn er ist besorgt wegen der heftigen Nebenwirkungen der Verwandlung auf Ihre Wunden, und dieser Trank macht den Übergang leichter.“

„Wie rücksichtsvoll,“ sagte Ruta, ließ das zweite Fläschchen in die Tasche ihres Morgenmantels gleiten und nahm die dampfende Tasse mit dem Wolfsbanntrank. Sie leerte die Tasse und wischte sich den Mund.

„Dankeschön, Winky. Du darfst jetzt nach Hause gehen, wenn du möchtest. Ich glaube nicht, dass ich dich für den Rest des Tages noch brauche.“ Sie lächelte. „Dein Herr könnte sich etwas vernachlässigt fühlen.“

„Mein Herr besteht darauf, dass ich hier sein soll,“ gab Winky zurück und verschränkte beide Arme vor der Brust. Die herzförmigen Stecker in ihren Flatterohren blitzten herausfordernd.

„Und ich bestehe darauf, dass du nach Hause gehst,“ sagte Ruta fest und fuhr absichtlich in einem weicheren Tonfall fort, als sie Winkys verletzten, unglückseligen Blick bemerkte. „Du warst diese ganze Zeit über ein wahres Wunder, wirklich... ich brauche einfach einmal einen Tag für mich. Du kannst kurz vor Sonnenuntergang wiederkommen, wenn du magst. Tatsächlich würde ich das sehr zu schätzen wissen.“

Die Hauselfe lächelte sie strahlend an.

„Winky wird rechtzeitig wieder da sein,“ versicherte sie Ruta voller Eifer. „Und Winky wird aufpassen, dass Miss Lupin in ihrem Haus in Sicherheit ist, bis zum Ende des Vollmonds.“

Fünf Minuten später verschwand sie. Winkys Gegenwart war ein Segen gewesen, aber Ruta genoss es ganz ehrlich, allein zu sein, und es war schwer gewesen, diese Tatsache der kleinen Hauselfe begreiflich zu machen. Um die verbleibenden Stunden auszufüllen, entschloss sie sich zu einem langen Spaziergang den Weg hinauf, der zum Bléa Tarn führte. Sie verbrachte den Rest des Vormittags und den größten Teil des Nachmittags am Ufer des Sees; die Touristen waren fort, die Luft war frisch und kristallklar, und für ein paar Stunden bot ihr die stille Landschaft, die sich im Blau des Wassers spiegelte, einen Zufluchtsort, den sie mit niemandem zu teilen brauchte.

Sie kehrte ins Dorf zurück, als die Sonne in Richtung Horizont sank. Sie betrat das Haus, schlüpfte aus den Muggelkleidern und hinein in ihren Morgenmantel, während das Licht sich zu einem tiefen Rot verfärbte, mit feurigen, dünnen Strahlen, die sich ihren Weg durch die vereinzelten Wolken im Westen suchten.

Ihre Hand tastete nach dem kleinen Fläschchen in ihrer Tasche. Sie entkorkte es und roch das scharf-süße Aroma; ihre geschärften Sinne hatten keine Mühe, die Zutaten herauszufinden. Hauptsächlich Baldrian, und ein wenig Mohn... er würde sie wahrscheinlich nur schläfrig und träge machen, gerade genug, um das entsetzliche Gefühl der Verwandlung zu dämpfen. Auf dem Küchentisch fand sie ein Tablett mit einem frischen Hühnchensandwich und einem Glas Kürbissaft. Sie aß mit überraschendem Appetit und spülte – nach einer Sekunde des Zögerns – den Schlaftrunk mit dem Rest des Saftes hinunter. Dann ging sie die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer, schloss die Tür und verriegelte sie von innen.

Der Sonnenuntergang war nicht mehr als eine glühende Erinnerung hinter den Schindeldächern und Giebeln auf der anderen Seite von Tulip Close. Sie schaute auf die Straße hinunter... und plötzlich erblickte sie die vertraute, stille Gestalt eines Mannes, ganz in Schwarz gekleidet, das bleiche Gesicht nach oben zu ihrem Fenster gewandt.

Er war da.

Sie hob die Hand, erfüllt von ungläubiger Freude. Eine sorglose Sekunde lang wollte sie das Fenster aufstoßen, wollte seinen Namen rufen... aber nun wob schwere Schläfrigkeit ein feines Netz um ihre Glieder und begann langsam, ihren Kopf zu umnebeln. Der Trank fängt an zu wirken. Draußen war der Himmel dunkel geworden, und ein starker Wind verjagte die Wolken vor der glanzvollen Lampe des Mondes. Reine, silberne Helligkeit wusch über sie hinweg; sie wandte ihre Augen dem Licht zu, das über ihr Blut regierte, und die Knie gaben unter ihr nach.

Mit einer letzten, bewussten Anstrengung versuchte sie, sich an das Fensterbrett zu klammern, aber sie hatte keine Hände mehr, die sich daran hätten festhalten können. Sie erhaschte einen kurzen Blick auf Finger, die zusammenschrumpften und sich in Pfoten verwandelten, und wieder kämpfte ihr Geist verzweifelt gegen das Gefühl von Pelz an, der ihre Haut durchbrach und ihren ganzen Körper überzog, während der Mond wie kaltes Feuer in ihren Adern kreiste.

Irgendwo weit entfernt ertönte ein schriller, dünner Schrei und verwandelte sich in ein lang gezogenes Heulen. Und dann nichts...

... nichts als undurchdringliche Stille.

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Die Märchen von Beedle dem Barden gibt es tatsächlich als Buch; sie sind handgeschrieben (von Mrs. Rowling höchstpersönlich), und nur ein Exemplar von insgesamt sieben wurde in einer Auktion bei Sotheby’s in London versteigert (an Amazon). Die Leute dort waren freundlich genug, erst einmal Inhaltsangaben der Märchen zu verfassen, die nicht in den Harry-Potter-Büchern erwähnt werden, allerdings nicht die vollständigen Texte; also habe ich mir die Freiheit genommen, meine eigene Version von Die Quelle des wahren Reichtums zu schreiben, für dieses und das nächste Kapitel. (Wie der richtige Märchentext aussieht, könnt Ihr inzwischen selbst feststellen; am 4.12.08 sind die Märchen von Beedle dem Barden auf Englisch und Deutsch erschienen).


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