Wolfsmond
von Cúthalion


Prolog:
Ein unerwarteter Besuch

Draußen vor dem Cottage scheint die Sonne mit der ganzen Wärme und dem Glanz eines hellen Augustmorgens. Dünne Strahlen dringen durch die geschlossenen Fensterläden des Wohnzimmers wie Speere und malen ein gleichmäßiges, goldenes Muster auf den glänzenden Holzfußboden.

Das ist ein ziemlich merkwürdiger Aufenthaltsort für jemanden wie ihn, denkt der Mann, dieses ländliche, lächerlich malerische Haus im Lake District. Von seinem Aussichtpunkt in der Küche kann er Kinder auf Rädern sehen, die im Zickzack die schmale Straße entlang radeln. Diese Straße zieht sich am Rand des verschlafenen Dorfes entlang, bevor sie über eine Kopfsteinbrücke zur alten Mühle führt, die er ein Stück in der Entfernung sehen kann. Nach links verläuft sie in eine breite Wiese hinein und einen Hügel hinauf, verwandelt sich in einen lehmigen Trampelpfad und verschwindet endlich hinter einem Eichenwäldchen. Hinter einer der grauen Gartenmauern aus Bruchsteinen hängt eine Frau Wäsche auf eine Leine.

„Möchte der Herr jetzt sein Frühstück?”

„In einer halben Stunde. Dankeschön.“

Er antwortet, ohne sich umzuwenden, sein Ton abwesend, aber freundlich. Es hat Zeiten gegeben, da hat allein der Klang seiner Stimme ausgereicht, um die Knie hartgesottener Vertrauensschüler in Pudding zu verwandeln… aber diese Zeiten sind jetzt vorbei. Er gestattet sich einen leicht verblüfften Blick auf den Mann, der er einst war, und er stellt fest, dass er lächelt… ein fast unmerkliches Lächeln, aber trotzdem ein Lächeln. Dieser Mann liegt gemeinsam mit posthum verliehenem Ruhm begraben, und mit Erinnerungen, die man besser unberührt lässt – und trotzdem staunt er über die Tatsache, dass er überhaupt hier steht und zurückschauen kann. Er erinnert sich, dass er darüber nachgedacht hat, das Land auf Dauer zu verlassen, gleich nachdem … aber nicht jetzt. Noch nicht.

Die Hälfte der Bücher sind immer noch nicht ausgepackt, die Regale fast leer,… und wenn er seine Vorräte nicht aufstockt, geht ihm vielleicht die einfache Möglichkeit verloren, auszuüben, was für ihn so natürlich gewesen ist wie das Atmen. Nicht, dass es im Augenblick eine Rolle spielt. Dies ist ein Ort so gut wie jeder andere, um sich zu erschaffen, was eines Tages sein neues Leben sein könnte. Und noch einmal - nicht jetzt. Manchmal hat er das Gefühl, er sei nach wie vor an jenem hellen Ort und würde den Booten zuschauen, die in der Entfernung verschwinden, vertraute Gesichter an Bord – und die ihn mit einer Möglichkeit der Wahl zurücklassen, unerwartet, unverdient.

„Tante Ruta, warte! Warte!“

Die schrille Stimme eines Jungen, sieben oder acht Jahre alt, draußen vor dem Gartentor. Sein Haar ist von einem leuchtenden Haselnussbraun; er trägt ein kurzärmeliges, weißes Hemd und über den Knien abgeschnittene Hosen. Der Mann stellt fest, dass er instinktiv in den Schatten zurückgewichen ist; lange Jahre erzwungener Geheimhaltung lassen seinen Körper noch immer reagieren, als hätte dieser Tag im Frühling 1998 nie stattgefunden. Alte Gewohnheiten lassen sich scheinbar nicht so leicht ablegen, selbst hier, wo wahrscheinlich niemand sein Gesicht erkennen wird.

„Tante Ruta!“

Jetzt sieht er die Frau; hoch gewachsen und schlank, das Haar von derselben Farbe wie das des Jungen. Sie trägt einen Rock und eine Bluse aus dünner Baumwolle, die Ärmel aufgekrempelt, und ein Weidenkorb hängt von ihrem rechten Arm herunter. Wahrscheinlich ein Muggel. Die Tatsache, dass St. Mary Green hauptsächlich von Muggeln bewohnt ist, war einer der wichtigsten Gründe für seine Entscheidung, dieses Cottage zu mieten.

„Teddy, komm her!“

Der Junge lacht und steckt ihr die Zunge heraus, und im nächsten Moment schwingt das Gartentor weit auf und er rennt den Kiesweg entlang, auf der Stelle gefolgt von der Frau.

„Teddy, um Himmels Willen, raus hier, und zwar sofort! Du kannst dich doch nicht im Garten eines Fremden herumtreiben!“

„Klar kann ich!“ Der Junge verlangt seine Schritte mit voller Absicht zu einem aufreizenden Schlendern. „In dem Cottage lebt doch sowieso keiner… alle Läden sind zu und die Beete sind voller Unkraut, siehst du?“

Offensichtlich sein erster Fehler. Er hätte Winky erlauben sollen, im Garten vorsichtig ein wenig zu zaubern.

„Mrs. Ogilvie hat mir gesagt, dass sie einen neuen Mieter hat. Und du wirst ihn in Frieden lassen, du kleiner Schurke. Raus hier, sage ich.“

Der Junge dreht sich zu ihr um, sein sommersprossiges Gesicht zu einem riesigen Grinsen verzogen.

„Ich will wissen, wie sich die Türklingel anhört,“ sagt er. Jetzt ist er ganz dicht herangekommen, er steht fast auf der Schwelle. Seine Tante ist gleich hinter ihm, und der Mann kann die Verlegenheit und Bestürzung in ihren Augen sehen, als sie die Hand ausstreckt, um den Jungen an der Schulter zu packen und ihn zurückzuziehen. Zu spät – ein lautes, melodisches Läuten bereitet der Stille im Inneren des Cottage ein Ende. Der Mann wirbelt herum, gerade noch rechtzeitig, um die kleine, in ein Handtuch gehüllte Gestalt zurück in die Küche zu scheuchen. Unbewusst strafft er den Rücken und holt tief Atem. Es ist sowieso Zeit, sich in der Außenwelt zu zeigen… und die Begegnung mit einer harmlosen Muggelfrau und ihrem dreisten Lümmel von einem Neffen sollte wohl kaum ein Risiko darstellen.

Er öffnet die Tür.

Das Kind erstarrt, die Augen so groß wie Untertassen. Der Mann blinzelt in das plötzliche, helle Tageslicht. Er räuspert sich.

„Ja?“

Wie erwartet ist es die Tante, die als erstes ihre Fassung wiedergewinnt. Sie hebt das Kinn und zeigt ein freundliches Lächeln.

„Ich bitte um Verzeihung, Sir… aber mein Neffe hat sich ein kleines bisschen hinreißen lassen. Ich bin sicher, er wird sich jeden Augenblick dafür entschuldigen, dass er Ihren Frieden gestört hat.“ Ein scharfer Blick auf den Jungen, und plötzlich schwingt in der warmen Altstimme ein Hauch von Stahl mit. „Also?“

„Tut mir Leid.” Er scharrt mit den Füßen, beißt sich auf die Lippen und starrt hinunter auf seine Sandalen.

„Tut mir Leid, Sir.“

„Tut mir Leid, Sir.“ Er wagt es aufzuschauen, und ein Grübchen erscheint in seinem Mundwinkel, als er den dunklen Augen des Mannes begegnet.

„Ich werde es nicht wieder tun.“

„Ich werde es nicht wieder tun… Sir.“ Das Grübchen vertieft sich, und der Mann verspürt den plötzlichen, unerwarteten Drang zu grinsen. Dreister Lümmel, in der Tat.

„Und wir sollten jetzt wirklich zu Gran Dromeda nach Hause gehen, Teddy. Es war sehr nett, Sie kennen zu lernen, Mr. …“

„Seeker… Stephen Seeker.“ Es ist der Name, den er verwendet hat, um den Mietvertrag zu unterschreiben, und er fühlt sich noch immer fremd an auf seiner Zunge. „Schon in Ordnung.“

„Oh – aber scheinbar hat nicht bloß mein Neffe seine Manieren vergessen.“ Die Frau hält ihm die Hand hin. „Willkommen in St. Mary Green, Mr. Seeker. Mein Name ist Ruta Lupin, und das hier ist mein Neffe, Teddy Lupin.”

Für eine Sekunde oder zwei gibt der Mann keine Antwort; ihre Augenbrauen heben sich in höflicher Überraschung und er zwingt sich, etwas zu sagen.

„Es ist mir ein Vergnügen.“ Er hört seine eigene Stimme, leise und raspelnd, so wie sie sich in ihren Ohren anhören muss, und er nickt kurz und steif. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen…“

Es ist wahrscheinlich ziemlich rüde, ihr die Tür vor der Nase zuzumachen, aber in diesem Moment kümmert er sich nicht darum. Er steht hinter dem dicken Holz und lauscht auf die Schritte seiner beiden Besucher, die sich rasch entfernen. Da ist auch die Stimme von Ruta Lupin, die ihrem Neffen offensichtlich gerade eine leise, aber gründliche Lektion über angemessenes Benehmen erteilt.

Seine Hände sind zu Fäusten geballt, und als er sie langsam wieder öffnet und methodisch die Finger beugt und streckt, registriert er den Schweiß auf seiner Stirn und im Nacken, der ihm langsam in den Kragen rieselt.

Remus’ Sohn – natürlich. Er sollte nicht überrascht sein. Harry Potter lebt kaum drei Meilen von hier entfernt, und er würde sich sicher ein Haus in der Nähe des Jungen suchen; er würde sich bemühen, ein besserer Pate zu werden, als Sirius Black je die Chance hatte zu sein.

Er schluckt schwer.

Auf das hier ist er nicht vorbereitet – was hat er sich dabei gedacht? Das ist schierer Irrsinn.

„Herr?“ Winkys Stimme, quäkend und ein klein wenig ängstlich. „Geht es dem Herrn gut? Soll Winky jetzt sein Frühstück servieren?”

Plötzlich fühlt er sich sehr müde.

„Nein, Winky. Danke, aber – nein. Ich habe anscheinend meinen Appetit verloren.”

Das ist Irrsinn.


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