Wolfsmond
von Cúthalion


Kapitel Dreizehn
Der wahre Reichtum

Stephen Seeker wusste, dass dies ein Fehler war.

Er hatte sich mit eisernem Willen davon abgehalten, Ruta Lupin zu sehen, nachdem der Wolfsbanntrank einmal gebraut war. Statt dessen hatte er Winky geschickt, vollkommen davon überzeugt, dass das der einzige Weg war, den zerbrechlichen Seelenfrieden zu wahren, der bei ihrer letzten Begegnung so gründlich erschüttert worden war.

Doch nun stand er vor ihrem Haus, während das Licht des Vollmondes von einem klaren, kalten und wolkenlosen Himmel hernieder strömte, und er schalt sich einen hirnlosen Narren. Trotzdem ging er durch den taunassen Garten zur Tür. Es war nicht nötig, irgend einen Zauber anzuwenden; Winky ließ ihn ein, bevor er auch nur seinen Zauberstab heben konnte.

„Das Fräulein ist oben in ihrem Schlafzimmer,“ sagte sie. „Sie hat in den letzten drei Tagen die meiste Zeit geschlafen. Ich habe ihr Wasser und etwas zu Essen gebracht, aber das Essen hat sie nicht angerührt.“

Ihre Stimme klang noch höher und quäkender als üblich; die riesigen, blassbraunen Augen waren rot gerändert. Sie gingen zusammen durch den Vorraum und in die Küche, wo sich Winky sofort emsig damit beschäftigte, benutzte Tassen und Teller von einem Tablett aufeinander zu stapeln und sie hinüber zur Spüle zu tragen. Ihre Hände zitterten heftig, und plötzlich kippte die oberste Tasse um, purzelte in die Spüle und zerbrach in Stücke. Winky gab einen schrillen Schrei von sich, und nur eine rasche Geste von Seeker mit dem Zauberstab bewahrte den Rest des Porzellans davor, ebenfalls zu zerschellen. Seine Hand schloss sich um den Ellbogen der Hauselfe, während das Geschirr sich sachte wieder auf dem Tisch niederließ. Sein Blick war streng.

„Wie viel hast du während der letzten achtundvierzig Stunden geschlafen?“

Winky hob ein bebendes Kinn.

„Winky hat gar nicht geschlafen. Der Herr hat Winky gesagt, dass sie über das Fräulein wachen soll, und gewacht hat sie. Wie konnte sie seinem Befehl nicht gehorchen? Winky will, dass das Fräulein sicher ist, Winky will...“

Halt.“ Er drehte sie herum, bis sie sich Auge in Auge gegenüber standen. „Der Herr will, dass du ein Schläfchen machst. Also schön, eine ganze Reihe Schläfchen.“ Sein Blick wanderte durch die Küche und fand eine Dose mit Kaffeepulver, den Deckel halb offen. Fast zwei Drittel des Inhaltes waren verschwunden. „Wie viel von deinem eigenen Gebräu hast du in dich hinein gegossen, um Himmels Willen?“

„Oh.“ Winky blinzelte nervös. „Eine Kanne pro Tag – oder vielleicht zwei. Nur um wach zu bleiben, und zu tun, was der Herr gesagt hat, dass ich tun soll.“

„Wohl eher drei oder vier Kannen, nach deinem Zustand zu urteilen,“ gab er zurück und mäßigte bewusst seinen Ton. „Du hast deine Aufgabe ausgezeichnet erledigt, Winky, aber genug ist genug. Ich übernehme jetzt, während du nach Hause gehst und soviel Schlaf nachholst, wie du kannst. Verstanden?“

„Aber das Fräulein hat nichts gegessen,“ beschwerte sich die Hauselfe widerspenstig. „Winky hat all ihre Lieblingssachen gekocht, aber sie hat sie nicht angerührt. Dann hat Winky ein Schüsselchen mit schönem, rohen Fleisch gemacht – Hühnchen und Rind und Ei, alles zusammen mit einem bisschen Salz und Brühe für den guten Geschmack, und nur eine Spur Rosmarin und Thymian, aber das hat das Fräulein auch nicht gegessen. Winky kann nicht schlafen gehen, bis das Fräulein gegessen hat,“ jammerte die kleine Köchin. „das Fräulein wird hungrig werden, sie wird krank werden, wenn sie nichts isst, aber vielleicht mag das Fräulein ja auch Winkys Küche nicht mehr...“

Er schluckte eine scharfe Erwiderung hinunter; es machte ihn zornig, dass Winky Ruta mit Essen belästigt hatte, während sie sich mitten in einer traumatischen Erfahrung befand; er mochte kaum glauben, dass sie sagen konnte: ,Das Fräulein wird krank’, als befände sich Ruta nicht bereits im Klammergriff einer unheilbaren Tragödie. Es irritierte ihn, dass er gezwungen war, sich mit etwas so Läppischem wie verletzten Gefühlen auseinander zu setzen, während sich seine gesamte Aufmerksamkeit auf den Raum über sich konzentrierte. Aber der Ärger verging, während er in diese geröteten Augen blickte.

Es kümmerte ihn auch, wie es dieser hier erging, deren Liebe und Loyalität ihn buchstäblich vom Tod zurückgeholt hatte... um seine merkwürdige Verwandlung beginnen zu können von dem, was er einst gewesen war zu dem, was auch immer jetzt aus ihm werden mochte.

Mit einer Geduld, die jeden von Severus Snapes Schülern heftig erstaunt haben würde, blickte Stephen Seeker auf das leidenschaftlich erregte, pingelige und in diesem Augenblick ganz und gar unvernünftige, kleine Geschöpf hinunter und sagte: „Geh schlafen, Winky. Ruta wird hungrig sein, wenn sie nach der Rückverwandlung wieder aufwacht – sie wird dich morgen brauchen, und wir werden beide Freude an einem guten Mittagessen haben. Boeuf Stroganoff vielleicht, und ein guter Kaffee hinterher. Schlaf jetzt. Ich werde auf sie Acht geben.“

„Wie der Herr wünscht.“ Sie verbeugte sich tief und versuchte, ein riesiges Gähnen zu unterdrücken; eine Sekunde später verschwand sie mit einem lauten Knall. Er spürte, wie er zusammen fuhr und schaute instinktiv nach oben zur Decke, aber abgesehen von seinem eigenen Herzschlag hörte er keinen Laut.

Er kehrte in den Vorraum zurück und ging die Treppe hinauf. Der Flur war dunkel; zwei Türen öffneten sich zu einem Badezimmer und einem leeren Gästezimmer, eine dritte war verschlossen und verriegelt, als er die Klinke hinunter drückte.

Seeker stand schweigend davor und versuchte, einen Entschluss zu fassen.

Er konnte sich kaum vorstellen, dass Ruta bei dem Gedanken erfreut sein würde, dass er sich, während sie noch verwandelt war, zu ihrem Versteck Zugang verschaffte. Aber zur selben Zeit verspürte er den unverminderten Drang, herauszufinden, ob es ihr gut ging – natürlich hatte sich Winky gut um sie gekümmert, aber er wollte es ganz sicher wissen.

Er musste sie sehen.

Alohomora!”

Die Tür öffnete sich geräuschlos und offenbarte ein weiteres Schlafzimmer, von Mondlicht überspült und dieses Mal eindeutig bewohnt. Das Bett war von einem Patchwork-Quilt bedeckt, in sanften Farbtönen von Rosenholz, Braun und Beige.

Er stand noch immer auf der Schwelle, als er von der rechten Seite des Raumes ein tiefes, leises Knurren hörte. Er wandte sich um – und obwohl er darauf vorbereitet gewesen war, fror er ein.

Unter dem Fenster lag ein Wolf.

Sie war ein großes Tier, wenn auch nicht annähernd so gewaltig wie Fenrir Greyback. Der lange, schlanke Leib war mit anthrazitfarbenem Fell bedeckt, die Schultern und Beine mit weißen Flecken gezeichnet. Bei seinem Anblick erhob sich die Wölfin langsam, aber sie hatte ganz offensichtlich nicht die Absicht, ihn anzugreifen. Sie bewegte sich in seine Richtung – nicht mit der normalen Anmut eines wilden Tieres, sondern zögerlich und hinkend; und dann bemerkte er das steife, rechte Vorderbein, mit hervor tretenden, zornroten Narben, die sich von der Schulter zur Pfote hinunter zogen.

Für den Werwolfs-Fluch gibt es natürlich keine Heilung, aber der Wolfsbann-Trank – falls man ihn korrekt zubereitet – trägt entscheidend zur Verbesserung der Umstände bei. Der Werwolf verwandelt sich bei Vollmond körperlich, aber sowohl Bewusstsein als auch Verstand bleiben ihm erhalten. Wenn man diese Vorzüge bedenkt, dann sind die Nebenwirkungen des Trankes – Appetitlosigkeit und extreme Schläfrigkeit - nur noch eine bloße Bagatelle.

Zu seiner Überraschung war es die lässig-affektierte Stimme von Horace Slughorn, die er in seinem Kopf hörte. Aufgeblasener Trottel... obwohl er natürlich Recht hatte. Mit einem lauten, sarkastischen Schnauben verbannte er seinen früheren Zaubertranklehrer aus seinen Gedanken, und die Wölfin – trotz seiner Erfahrung und dem, was er wusste, scheute Seeker davor zurück, sie Ruta zu nennen – spitzte die Ohren.

„Es tut mir Leid,“ sagte er. „Ich weiß, ich hätte nicht hereinkommen sollen. Aber ich musste Winky ins Bett schicken, damit sie nicht zusammenklappt. Und ich wollte sicher sein, dass der Trank die richtige Wirkung zeigt.“

Die Wölfin winselte leise, dann zog sie sich langsam an ihren Platz unter dem Fenster zurück und legte sich mit einem kehligen Grollen spürbarer Erleichterung wieder hin.

Wieder schaute Seeker sich um und nahm noch mehr Einzelheiten des Zimmers in sich auf. Der Rosenholzton des Quilts wiederholte sich an den Wänden, und die Vorhänge waren von einem dunklen Schokoladenbraun. Ein runder Teppich in verblassten Schattierungen von Rehbraun, Gold und einem weichen, aber noch immer jubilierenden Rubinrot bildete das Zentrum dieses Refugiums. Bücherregale verdeckten die Mauern, und dazwischen standen Grünpflanzen in Töpfen auf kleinen Holzpodesten. Es war eine verblüffende Mischung aus Schlafzimmer und Bibliothek.

Er wandte sich zum Kamin gegenüber dem Bett um, und zu dem tiefen, bequem wirkenden Sessel, der daneben stand.

„Hätten Sie etwas gegen ein Feuer einzuwenden?“

Die Wölfin zeigte kein Anzeichen des Widerspruchs, also kniete er sich auf den Boden, holte Apfelholzscheite aus einem kleinen Weidenkorb und baute sie zu einem Stapel.

Incendio!”

Goldene Flammen erhoben sich mit einem machtvollen Brüllen und wärmten ihm das Gesicht. Ein metallenes Glänzen auf dem Kaminsims lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich; ein Buch, und scheinbar ein ganz besonderes. Er nahm es, drehte es in den Händen und hielt unwillkürlich den Atem an.

Das Buch war in Leder gebunden, von Alter weich und nachgedunkelt. Kostbare Silberbeschläge schmückten die Oberseite, und in der Mitte saß ein kleiner Schädel aus Silber, mit zwei schimmernden Mondsteinen in den Augenhöhlen. Es war eine exquisite Ausgabe der Legenden von Beedle dem Barden; seine Mutter hatte ihm die uralten Märchen zuweilen vorgelesen, als er noch ein Kind gewesen war, aber ihr Exemplar war schlicht, ein billiges Paperback und schon ziemlich zerfleddert. Dieses Buch hier war etwas ganz anderes – das kostbare Erbstück einer uralten Dynastie, und ein kleines Vermögen wert. Wenn die Muggel-Kaffeekanne und das Set aus Kamm und Bürste die einzigen kostbaren Gegenstände in diesem Haus waren, dann gehörte das hier mit ziemlicher Sicherheit nicht Ruta. Vielleicht war es eines von Andromedas Besitztümern – sie hatte ein Enkelkind, jung genug, um Beedles Legenden zu schätzen, und sie war immerhin eine Black.

Silber und Edelsteine blitzten im Feuerschein. Unter seinen Händen öffneten sich die Seiten und offenbarten schön gedruckte, alte Minuskeln, und ein feines Lesezeichen aus bestickter Seide.

Der Brunnen des wahren Reichtums,“ murmelte er. Es war nie Eileen Princes Lieblingsmärchen gewesen, obwohl er es gemocht hatte, wenigstens so lange er noch ein Junge in Teddys Alter war. Aber die qualvollen Verstrickungen seines eigenen Schicksals hatten dafür gesorgt, dass er die sanfte, hoffnungsvolle Moral der schlichten Geschichte verwarf.

Plötzlich spürte er eine kühle Berührung an der Hand. Er blickte auf und sah, dass die Wölfin vor ihm stand, die leuchtend gelben Augen fest auf das Buch gerichtet.

„Was ist?“ Er starrte auf sie hinunter. „Was möchten Sie, dass ich tun soll?“

Wieder stupste die feuchte Nase sanft gegen seine Finger.

Es war ein bemerkenswert alberner Einfall... aber es würde noch ein paar Stunden dauern, ehe der Mond unterging und die Dämmerung einsetzte. Und der Sessel war wirklich sehr bequem.

„Sind Sie sicher, dass Sie wirklich... ach um Himmels Willen, wieso auch nicht.“ Seeker seufzte. „Wenigstens ist dieser Ort privat genug, dass ich mich zum Narren machen kann, ohne dabei beobachtet zu werden.“ Er warf der Wölfin einen strengen Blick zu. „Aber ich sollte Sie im Voraus warnen, dass ich noch nie ein guter Geschichtenerzähler gewesen bin.“

Die Wölfin ließ sich zu seinen Füßen nieder; der Kopf sank auf die Pfoten.

Es war einmal ein wundersamer Garten am weit entfernten Ende eines magischen Königreiches, umschlossen von einer hohen Mauer und von mächtigen Bannsprüchen geschützt, die kein Zauberstab zu brechen je imstande war. Jedes Jahr, an der Wende vom Winter zum Frühling, wurde der Bann für einen einzigen Tag aufgehoben, und eine schmaler Riss öffnete sich in der Mauer, um einen einzigen Unglückseligen hindurch zu lassen und ihm ein Bad im Brunnen zu gestatten, dass er für immer wahren Reichtum gewinnen möge...“

Das Feuer brannte hell genug, um in seinem Licht zu lesen, und abgesehen vom Prasseln der Flammen war die tiefe Stimme des Mannes im Sessel das einzige Geräusch im Zimmer. Er las Seite um Seite und entdeckte eine Erzählung neu, die er als kleines Kind gegen allen Anschein der Wirklichkeit verzweifelt geliebt hatte. Und er stellte fest, dass er sich tiefer und tiefer in der uralten Geschichte von den drei Hexen fing, die nach Erlösung und Hilfe suchten: Asha, „an einer Krankheit leidend, die kein Heiler kurieren konnte“, Altheda, die sich bitterlich danach sehnte, von Armut und Verrat frei zu werden, und Amata, die sich noch immer um eine verlorene Liebe grämte... und sie alle warteten eifrig inmitten einer riesigen Menge von Schatzjägern auf den rechten Augenblick.

Das erste Licht des wundersamen Tages nahte sich und warf einen schwachen, goldenen Schein auf die verzauberte Mauer. ,Schaut!’ rief Altheda. ,Sie öffnet sich! Eilt euch, oder wir kommen nie und nimmer rechtzeitig hindurch!’ Graugrüne Ranken wanden sich durch den frischen Riss mitten im Gestein, schlangen sich um Asha und zogen sie hinein. ,Gebt Acht!’ schrie sie, bekam Althedas Handgelenk zu fassen und zerrte sie mit sich. Altheda wirbelte herum und packte Amata am Ärmel. Doch als Amata eben von den Füßen gerissen wurde, stolperte ein Ritter in rostiger Rüstung aus dem Menschenschwarm und sein in Eisen gekleideter Fuß verfing sich im Saum ihres Gewandes. Mit einem Schrei schossen sie beide vorwärts, schrammten an den rauen Steinen entlang und purzelten endlich übereinander auf den üppigen Rasen des geheimen Gartens. Und mit lauten Donnern schloss sich die Mauer hinter ihnen.“

Die Erzählung führte die Reisegesellschaft an den drei Aufgaben vorbei, die jedes Zaubererkind auswendig kannte; der monströse, weiße Wurm, aufgedunsen und blind, der den Beweis ihrer Schmerzen forderte (und zufrieden gestellt wurde durch Ashas Tränen); der steile Berg, der nur durch die Frucht ihrer Mühen überwunden werden konnte (der Schweiß auf Althedas Stirn, während sie ihre Gefährten auf dem Weg zum Gipfel ermutigend anfeuerte); und die Schätze ihrer Vergangenheit (gegeben durch das Opfer von Amatas bittersüßen Erinnerungen). Sie sprach davon, wie die drei Hexen einander beistanden, ohne den legendären Brunnen benutzen zu müssen: Altheda, indem sie einen Heiltrank für Asha zusammenbraute, sie von ihrem Leiden befreite und sich selbst damit bewies, dass sie mit ihren Fähigkeiten den Lebensunterhalt verdienen und ihrer Armut ein Ende machen konnte. Und endlich Amata, die die Falschheit ihres grausamen und treulosen, verlorenen Liebsten erkannte, und die dem Ritter in rostiger Rüstung, dem tapferen Sir Glücklos, das Bad im Brunnen anbot, das sie selbst nicht länger nötig hatte.

Sir Glücklos kletterte aus dem Brunnen; sein Gesicht strahlte, und Wasser tropfte von seiner Rüstung. Mit einem mächtigen Geklirr von zerbeultem Eisen fiel er Amata zu Füßen. .Meine liebliche Lady Amata!’ rief er aus. ,Ihr habt meinen Mut und meinen Glauben wiederhergestellt, und alles, was ich nun nötig habe, um den Rest meines Lebens glücklich zu sein, sind Euer Herz und Eure Hand.’Und Amata blickte hinunter auf diesen tapferen Mann, und endlich begriff sie, dass er sich tatsächlich ihrer würdig erwiesen hatte. Sie lachte, die Augen hell von staunendem Jubel. ,Liebend gern gebe ich Euch beides, mein lieber Sir Glücklos,“ sagte sie, ,und nun werden wir einen neuen Namen für Euch finden müssen, denn wir werden bis zum Ende unserer Tage in Freuden miteinander leben.’“

Stephen Seeker klappte das Buch behutsam zu und legte es zurück auf dem Kaminsims. Dann ließ er sich wieder in den Sessel sinken und starrte auf die Wölfin hinunter. Nach einem Moment des Zögerns streckte er die Hand aus und berührte sie sachte. Das Fell fühlte sich unter seiner Handfläche überraschend weich an.

„Ruta.“ Es war ein fast unhörbares Flüstern.

Die Wölfin hob den Kopf und sah ihn an; der mächtige Kopf folgte der Bewegung seiner Finger, als er sie zurückzog. Hinter ihnen fielen die Flammen in der Feuerstelle in sich zusammen. Feine Rauchfäden kräuselten in den Kamin hinauf. Ein plötzlicher Windstoß stahl sich durch die Risse im Fensterrahmen und blähte die schweren Vorhänge. Gelbe Augen starrten zu dem Mann auf, der sich im Sessel vorbeugte, und schwarze Augen erwiderten den Blick ohne zu blinzeln, endlich geblendet von der Wahrheit, die zu sehen sie sich so lange nicht erlaubt hatten.

Ruta.”

*****

Er erwachte mit einem Ruck. Schwaches Licht sickerte durch die geschlossenen Vorhänge; sein Hals fühlte sich steif und wund an. Er setzte sich auf und suchte instinktiv nach der stillen Gestalt der Wölfin zu seinen Füßen.

Sie war verschwunden. Auf dem Teppich lag Ruta; sie schlief tief und fest, den Kopf auf den verschränkten Armen. Ihr offenes Haar bedeckte den größten Teil ihrer bloßen Schultern und ihres Rückens. Seine Müdigkeit hatte dafür gesorgt, dass er die Verwandlung nicht mitbekam, und ihre eigene Erschöpfung hatte sie daran gehindert, rechtzeitig zu erwachen, um es zu vermeiden, so vorgefunden zu werden.

Ein paar Augenblicke hindurch wusste er sich keinen Rat, was als Nächstes zu tun war. Sollte er sich hinaus schleichen und sie zurücklassen, ohne dass sie etwas von seiner Gegenwart ahnte? Eine Decke für sie holen, falls sie aufwachte, um ihnen beiden die Peinlichkeit zu ersparen? Endlich traf er eine Entscheidung. Er hob sie sanft hoch und trug sie zu dem unberührten Bett hinüber. Es gelang ihm, mit einer Hand die Tagesdecke und das Federbett zurückzuziehen, und er legte sie vorsichtig auf das Laken, bevor er sie zudeckte.

Er streckte den Rücken und schaute auf sie hinab – auf das Gesicht, entspannt in tiefem Schlummer, die scharfen Linien von Schmerz und Erdulden ausgelöscht, glatt und blass wie Marmor.

Er betrachtete ihr Haar – die weichen, haselnussbraunen Wellen, die sich auf dem Kissen ausbreiteten wie ein verblüffend üppiger Mantel aus Seide. Er erinnerte sich lebhaft daran, wie sich die langen, glänzenden Locken angefühlt hatten, als er sie vor einer Woche für sie geflochten hatte.

Er wusste, er musste gehen; aber irgendwie brachte er es nicht fertig, sich abzuwenden. Statt dessen stellte er fest, dass er sich erneut vorbeugte und mit einer Art merkwürdigem Distanz seine Hand dabei beobachtete, wie sie sich ausstreckte und sie berührte... das Haar berührte. Vorsichtig nahm er eine feine Strähne zwischen Daumen und Zeigefinger. Dann, noch immer sehr langsam und zögernd, bewegte sich die Hand weiter zu ihrem Kopf. Ganz sachte streichelte er ihre Stirn, die Schläfe und endlich ihre Wange.

Er wusste, er musste gehen... rasch, ehe sie aufwachte. Aber in dem winzigen Moment bevor er die Hand fort nehmen und den Kontakt unterbrechen konnte, öffnete sie die Augen.

Sofort begegnete ihr Blick dem seinen, von Schläfrigkeit verschleiert und dann mit einem Mal hellwach. Es gab keine Möglichkeit, die Lage misszuverstehen; noch immer stand er über sie gebeugt, die Handfläche an ihrem Gesicht. Sie musste sich der Tatsache bewusst sein, dass ihr Körper unter der Decke vollkommen nackt war.

De in finsteres Schwarz gekleidete Schurke, bereit, die hilflose Jungfer zu missbrauchen... Das Klischee war abgeschmackt genug, dass seine Lippen zuckten, trotz der plötzlichen Furcht, die ihm bis auf die Knochen ging und sich um sein Herz krampfte wie eine Faust; dass diese kleine Geste zerstören könnte, was immer sie miteinander erreicht hatten. Er hatte diesen Hunger für mehr als zwei Jahrzehnte fast vollständig unterdrückt... denn die Frau, nach der er sich all diese Jahre hindurch gesehnt hatte, war verloren, ein bittersüßer Traum, der ihn verfolgte, stark genug, um ihn an die Aufgabe zu binden, über ihren Sohn zu wachen. Doch dieser Traum war unfähig gewesen, die körperlichen Bedürfnisse zu stillen, die er gelernt hatte, sich selbst zu verweigern.

„Stephen.”

Es war kaum mehr als ein Flüstern, und er war nahe genug, um es wie eine warme Brise auf seiner Haut zu fühlen. Plötzlich entspannte sich ihr Gesicht in einem Lächeln, und er sah, wie sich sein Zwillingsbild in ihren Augen spiegelte. Ihre heile Hand hob sich von der Decke, und ohne nachzudenken drehte er seine Handfläche, bis ihre Finger sich verschränkten.

Stephen…”

Kein Vorwurf in ihrer Stimme, keine plötzliche Furcht. Ungläubig und staunend begriff er, dass er statt der wütenden Zurückweisung, mit der er fest gerechnet hatte, nur freudige Zustimmung vorfand. Sie machte den angestrengten Versuch, sich auf den verletzten Arm zu stützen; instinktiv fasste er zu und stützte sie, ehe die geschwächten Muskeln nachgeben konnten. Nun saß er auf der Bettkante und hielt sie in einer lockeren Umarmung.

Er konnte die zerklüftete Narbe direkt unterhalb ihrer Schulter spüren, bewegte seine Hand von der Wunde fort und schloss sie um ihren Nacken. Sein Daumen fand ihr Ohrläppchen und streichelte es sachte, während ihr weiches Haar über seinen Arm hinab fiel. Irgendwie war es nur logisch, das zu tun, was er als Nächstes tat: er beugte sich noch weiter vor, bis seine Lippen ihren Mund fanden.

Ihr Atem mischte sich mit dem seinen, und was als sanfte, tastende Berührung begonnen hatte, wurde intensiver, als er ihre Hand auf seinem Rücken fühlte. Er zog sie noch enger an sich und liebkoste ihren Hals, und der Schauder, der durch den Körper rann, der sich an ihn presste, sorgte dafür, dass er in ihren Mund hinein nach Luft schnappte. Sie zog sich zurück, aber nur ein ganz klein wenig; ihre Augen leuchteten.

„Du wirst Geduld haben müssen mit mir,“ murmelte sie, und jetzt erreichten ihre Finger sein Gesicht; sie folgten einer aufreizenden Spur an seinen Wangenknochen entlang und im Kreis um sein Ohr. „Ich bin ein bisschen... aus der Übung.“

Er öffnete den Mund und stellte fest, dass es ihm unmöglich war, etwas zu sagen. Eine Vielzahl von Gedanken schossen ihm durch den Kopf; das neu gefundene, zögerliche Entzücken wurde fast auf der Stelle durch eine Finsternis erstickt, mit der zu leben er über die Jahre hinweg gelernt hatte. Die kauernde Gestalt, die sich auf dem Weg in ein neues Leben an sein Herz geklammert hatte, hob ihren hässlichen Kopf und tat zischend ihr Misstrauen kund. Mehr als zwanzig Jahre, damit zugebracht, sich seinen Weg durch ein Minenfeld voll verborgener Fallgruben und tödlicher Gefahren zu suchen, hatten ihn gelehrt, den Argwohn als grundlegende Tugend zu nähren, und jetzt fand er es unmöglich zu glauben, dass diese ungewöhnliche Frau tatsächlich begehren sollte, was er ihr anzubieten hatte. Er machte sich über seine äußere Erscheinung keinerlei Illusionen, und er kannte die Narben und Verformungen seiner früheren Seele nur zu gut, um sich seiner neuen völlig sicher zu sein.

„Stephen?”

Er schaute ihr in die Augen, und bevor er auch nur den Versuch machen konnte, sich unter Kontrolle zu bringen, hatte er ganz ohne Worte den Zauber angewandt, der den Geist jenseits dieses klaren Blickes aufschloss. Er begegnete nicht einmal dem geringsten Widerstand.

-- er sah Dunkelheit... Dunkelheit und einen Jungen, der zu Ruta auflächelte. Teddy. Und dann war da ein Gesicht, das ihm nur allzu vertraut war, jubelnde Bosheit und eine ungezähmte Gier danach zu vernichten, zu zerreißen, zu töten... Fenrir Greyback, der die grausame Vorfreude darauf genoss, sich an seiner lang erwarteten Rache zu weiden.

Teddy. Bitte, nicht Teddy.

Überwältigende Panik, ersetzt von der Angst um den Jungen, und nur um den Jungen. Qualvolle Schmerzen, ein krachender Sturz und wieder Dunkelheit. Er ließ die verstörenden Bilder hinter sich, erforschte Schicht um Schicht von Gedanken und Erinnerungen, und die ganze Zeit über suchte er nach dem Mann, den er zu sehen erwartete – aber zu seiner großen Überraschung fand er ihn nicht.

Statt dessen fand er sein eigenes Gesicht. Er entdeckte sich selbst, wie er ein kleines Stück entfernt dastand, sie mit unbehaglichem Interesse beäugte und dann näher trat, um zögernd den ersten Kontakt herzustellen. Das musste der Tag gewesen sein, als sie mit ihm über die mysteriöse Verwandlung in seinem Garten sprach. Einmal mehr sein eigenes Gesicht, als er sich über die Gartenmauer lehnte, die Augen überraschend nahe, und seine Stimme, die mit ihr sprach:

Schämen Sie sich für ihn?“

Ah, da war es – ein kurzer Blick auf Remus Lupin, jünger, viel jünger, ohne die müden Linien, die sich in sein Gesicht gegraben hatten; er lächelte und sagte etwas, das er nicht verstand. Aber dann verlosch das kleine, lebhafte Bild wie eine Kerze, und er sah wieder und wieder sein eigenes Gesicht... von der Sonne erhellt und von einem gelegentlichen Lächeln, erleuchtet von Feuerschein, während er neben dem Tisch in seinem Wohnzimmer saß und seine Geschichte der Frau offenbarte, die nun so viel von ihm wusste und immer noch mehr herausfinden wollte... sein vertrautes Mienenspiel, durch ihre Augen gesehen. Und all diese Erinnerungen strahlten eine Wärme aus, die in seinen Körper hinein sickerte und ihn bis zum Überfließen ausfüllte... zaudernde Zuneigung, die in ehrliche Freundschaft hinein wuchs, und dann – ganz langsam – wieder eine Veränderung, diesmal zu etwas Tieferem, etwas viel Tieferem, etwas, das...

Mit einem heftigen Ruck riss er sich aus ihrem Geist und fand sich selbst gegen ihren Körper gelehnt, seine Stirn an ihrer nackten Haut; er war bis ins Mark erschüttert.

„Verzeih mir.“

Seine eigene Stimme, obwohl er sie kaum wiedererkannte. Einen langen, quälenden Moment lag Ruta völlig still, und er konnte sich selbst nicht dazu bringen, aufzuschauen und seine eigene Verdammnis in ihrem Gesicht zu lesen.

Und dann fühlte er mit einem Mal ihre Hände... beide Hände, die sanft seinen Kopf von ihrer Schulter hoben.

Da war nicht die geringste Verurteilung in ihren Augen, nur ein Hauch von Traurigkeit.

„Du hättest darum bitten können,“ sagte sie.

„Um was denn?“ fragte er in scharfem, verzweifelten Ton. Er merkte, wie der allzu vertraute Selbsthass sich über ihm auftürmte und brach wie eine schwarze Woge. „Um die Erlaubnis, deinen Geist zu betreten und deine tiefsten Geheimnisse zu entdecken?“

Zu seiner Verblüffung lachte sie... ein leises, gedämpftes Glucksen.

„Nein, du aufreibender, argwöhnischer Mann,“ sagte Ruta, und jetzt war sie es, die seine Lippen suchte. Es war ein rascher, flüchtiger Kuss, und dann wanderte ihr Mund über seine Wange und sie flüsterte in sein Ohr. „Um die Wahrheit. Was hast du denn zu sehen erwartet? Dass ich mich noch immer nach dem Schatten von jemanden verzehre, der mir nie wirklich gehört hat? Der Mann, nach dem du meinen Geist durchsucht hast, ist mit der Vergangenheit gestorben. Ich will dich, Severus... Stephen... wer immer du zukünftig auch sein willst. Ich will dich... oder du wärst überhaupt nicht hier.“

Ruta lachte wieder, ein warmes, erdiges Geräusch, und trotz seines tiefen Unbehagens spürte er, wie sein Körper auf unmissverständliche Weise reagierte. Was immer er auch sagen wollte, jede zukünftige Entschuldigung, jeder ehrliche Ausdruck von Dankbarkeit floh aus seinem Geist, als er ihre Lippen erneut auf seinem Mund spürte, eine süße, beglückende Einladung zu lernen, zu entdecken, zu fühlen. Mit einem Schauder schierer Erleichterung überließ er sich dem lange unterdrückten, lange verbotenen Wunsch, den Körper zu erkunden, der sich ihm darbot.

Er küsste ihre Schläfe, ihren Kiefernbogen und die Stelle, wo der lange, schlanke Hals in die Schulter überging. Er streichelte über das Schlüsselbein und hört sie entzückt aufseufzen, als sie sich von der Decke befreite und ihm den Zugang zu kleinen, runden Brüsten mit rosigen Spitzen erlaubte; sie füllten ihm die Hände und schickten einen elektrisierenden Schock durch sein gesamtes Fleisch. Er versuchte sich zu entsinnen, wann er das hier zuvor schon einmal getan hatte, und er verlor die Spur entlang der Kette von viel zu vielen, leeren Jahren ohne eine Berührung oder eine Wärme wie diese, ohne die flüchtige Brise seines Atems auf der Haut einer Frau und dem Kitzel seines Mundes, der blind nach einer festen Knospe suchte. Ein leises Stöhnen kam von irgendwo her über ihm, und dann strichen ihm ihre Hände durch das Haar, während die Bettdecke endlich zu Boden rutschte.

Seine Linke folgte der sanften Rundung ihrer Hüften in andächtigem Staunen, während die Rechte ihren Weg über ihren flachen Bauch fand und fühlte, wie die langen Schenkel sich unter seinen forschenden Fingern öffneten. Ihr Körper hob sich ihm entgegen, und er zog die Hand zurück; er wusste, er würde sich nicht zurückhalten können, wenn er die Dinge jetzt überstürzte. Mit aller Macht rang er darum, das Zittern seiner Finger zu unterdrücken.

Er sah auf und schwelgte in ihrem Anblick: das erhitzte Gesicht, die Lippen halb geöffnet, die Augen von der Glut eines geheimen Feuers erfüllt, das auf seiner Haut buchstäblich Funken schlug... das lange Haar eine zerzauste Masse über Schultern und Rücken. Er registrierte die silbrigen Strähnen, die das warme Haselnussbraun durchzogen, er sah die feinen Linien rings um ihre Augen, die Spuren der Erschöpfung und der verlorenen Jugend, die sich von ihrer Nase zu den Mundwinkeln hinab zogen, und das schmerzhafte Narbenmuster auf Schulter und Arm. Sie war wunderschön.

Ruta setzte sich auf und streckte die Hände nach ihm aus.

„Ich... ich will dich sehen.“ Sie fand den obersten Knopf seines Hemdes und versuchte mühsam, ihn mit der linken Hand zu öffnen, dann gab sie ein zittriges Kichern von sich und biss sich auf die Lippen. „Meine Güte, schau mich bloß an... das ist der schlechteste Moment, mich unbeholfen anzustellen, nicht?“

„Lass mich das tun.“

Ihre Unsicherheit war gleichzeitig köstlich und ermutigend. Er stand rasch vom Bett auf, entledigte sich seiner Kleider und ließ sie ohne viel Federlesens auf den Boden fallen. Da war keine Zeit mehr, nervös oder verlegen zu sein; er kam zu ihr zurück und betrachtete ihr Gesicht, während sie ihn ansah, die Augen strahlend vor Staunen und Freude. Er holte tief und schaudernd Atem.

„Du weißt, ich muss das fragen,“ flüsterte er, „und ich werde es nur einmal tun. Bist du dir... sicher?“

„Ich bin mir sicher, Stephen,“ erwiderte sie; ihre Hand berührte seine Wange und ihr Daumen liebkoste seinen Mund. „Sicher genug, um zu betteln, wenn ich muss. Bitte...“

Er setzte sich vor sie hin, die Beine ausgestreckt, und zog sie an sich. Erneut umfasste er ihre Brüste, überwältigt von erregenden Kurven und seidiger Haut, während er ihre Lippen mit einem langen, hungrigen Kuss in Besitz nahm. Sie bog sich rückwärts; ihre Hände wanderten über seine Schultern, über die Flächen von Schulter und Bauch und er saß still und wagte kaum, sich zu rühren, während er gleichzeitig darum rang, sich unter Kontrolle zu halten. Es würde so leicht sein, das schnelle, raue Tempo zu diktieren, nach dem sein ausgehungerter Körper schrie. Aber er wollte, dass sie dies hier von ganzem Herzen genoss. Im Stillen segnete er das Schicksal, dass seine Erfahrung mit der körperlichen Liebe ausreichte, um ihr das Vergnügen zu schenken, das sie verdiente... auch wenn seine gesamte Willenskraft nötig war, das Wissen zu verdrängen, wie er diese besondere Erfahrung erworben hatte. Er sah ein, dass es auch andere Frauen gab, und von reinerem Blut, die seiner würdiger waren... Voldemorts eigene Worte über seine zweifelhafte Befähigung, zu lieben und zu begehren, Harry Potter direkt ins Gesicht gebrüllt und gnadenlos in einem von Rita Kimmkorns verfluchten Artikeln wiederholt.

Nein. Er würde es seiner verdorbenen Vergangenheit nicht gestatten,das zu vernichten, was das Schicksal ihm jetzt zuteil werden ließ. Voldemort war geschlagen, nichts weiter als ein bleicher Schatten. Andere Liebhaberinnen, ihm aufgezwungen und schmerzhaft ungewollt, waren in dieser Vergangenheit verloren, nicht mehr als gesichtslose Leiber. Selbst Lily war fort... und Lily war es gewesen, die ihm gesagt hatte, dass er eine zweite Chance verdiente, in der freudigen Helligkeit des traumartigen Ortes zwischen dieser Welt und der nächsten. Eine zweite Chance, ganz von vorn anzufangen, eine neue Chance, zu vertrauen und Zuneigung zu empfinden. Sich dieser erstaunlichen Frau zuzuwenden, die sich als ein überaus mächtiger und heilender Bezoar erwiesen hatte gegen das, was ihn die längste Zeit seines Lebens gequält und vergiftet hatte.

Allerdings nur, wenn es ihm gelang, die Bilder loszulassen, die er noch immer in seiner Seele hütete.

Lily in Hogsmeade, ihre Augen, die unter einer pelzgefütterten Kapuze zu ihm auflachten. Ihr Gesicht, dass in den Dampfwolken aus einem Kessel schwamm, rein und so unfassbar schön wie ein kostbares Medaillon. Nicht all seine Schätze hatte er an jedem Tag in der Heulenden Hütte ihrem Sohn überantwortet. Manche waren mit ihm in die neue, unvertraute Haut von Stephen Seeker gewandert – und jetzt begriff er mit einem plötzlichen Aufblitzen der Erkenntnis, das der Moment gekommen war, sie aufzugeben. Kein silberner Nebel, der Bewegung eines Zauberstabes hinunter auf die Wasseroberfläche eines Flusses gehorchend, wie in dem Märchen – eher schon eine Tür, endgültig verschlossen vor lang vergangenem Schmerz, während er sein Gesicht der Zukunft zuwandte.

Indem er das, was gewesen war, hinter sich ließ, konnte er sich endlich auf die Gegenwart konzentrieren, auf die atemberaubende Wirklichkeit in seinen Händen. Sanft hob er Ruta auf seinen Schoß; er wusste, dass sie die Härte seines Verlangens an ihrem Schenkel spüren konnte, und er atmete flach und zischend aus, als sie ihn berührte. Sie erforschte ihn ohne jede Scheu, ließ ihre Finger an der gesamten Länge auf und nieder gleiten und brachte ihre Hüften vorsichtig in die richtige Position; der heile Arm schlang sich um seinen Nacken.

Sie ließ sich auf ihn hinunter sinken, und von einem Moment zum nächsten war er von schlüpfriger Hitze umschlossen. Sein Kopf fiel nach hinten und er rang in unerwarteter Panik nach Luft. Es war zu viel, zu intensiv, zu schnell... und dann verweigerte ihm sein entwöhnter Körper den Gehorsam. Er stieß hinauf in ihr nachgiebiges Fleisch und brach die Anspannung mit einem unwiderstehlichen, heftigen Höhepunkt.

Stephen Seeker war absolut sprachlos; er hielt Ruta fest an sich gedrückt, die Stirn an die tröstliche Sanftheit ihrer Haut gelehnt, Atem und Herzschlag abgerissen durch seine unzeitige Erlösung. In seinem Geist wirbelte es von Verlegenheit und stillem Zorn. Das war katastrophal. Er hatte ihr nichts weniger als die vollkommene Erfahrung körperlichen Vergnügens schenken wollen, und dann... das.

„Es tut mir Leid,“ murmelte er, als er endlich seine Stimme wiederfand. „Ich muss gestehen, dass ich mir so lächerlich vorkomme wie irgend ein Schwachkopf aus dem sechsten Jahr nach seiner ersten, total misslungenen Fummelei in den Büschen.“

Zu seiner Verblüffung fing Ruta an zu kichern.

„Bevor du diesen tapsigen Casanova bei seinem Hauslehrer angezeigt hast oder hinterher?“ fragte sie, ihren Mund in seinem Haar.

„Vorher, nehme ich an,“ sagte er. Seine Lippen entspannten sich in einem zögernden Lächeln und er fühlte sich mehr als nur ein wenig albern. „Nach meiner Meldung – und meinem ausführlichen Vortrag – wäre er völlig am Boden zerstört gewesen.“

Ihr Kichern verwandelte sich in ausgewachsenes Gelächter... und der Effekt auf seinen verräterischen Körper war so verblüffend wie hoffnungsvoll.

Hör nicht... hör nicht auf zu lachen,“ murmelte er atemlos gegen ihre Brust. „Es wirkt Wunder auf meine... äh... Verfassung.“

Oh. Wirklich?“ Sie lachte wieder, gleichzeitig überrascht und entzückt. Er straffte den Rücken; seine Arme stützten den Körper, der seine neuerlich wachsende Härte umschloss, und er wurde mit einem funkelnden Blick aus ihren Augen belohnt.

„Es ist wie Fahrradfahren, weißt du,“ informierte sie ihn ernsthaft und verdarb den Eindruck mit einem Seufzen, als sie sich leicht über ihm erhob und wieder hinab sank, „Du verlernst es... ahhhh... du verlernst es nie.“ Ein weiterer, tiefer Seufzer, während sein Körper ihr mit einer fließenden Bewegung Antwort gab. Seine Hände strichen ihr Rückgrat hinunter und ruhten auf der Rundung ihrer Hinterbacken.

„Ich bin in meinem ganzen Leben noch nie auf ein Fahrrad gestiegen,“ protestierte er, bevor seine Lippen eine Knospe fand, die sich rasch verhärtete. Jetzt war sie damit an der Reihe, nach Luft zu schnappen, und seine Hände schlossen sich mit festem Griff um ihre Taille.

„Beweg dich für mich,“ flüsterte er, und die Stimme fing sich in seiner Kehle. „Ich halte dich, ich verspreche es dir.“

Er konnte die Augen nicht von ihr abwenden, während sie langsam ihren Rhythmus fand, die Augen fest geschlossen, die Stirn konzentriert gerunzelt. Für eine lange Weile war das einzige Geräusch in dem stillen Raum ihr gemeinsamer, schwerer Atem und das leise Knarren des Bettrahmens. Jetzt bewegte sie sich rascher, und er konnte fühlen, wie sich seine Hüften unwillkürlich anhoben, als seine Muskeln sich unter den brennenden Vorboten eines zweiten Höhepunktes in fiebriger Vorfreude anspannten.

Ihre Finger bohrten sich in seine bloße Schulter; plötzlich stieß sie einen scharfen Schrei aus. Ihr gesamter Körper wurde starr, während er am Rande des Gipfels balancierte. Er stöhnte laut auf, für den Augenblick blind und taub gegen alles außer der ungehemmten Leidenschaft, die von ihr ausstrahlte, und sein eigenes, brennendes Verlangen. Dann rief Ruta seinen Namen, mit einer gebrochenen, atemlosen Stimme, und ihr Gesicht sank gegen seinen Hals. Es gab keine Notwendigkeit mehr, sich noch länger zurückzuhalten, und er wäre ohnehin nicht imstande gewesen, den wahnwitzigen Drang noch länger im Zaum zu halten. Einmal... zweimal... ein drittes Mal, jetzt unbeherrscht und heftig... und dann spürte er, wie er sich tief in ihr erneut verströmte. Gleichzeitig hob sie den Kopf und verschloss seinen Mund mit einem hungrigen Kuss, und für ein paar Sekunden versank die Welt in einer glückseligen, samtschwarzen Dunkelheit.

Er kam wieder zu sich, als er in einer knochenlosen Umarmung mit ihr auf dem Bett lag, die Glieder verschlungen; ihr Haar ergoss sich über seine Brust wie ein weicher, warmer Vorhang. Er konnte seinen Herzschlag langsam zu einem gleichmäßigen Rhythmus zurückkehren hören, während der Nachklang ihres Liebesspieles noch immer in jeder Fiber seines Körpers vibrierte. Er wollte sprechen, dem betäubten, ungläubigen Staunen, von dem ihm das Herz überfloss, Worte geben, aber dann wandte er statt dessen den Kopf, küsste sie auf die Schläfe und sagte das erste, was ihm in den Sinn kam:

„Tut dein Arm weh?“

„Nein,“ murmelte sie, ihr Lächeln süß und fröhlich an seiner nackten Haut. „Ich habe vergessen, wie sich Schmerz anfühlt.“

„Dann solltest du diese besondere Methode den Heilern von St. Mungo weiter empfehlen,“ bemerkte er sanft. „Sie werden sie zweifellos ziemlich... faszinierend finden.“

Ein langer Augenblick des Schweigens. Dann wieder ihre Stimme, schläfrig, aber immer noch voller Neugier. „Hast du tatsächlich jeden einzelnen Studenten gemeldet, über den du gestolpert bist, während er in den Büschen mit einer Mitstudentin zugange war?“

Stephen grinste. „Tatsächlich habe ich es nie getan. Ausgerechnet von mir in flagranti erwischt zu werden, war doch Strafe und Demütigung genug, oder nicht?“

„Wie überaus wahr.“ Ihre Augenlider schlossen sich flatternd, und nur einen Moment später war sie eingeschlafen. Er hielt sie in den Armen und sah zu, wie die Sonne draußen in flammendem Pink und Gold aufging. Die Helligkeit des neuen Tages brannte wie ein wärmendes Feuer in seiner Seele.

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Anmerkung der Autorin:

Eine Minuskel ist eine Schrift, wie sie in keltischen Bibeln und Evangeliaren verwendet wurde. Sie wird auch heute noch gern benutzt, wenn etwas möglichst „irisch“ aussehen soll.


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