Atempause (Sojourn)
von Illyria-Pffyffin, übersetzt von Cúthalion

Beutelsend, 28. März 1421

Ein Bett, klein, jedoch sauber mit cremefarbenem Leinen bezogen und bedeckt von einem Überwurf in tiefen Rostrot. Eine Kommode mit Schubfächern und einem holzgerahmten, rechteckigen Spiegel; ein Waschtisch, eine kräftige Truhe am Fuß des Bettes. Eine kleine Feuerstelle mit einem Kerzenleuchter und einer Zunderbüchse auf dem Kaminsims. Ein Armsessel und ein kleiner Tisch neben dem Kamin. Ein Fenster, das auf den in Terrassen angelegten Garten auf der Westseite hinausblickte, mit blassgelben, mit einem schmalen, weißen Band eingefassten Gardinen. Die Mauern waren nackt. Neben der Tür befand sich eine Reihe polierter, hölzerner Kleiderhaken; sie waren leer. Es war ein Raum, für Freunde reserviert, für einen Gast, der über Nacht blieb: sauber, doch unpersönlich, eine Zuflucht, aber kein Zuhause.

„Ich hoffe, das Zimmer ist so recht für dich,“ sagte Sam, der Lily erwartungsvoll anschaute.

Lily Stolzfuß sah sich in dem kleinen Raum um, einer von vielen im Westtunnel von Beutelsend. Er sah so freudlos und kalt aus, trotz des reichen, bernsteinfarbenen Lichtes der untergehenden Sonne, das durch das offene Fenster hereinströmte. Sie drückte ihr Umschlagtuch gegen die Brust. Ich wünschte, meine Brüder wären hier bei mir, dachte sie wehmütig, ihre Spielsachen und Schiefertafeln auf dem Fußboden und mein Stickkorb neben dem Herd, mit einem Wasserfall vielfarbiger Fäden, der sich daraus ergießt und im Feuerschein leuchtet. Ich vermisse sogar Mama, dachte sie überrascht. „Das Zimmer ist in Ordnung, Sam,“ sagte sie. „Dankeschön.“

„Ich leg einen Teppich neben das Bett,“ Sam blickte sich nachdenklich um. „Brauchst du einen Schrank? Ich kann den aus dem nächsten Zimmer hier hereinbringen.“

Lily lachte und zeigte auf ihre Taschen. „Ich glaube nicht, dass ich genug Kleider habe, um diese Schubladen zu füllen, geschweige denn einen Schrank. Nebenbei, wie willst du denn hier einen Schrank hineinquetschen? Es ist sowieso schon wenig genug Platz.“

Sam nickte abwesend. „Es ist ein kleines Zimmer,“ murmelte er. Er ließ seinen Blick noch einmal schweifen, dann drehte er sich um, damit er Lily ansehen konnte. „Du wirst deine Meinung nicht ändern, oder?“

Lily erwiderte seinen unsicheren Blick und nickte. „Ich bleibe, Sam. Und ich danke dir für die Einladung, und für dieses hübsche Zimmer.“

„Es ist Herr Frodo, der dieses Zimmer vorgeschlagen hat,“ sagte Sam sorgfältig, „als ich ihm gesagt hab, dass ich dich fragen werde, ob du hier bleibst, um dich um Rosie und Klein Ellie zu kümmern.“

Lilys Augen weiteten sich. „Aber du hast gesagt, das wäre dein Quartier, deines und das von Rosie,“ begann sie langsam. „Ich dachte, du könntest auch ohne Frodos Erlaubnis jemanden fragen, ob er hier wohnen will.“ Ein Schatten der Unruhe flatterte in ihren Augen, während sie Sam anklagend anstarrte.

„Ja, das kann ich, Lily, aber Herr Frodo ist immer noch der Herr von Beutelsend, und nebenbei...“ Sam hielt inne, dann deutete er auf den Armsessel. „Setz dich, Mädel. Da ist was, das ich dir sagen muss.“

Lily setzte sich statt dessen auf die Truhe. Sie war kalt und hart und ohne Lehne. Wenn sie steif und aufrecht saß, dann würde Sam vielleicht nicht herausfinden, wie dicht sie daran war, in närrische Tränen der Wut auszubrechen über die Tatsache, dass Frodo tatsächlich von Sams Plan wusste und sogar in den Vorkehrungen für ihre Bequemlichkeit eine Rolle spielte. Sie wusste, sie hätte es besser wissen sollen, als zu denken, dass Frodo nicht mitbekam, wie sie in sein Heim einzog, selbst wenn es sich nur um einen ungenutzten Raum in der Nahe der Dienerzimmer handelte. Aber sie hatte starrsinnig gehofft, dass sie seiner Aufmerksamkeit entgehen könnte, dass sie ihre getrennten Leben würden fortsetzen können, ihr vorgespiegeltes Vergessen jener Liebe, die er vor zwei Jahren kurz und bündig und ganz unerklärlicherweise beendet hatte. Was will er? fragte sie sich wild. Erwartet er von mir, dass ich anfange, auf das zu hoffen, was ich aufgegeben habe, dass ich ihm vergebe, dass er mich ohne jede Erklärung verlassen hat? Will er mir meine eigene Dummheit um die Ohren hauen, meine völlige Naivität , dass ich mich im Frühling vor zwei Jahren in seine geschwindeltes Spiel habe hineinlocken lassen? Oh nein, nein, nein... es sieht Frodo nicht ähnlich, so etwas zu tun.--- Oh, aber woher weißt du das, Lily Stolzfuß? Du bist bloß eine Dirne, die er sich für ein bisschen Herumgewälze ins Bett geholt hat. Was weißt du wirklich über Frodo Beutlin?

„Weißt du, Lily, Rosie und ich, wir machen uns Sorgen um dich,“ begann Sam. „Dein Smial ist kaum in dem Zustand, dass man darin leben kann. Als deine Mama deine Brüder nach Bockland mitgenommen hat, da dachte ich, du würdest mit ihr gehen und diese verrottete Höhle endlich hinter dir lassen. Tut mir Leid, Lily, aber das ist die Wahrheit.“

„Schon gut, Sam,“ murmelte Lily bitter. „Wir haben uns seit Papas Unfall nie um irgendwelche Reparaturen gekümmert. Es war sowieso nie Geld dafür da. Es ist ein elendes Loch. Du solltest das Fachwerk im Keller sehen!“

„Das hab ich, Lily,“ sagte Sam sanft. „Rosie und ich sind nach Jul zu dir gekommen und haben dich gefunden, rasend vor Fieber, allein in diesem dunklen, kalten Smial... erinnerst du dich? Wir wollten, dass du nachschaust, ob es dem Baby gut geht, statt dessen hat es damit geendet, dass wir uns um dich gekümmert haben. Wieso du während der Jultage zu Hause bleiben wolltest, anstatt deine Mama zu besuchen, weiß ich sowieso nicht.“

„Nina Spachtlers Baby war um diese Zeit fällig,“ versuchte Lily ihm begreiflich zu machen. „Ich konnte sie nicht im Stich lassen. Sie hat sechs Jahre auf dieses Kind gewartet.“ Sie studierte ihre Finger, die eng verschränkt und still in ihrem Schoß lagen. „Tut mir Leid, Sam,“ fuhr sie endlich fort und hob die Augen, um Sam anzulächeln. „Und ich kann dir und Rosie nicht genug danken, dass ihr damals gekommen seid, um mir zu helfen.“

Sam lächelte zurück, froh darüber zu sehen, dass das Misstrauen in Lilys Augen verging. „Nein, Mädel. Ich bin der, der dir danken sollte. Rosie würde niemand anderen haben wollen, der ihr hilft, das Baby auf die Welt zu bringen.“ Sein müdes Gesicht wurde ernst, und seine Hand bebte ein wenig, während er sich nervös durch das Haar fuhr. „Ich mach mir wirklich Sorgen um sie, Lily, sie und unsere Klein-Ellie. Ich habe Hobbitfrauen gesehen, die nach der Geburt krank wurden, und wenn sie...“ Er würgte und schluckte. „... und ihre Babys...“

„Oh Sam,“ Lily stand auf und kam zu dem Sessel hinüber, den er mit Beschlag belegte. Sie nahm seine Hand und tätschelte sie sanft. „Mach dir keine Sorgen. Rosie wird es gut gehen. Ich werde dafür sorgen, dass es so ist.“

Sam drückte Lily’s Hand und versuchte zu lächeln; er brachte allerdings nur eine besorgte Grimasse zustande. „Danke, Lily,“ krächzte er. „ich kann mir nicht vorstellen, wie es wäre ohne sie...“

„Ganz ruhig, Sam,“ sagte Lily leise und legte Sam die Hand auf die Schulter. „Sie kommt wieder in Ordnung. Reg dich doch nicht so auf.“ Sie setzte ihren normalen, sachlichen Tonfall ein, als sie weitersprach. „Jetzt geh und dreh für mich einem Hühnchen den Hals um. Ich mache Suppe für Rosie, damit sie ein bisschen Stärke zurückgewinnt und das Fieber bekämpft, und damit die Milch wieder fließt. Ab mit dir; lass mich hier ein bisschen aufräumen, bevor ich zu arbeiten anfange.“

Sam erhob sich mit einem Seufzen und ging verdrießlich in Richtung Tür. Aber bevor Lily die Tür hinter ihm zumachen konnte, drehte er sich mit dem Schwung von jemandem um, der sich plötzlich an etwas erinnert. „Da ist noch ein Grund, Lily,“ sagte er; es klang irgendwie vorsichtig. „Es ist Herr Frodo.“

Der Schmerz fühlte sich an wie ein Schraubstock, der sich fest um Lilys Herz zusammenzog, und sie hatte darum zu kämpfen, ihre Gesichtszüge ruhig zu halten. Aber Sam entging nicht das unwillkürliche Zurückzucken in Lilys Augen, als er den Namen seines Herrn erwähnte, oder die Art, wie sie an ihrem Schultertuch zerrte, als müsste sie sich an etwas festhalten.

„Er ist... weißt du, es geht ihm nicht gut, nicht, seitdem wir zurück gekommen sind.“ fuhr Sam fort. „Rosie und ich tun alles, was wir können, um für ihn zu sorgen, aber das ist scheinbar nicht genug. Vor zwei Wochen war er krank. Er dachte, er würde es gut verstecken, aber ich hab’s gewusst, und Rosie auch. Rosie...“

Sam schwankte; er wurde ein wenig blasser und schluckte angestrengt. „Sie sagt, letztes Jahr um die gleiche Zeit wäre er auch krank gewesen, als er noch bei den Kattuns wohnte. Bloß, diesmal geht es ihm noch schlechter, hat sie gesagt.“

Die Kehle war ihr eng geworden, als Frodos Name erwähnt wurde, und Lily glaubte nicht, dass sie ihre Tränen noch lange würde zurückhalten können. Natürlich weiß ich, dass es ihm schlecht geht! Natürlich weiß ich, dass er Schmerzen hat! „Aber was kann ich denn tun, Sam? Ich war im letzten Oktober hier, und es hat nicht viel genutzt, oder? Was immer ihn auch quält, es liegt weit jenseits des Könnens einer einfachen Hebamme wie ich.“

Sams Augen waren ernst und in seiner Stimme schwang Hoffnung mit, als er sagte: „Er hat dich gern gehabt, Lily. Er hat dich geliebt, und ich glaube, das tut er immer noch. Vielleicht wird er sich glücklicher fühlen, wenn du in der Nähe bist, und dann denkt er nicht mehr zu viel darüber nach, weg zu gehen.“

„Weg zu gehen?“ Die Frage war ein dünnes Flüstern. Noch einmal?

„Zu Herrn Bilbo,“ erklärte Sam mit schwankender Stimme. „Um bei den Elben zu leben.“

Lily biss sich auf die Lippen und versprach sich selbst, ruhig zu bleiben.

„Du irrst dich, Sam,“ sagte sie langsam, „ich kann überhaupt nichts für ihn tun. Dass ich hier bin, wird ihm nicht helfen, es wird nichts ändern. Er... Du irrst dich. Er hat... er hat mich nie geliebt. Warum sollte es ihn glücklich machen, dass ich hier bin?“ Sie begriff, dass ihre Stimme bockig und stur klang, aber es machte ihr nicht wirklich etwas aus, denn sie konnte spüren, wie die alten Wunden in ihrem Herzen wieder aufrissen, und Zorn und Trauer quollen wie Blut aus den Verletzungen, die von all den Fragen kamen, von all dem Bedauern. Er hat mich nie geliebt. Die Worte von ihrer eigenen Stimme ausgesprochen zu hören, schien ihnen einen Nachhall schicksalhafter Endgültigkeit hinzuzufügen, und sie schauderte.

Sam lächelte sie sanft an. „Ich kenne ihn, Lily-Mädel, und ich kenne dich,“ sagte er. „Und dass du hierher kommst, ist für mich der größte Segen nach meiner Rosie und meiner Elanor.“ Jetzt war er an der Reihe damit, ihre Hand zu nehmen und sie beruhigend zu tätscheln. „Zusammen werden wir dafür sorgen, dass es ihm besser geht.“

Lily versuchte zu protestieren, aber sie konnte nicht sprechen. Sam nickte und wandte sich zum Gehen. Doch ehe er um die Ecke bog, drehte er sich noch einmal rasch um und sah Lily an. „Weißt du, das war sein Zimmer hier,“ sagte er und zeigte auf die Tür. „Er hat hier geschlafen, wann immer er aus Bockland zu Besuch kam, bevor Herr Bilbo ihn adoptiert hat. Er sagt, dass er dieses Zimmer mochte, weil es dicht bei der zweiten Speisekammer liegt, wo das Süßzeug aufbewahrt wird.“ Sam zeigte auf das andere Ende des Korridors. „Da hinten nach links, die zweite Tür rechts.“

Während er sich entfernte, gluckste er in sich hinein, aber Lily schloss die Tür hinter ihm und lehnte sich müde dagegen, bevor sie an dem glatten, schweren Holz herunterrutschte und das Gesicht in den Händen vergrub. Doch selbst so konnte sie die Bilder nicht ausschließen; von einem lebhaften, dunkelhaarigen Jungen, der im Zimmer umher ging und fröhlich vor sich hin pfiff, der einen Teller mit Gebäck und ein Buch zum Kamin trug, um sich ans Feuer zu setzen. Sie schüttelte den Kopf. Nein, nein, sagte sie sich selbst streng. Was auch immer es war... Wahnsinn, Betörung, Dummheit... es ist vorüber, und es ist nichts mehr übrig. Ich bin hier für Rosie und Elanor, bis mein Smial wieder hergerichtet ist. Ich bin hier für Rosie und Elanor, und für niemanden sonst.

*****

Lily stellte den Kessel auf das Feuer und setzte sich erschöpft an den Küchentisch; sie wartete darauf, dass das Wasser kochte, damit sie sich einen Tee machen konnte. Es war ein anstrengender Tag gewesen, und er war auch durch den jungen Herrn Hornbläser nicht besser geworden, der beinahe in Ohnmacht fiel, als er vor der Tür von Beutelsend ankam; er plapperte etwas darüber, dass seine Frau drei Wochen zu früh in den Wehen läge. Der einzige Trost war, dass die unzeitigen Geburtsschmerzen sich als besonders hässliche Magenverstimmung herausstellten, die sich leicht lindern ließ. Rosies Fieber allerdings musste erst noch sinken, und sie war nicht die einfachste Patientin gewesen. Sie bestand darauf, nach Elanor zu fragen, obwohl ihr mehrfach erklärt worden war, dass Maie sich um das Baby kümmerte; Sams Schwester war mit einem eigenen, sechs Monate alten Baby mehr als bereit, ihre neue Nichte zu stillen. Rosies Fieber hatte irgendwann am frühen Abend seinen Höhepunkt erreicht und schwächte sich erst ab, nachdem Lily sie stundenlang mit einem Schwamm abwusch, sie zum Trinken überredete und ihr beruhigend versicherte, dass sie keine schlechte Mutter sei und dass Elanor ihre richtige Mama ganz sicher nie vergessen würde. Erst als sie anfing, sich schwindelig zu fühlen, wurde Lily klar, dass sie seit dem Elf-Uhr-Imbiss, als sie zum Hornbläser-Hof gerufen worden war, nichts mehr zu sich genommen hatte. Sam schimpfte mit ihr und schickte sie in die Küche, damit sie etwas aß.

Aber die große Küche von Beutelsend hallte von Erinnerungen wider, obwohl sie nach dem Vandalismus der Rüpel wieder hergerichtet worden war. Lily stocherte lustlos in ihrer kalten Mahlzeit herum; ihre Kehle war trocken und zugeschnürt von der Erinnerung an Gespräche, an Lächeln, an Küsse und Gelächter... Johlendes Kreischen. Brechreizerregender Gestank. Scharker, seine Augen erfüllt von fiebrigem Wahnsinn, sein Bart verfilzt und klebrig von Speichel. Sie stieß ihren Teller zurück und presste die Hand auf den Mund, um nicht zu schluchzen, aber die Tränen hieß sie willkommen, denn sie vernebelten ihr die Sicht und dämpften den Schmerz der Erinnerung daran, wie sie einmal blindlings in eben diese Küche gekommen war und den Tod ihrer besten Freundin betrauert hatte, die sie im Kindbett nicht hatte retten können. Damals hatte es starke, offene Arme gegeben, um sie zu empfangen, Wärme und lindernde Worte, mit einer leisen, besorgten Stimme gesprochen...

„Lily.”

Lily wirbelte herum und blinzelte, und für eine Weile schien ihre Erinnerung durch die Tränen hindurch Gestalt angenommen zu haben, denn Frodo stand vor ihr, bekleidet mit dem selben Hausmantel, den er in der Nacht getragen hatte, als Merle starb. Lily schnappte nach Luft und wischte sich die Augen; erst jetzt wurde ihr klar, dass es nicht der Frodo ihrer Erinnerungen war, der sie fragend anstarrte. Dieser Frodo hatte ein hageres Gesicht und dunkle Ringe unter müden Augen, von denen so viel kalte Traurigkeit und Schmerz ausstrahlte, dass Lily vor ihm zurückwich.

„Frodo!“ platzte sie heraus und fügte hastig hinzu: „Herr.“

„Lily.“ Bildete sie sich das nur ein, oder war da tatsächlich ein Hauch von Wehmut in seiner Stimme? „Geht es dir gut? Stimmt irgend etwas nicht mit Rosie? Oder mit Elanor?“

Sie bemerkte, dass sein Gesicht sehr bleich war, und dass er leicht zitterte. Sam hatte gesagt, dass sein Herr vor zwei Wochen krank gewesen sei. War ihm die ganze Zeit seither immer noch unwohl? Sie stand auf und betrachtete ihn mit den kritischen Augen einer geübten Heilerin. „Rosie ruht sich jetzt aus, Herr. Und das solltest du auch, glaube ich,“ sagte sie und starrte ihn auf die durchbohrende Art an, die sie für ihre widerspenstigsten Patienten reserviert hielt. „Du siehst nicht gerade aus wie das blühende Leben, Herr Frodo... falls du die Unverschämtheit entschuldigst.“

„Oh, ist schon gut. Sogar ich hasse mittlerweile dieses alte, verblichene Spiegelbild.“ Sein kurzes Lachen klang hohl und gekünstelt, aber er ließ sich mit einem hörbaren Seufzer der Erleichterung auf einen Stuhl fallen.

Er saß eine Weile vornüber gebeugt, das Gesicht in den Händen, und Lily starrte ihn an; sie versuchte die Überreste von Zorn und Verbitterung in sich wachzurufen - und versagte. Statt dessen überraschte sie sich selbst mit der Sanftheit in ihrer Stimme, als sie fragte: „Ich mache Tee, Herr. Möchtest du welchen?“

„Das wäre schön, Fräulein Stolzfuß.“ Er nahm die Hände vom Gesicht und betrachtete sie mit scharfer Ungeduld.

Sie versuchte zu lächeln, obwohl sie spürte, wie ihr Herz von Eis verkrustet wurde. „Ich sehe, wir sind wieder zurück bei Fräulein Stolzfuß.“ Sie hoffte, dass es leichtfertig und munter klang.

„Das sind wir,“ erwiderte Frodo trocken, „solange du darauf bestehst, Herr Frodo zu mir zu sagen.“

„Manche von uns haben es nicht im Blut, feine Leute beim Vornamen zu nennen,“ entgegnete sie so frostig sie konnte.

„Früher einmal hat es dir scheinbar nichts ausgemacht,“ gab er zurück.

„Ich wusste es nicht besser.“

Er stöhnte und rieb sich die Stirn, eine Geste aufrichtigen Unwohlseins, die sie an ihre Pflicht erinnerte. Sie nahm zwei Tassen aus dem Schrank, löffelte getrocknete Kamillenblüten in die Teekanne und goss kochendes Wasser nach. Sie erschrak, als ihr klar wurde, dass sie sich noch immer an seinen Lieblingstee erinnerte, und an die Art, wie er ihn am liebsten trank – mit Honig und einem Spritzer Zitrone.

Sie stellte die Tasse vor ihn hin. „Hier, Frodo,“ sagte sie leise. „Trink das. Es wird helfen.“

Er blickte mit einem kleinen Lächeln zu ihr auf – nicht triumphierend, nur erleichtert. „Danke, Lily.“

Sie saßen einander gegenüber und nippten schweigend an ihrem Tee; sie fürchteten sich, zu reden und damit Verletzungen und Feindseligkeiten wieder aufzurühren. Unausgesprochene Fragen schwebten in ihren Augen, aber als endlich eine Unterhaltung zustande kam, schraken sie davor zurück, über sich selbst zu sprechen und verhielten sich in einer Art stiller Übereinkunft wie zwei Fremde, die sich über eine gemeinsame Bekannte austauschten... um nicht zu viel zu offenbaren, zuviel zu wissen.

„Wie geht es Rose? Kommt sie wieder in Ordnung?“

„Ich bin sicher, in ein, zwei Tagen geht es ihr besser. Was sie jetzt braucht, ist Ruhe; das und ihren Seelenfrieden. Sobald sie kräftiger ist, bitte ich Sam, dass er Elanor zurückholt. Es wird für Mutter und Kind besser sein, wenn sie bald wieder beieinander sind.“

„Gut. Gut. Du glaubst nicht, dass dieses Fieber ansteckend ist?“

„Oh nein. Aber wir müssen Rosie Zeit lassen, wieder gesund zu werden und zu Kräften zu kommen, bevor sie ihre mütterlichen Pflichten wieder aufnehmen kann. Elanor wird jemanden brauchen, der sich um sie kümmert.“

„Natürlich. Du bleibst hier und sorgst dafür, dass alles gut geht, nicht wahr?“

„Ja. Sam hat mich großzügigerweise eingeladen, hier zu bleiben, bis mein Smial wieder in einem Zustand ist, dass man darin leben kann.“

„Natürlich. Ich hoffe, du findest dein Zimmer zufriedenstellend.“

„Es ist schön. Und so nahe an der Speisekammer.“

Sie lächelten beide und entspannten sich zum ersten Mal, seit er die Küche betreten hatte.

„Wieso bist du so spät noch auf?“ fragte sie.

„Ich konnte nicht schlafen und habe mich entschlossen, ein bisschen zu schreiben. Ich nehme an, ich habe die Zeit vergessen.“

„Was hast du denn geschrieben?“

„Was wir getan haben, als wir fort waren, meine beiden Vettern, Sam und ich. Ich arbeite an dem Buch, seit wir nach Hause gekommen sind. Liest du immer noch Tengwar, Lily?“

Die Frage traf sie völlig unerwartet, und für eine Weile konnte sie weder denken noch sprechen. Was meint er damit? Meint er, ich könnte so leicht vergessen, wie man das liest, nach all den langen Stunden, die sich darauf verwendet habe, während er sie mir beigebracht hat, hier? Meint er, ich hätte an dem Tag aufgehört, diese wunderbaren Buchstaben zu lieben, als seine Liebe zu mir aufgehört hat? „Ich glaube, ich bin ein bisschen eingerostet,“ sagte sie langsam und unterdrückte den chaotischen Ansturm von Zorn, der ihr durch die Adern rauschte. „Ich habe nur in dem Wörterbuch gelesen, das du mir gegeben hast.“

Frodo nickte; er schlug die Augen nieder. „Ich...“ Er runzelte die Stirn, zögerte – und suchte dann ihren Blick. „Ich hatte zuviel im Kopf, als ich fort ging. Ich hätte dir ein paar von meinen Büchern geben sollen, bevor Merry meine Bibliothek nach Krickloch geschafft hat.“

Wir haben in den Monaten, bevor du gegangen bist, kaum miteinander geredet, weißt du nicht mehr? Sie sagte nichts, aber ihre Lippen formten eine dünne, harte Linie in ihrem Gesicht.

Er betrachtete sie wortlos, dann stand er plötzlich auf. Sie erschrak, als sie sah, dass er einen Augenblick taumelte und Halt suchend die Lehne seines Stuhls umklammerte. Er zwang ein Lächeln auf seine Lippen und sagte: „Gute Nacht, Lily. Danke für den Tee.“ Er schwankte leicht, stützte sich aber rechtzeitig ab und brachte es fertig, weiter zu lächeln, obwohl sein Gesicht sehr bleich geworden war.

Lily schluckte ihr „Gute Nacht, Frodo. Schlaf gut“ hinunter und sprang auf die Füße. „Macht es dir was aus, wenn ich lese, was du da schreibst?“ fragte sie rasch.

Frodo sah sie überrascht an. „Wenn du wirklich möchtest,“ antwortete er unsicher. „Es ist jetzt in meinem Schlafzimmer.“ Als sie die Augenbrauen hochzog, fügte er hastig hinzu: „Ich habe seit Anfang diesen Monates dort gearbeitet. Ich fühle mich schon eine ganze Weile nicht wohl.“

„Oh, ich kann mir den Ärger der armen Rosie vorstellen, wenn sie die Tintenflecken auf deinen Laken entdeckt.“ Lily grinste und war froh, als sie als Antwort ein echtes Lächeln auf seinem Gesicht sah.

Sie ging neben ihm zu seinem Schlafzimmer und beobachtete ihn genau, während er den Korridor entlang schlurfte wie ein alter Mann. Sie war heimlich dankbar, dass sie nicht auf dem Weg in sein Studierzimmer waren. Sie war nicht sicher, ob sie es dort auch nur kurze Zeit aushalten würde, nach dem, was Lotho getan hatte. Sie schauderte, als sie an der Biegung vorbei kamen, die zum Studierzimmer des Herrn führte und versuchte, die dunkle, schmerzhafte Erinnerung auszuschließen, die von der runden Tür am Ende des Flures ausstrahlte.

Sein Zimmer war immer noch so, wie sie es in Erinnerung hatte, aber auf dem Nachttisch befand sich ein Stapel Papiere, und ein Tintenfass samt Feder drängten sich auf dem Tisch am Kamin, wo noch mehr Papiere neben einem unberührten Tablett mit Abendessen verstreut lagen.

Er sah, dass sie das Tablett anschaute. „Ich hatte in letzter Zeit nicht viel Appetit,“ erklärte er mit reumütigem Gesicht, „Sam und Rosie tun ihr Bestes, aber Essen schmeckt mir dieser Tage einfach nicht besonders.“ Er blickte sich um und lachte kurz und beschämt, als ihm klar wurde, dass es nirgendwo einen Platz gab, wo sie sich hinsetzen konnte; überall lagen seine Papiere herum. „Es tut mir Leid,“ begann er... dann gab er einen erstickten Schrei von sich, schloss die Augen und fasste sich an die Stirn. Er tastete sich blindlings in Richtung Bett, und Lily packte ihn am Ellbogen und führte ihn, damit er sich auf die Bettkante setzen konnte.

„Vielleicht legst du dich besser hin, Frodo,“ sagte sie sachlich.

„Es geht mir gut,“ hauchte er; es war ein zittriges Flüstern. „Es geht mir gut. Ich war nur einen Moment schwindelig.“ Sein wegwerfendes Lächeln war nicht sehr überzeugend, aber sie wusste, dass er zu dickköpfig war, seine eigene Schwäche einzugestehen. „Vielleicht hätte ich vorhin versuchen sollen, etwas zu essen.“

„Das hättest du,“ Lily betrachtete das Tablett. „Die Suppe ist kalt, aber ich glaube, das Hühnchen und die Kartoffeln kannst du noch essen, und die Karotten und die Erbsen sehen auch noch gut aus.“

Bei der bloßen Erwähnung von Essen schien ihm übel zu werden; statt dessen sah er seine Papiere durch. „Du wolltest mein Buch lesen?“ fragte er, nahm ein paar Seiten von dem Stapel auf dem Nachttisch und reichte sie ihr hinüber. „An dem hier habe ich gerade gearbeitet.“

Sie saß neben ihm und schaute die Bögen einen nach dem anderen an. Sie waren mit der für Frodo charakteristischen, festen und fließenden Tengwar-Schrift bedeckt und enthielten den selben Text, der sich von Seite zu Seite wiederholte.

„Ich stelle sicher, dass ich alles richtig schreibe, bevor ich es in Bilbos Buch kopiere.“ erklärte er.

Sie hielt sich das Papier dichter vor die Augen und fing an zu lesen. Zu ihrem Schrecken brauchte es einige Zeit, bis die Buchstaben für sie einen Sinn ergaben. Sie stolperte über die ersten paar Worte, hielt am Ende des ersten Satzes inne und sah ihn an. Er schenkte ihr den geduldigen, ermutigenden Blick, den er immer gehabt hatte, während er ihr das Lesen beibrachte. „T-to-re-ch U-ngo-l. Spinne? Spinnenhöhle?“

Er nickte mit einem gezwungenen Lächeln; er streckte die Hand nach seinem Nacken aus, eine Geste, die er erst mitten in der Bewegung bemerkte, mit einem Ausdruck von Entsetzen und Scham auf dem Gesicht. „Mach weiter,“ drängte er heiser.

Sie fuhr fort zu lesen und seine Worte trugen sie an diesen dunklen, üblen Ort. Seine Furcht stieg von dem Papier auf und drang durch ihre Haut; sie pulsierte in ihrem Blut und umklammerte ihre Herz. Sie wollte aufhören, aber sie konnte es nicht; sie wollte nicht wissen, was es war, das hinter all dem Gestank und all dem Schrecken lauerte, aber sie las weiter und spürte, wie der Raum rings um sie herum kälter und dunkler wurde. Das Papier bebte in ihrer Hand, als die riesige Spinne aus dem Teich der Schatten hervorkam und gnädige Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie den Teil erreichte, wo die Spinne ihn einholte, als er unachtsam aus dem Tunnel floh. Sie musste nicht erst lesen, was er schrieb, um zu wissen, dass die Spinne ihre Fänge in seinen Nacken geschlagen hatte, dass sie ihn verwundet und vergiftet hatte; sie hatte die Narbe Anfang Oktober des letzten Jahres gesehen, als Sam sie gebeten hatte, ihm bei der Pflege seines schwer erkrankten Herrn zu helfen.

Frodo nahm ihr das Papier aus der Hand und reichte ihr ein zusammengefaltetes Taschentuch, damit sie sich die Augen trocknen konnte. Für die längste Zeit saßen sie nun einfach auf seiner Bettkante und sahen die Flammen zu, die zitternd an den Scheiten im Kamin leckten; sie starrten in das orangene Glühen des brennenden Holzes und den Hügel aus silbrig weißer Asche, der sich am Boden des Holzstoßes sammelte.

Lily schaute zur Seite und nahm den Anblick von Frodos Hand in sich auf, die dünn, blass und vierfingrig auf den Papieren in seinem Schoß ruhte. Die Hand eines Lehrers, die Finger eines Gelehrten, dachte sie bitter und rief sich die Zeit ins Gedächtnis, als diese Hand die ihre über das Pergament führte, geduldig und ermutigend. Da war auch die Erinnerung an die selben Finger, wie sie auf einem Pfad feuriger Zärtlichkeiten über ihre Haut glitten und ihr eine Welt eröffneten, wo Begehren nicht bloß aus kicherndem Flüstern und Geheimnissen bestand, sondern Hitze war, die durch ihre Adern flutete, und Donnerschläge in ihren Gliedern... das Gefühl, aufzusteigen und sich mitten in einem tobenden Sturm am Ende eines straff gezogenen Seiles zu befinden, das sie endlich in einem warmen, goldenen Meer treiben ließ. Viel war geschehen zwischen jener Nacht und der schrecklichen Narbe seines Ringfingers, und es gab nicht genügend Worte, um den Abgrund zu überspannen, der weit und tief klaffte zwischen jenen Tagen, an denen sie die Form der Schönheit und der heimlichen Träume kennen gelernt hatte – und einer anderen Nacht in eben demselben Studierzimmer, als alles in endlose Dunkelheit und endlosen Schmerz hinunter kreiselte.

Sie blickte auf und stellte fest, dass Frodo sie beobachtete; Schatten und Feuerschein spielten über sein Gesicht und zeigte ihr die nackte, herbe Regelmäßigkeit seiner Züge. Er sah erschreckend alt und verwittert aus, eine grausame, traurige Verhöhnung der Erinnerung an die Schönheit, die sie hütete wie einen Schatz. Einmal hatte sie auf sein Gesicht heruntergeschaut, während er sich unter ihr aufbäumte, aufgelöst, aufgelöst und überwältigt; sie hatte gedacht, dass dieses Gesicht aus Sternenlicht gehauen zu sein schien, und der Körper, den sie in den Armen hielt, war aus einer Million Teilchen von Sonnenschein gemacht, einer Million Diamantsplitter, einer Million Regenbogen, die sich in den weit entfernten Himmel hinaufwölbten, ein Pfad zu den Sternen.

Das Gesicht, das sich ihr jetzt zuwandte, die ruhigen Augen, die ihre in einem wartenden, fragenden Blick festhielten... sie waren nichts als eine eingeschrumpfte Hülse jenes Glanzes, an den sie sich erinnerte. Das Licht, das dort noch glomm, war so schwach und verschleiert wie der letzte Rest Glut, gefangen unter einem Haufen weißer Asche. Frodos Lippen öffneten sich unsicher; Sorge flüsterte in seinen Augen.

Nein, tu das nicht! Lily merkte, wie sie in Panik geriet. Sag nichts. Versuch nichts zu erklären, entschuldige dich nicht. Ich will es nicht hören, Es würde die Wunden nur wieder aufreißen, und ich würde nicht wissen, was ich tun soll, was ich sagen soll.

Er nahm ihre Hand und drückte sie an seine Brust; er schloss ihre Finger um den kühlen, weißen Edelstein, der an der Silberkette um seinen Hals hing. Sie spürte, wie Wärme und Erleichterung – fast wie ein Lied – sie überspülte und in ihrem Herzen aufblühte. Er zog sie sanft in seine Arme und sie hielten einander in der Einfachheit und Vertrautheit wohl eingeübter Gewohnheiten der Liebe. Beide waren sie Waisen eines betrogenen Traumes, Überlebende der selben, einsamen Schlacht, die sie beide so verwandelt hatte, dass sie sich selbst kaum noch erkannten. Er war nicht länger die robuste Mauer, hinter der ihr Heiligtum von Leidenschaft und Frieden lag. Die Mauer war jetzt voller Risse, und kalter Wind pfiff durch den toten, verlassenen Garten. Sie war nicht mehr sein junges, süßes Mädchen, mit rosigen Wangen und einem bereitwilligen Lächeln. Was sie durchgemacht hatte, hatte sie weit mehr altern lassen als die zwei Jahre, die vergangen waren, und obwohl sie äußerlich jugendlich und geschmeidig erschien, war sie innerlich doch hart, spröde und verfallen. Aber sie wussten noch immer beide um die schlichte Sprache des Trostes, und obwohl die Erinnerung kalt blieb und scharf wie Stahl, obwohl Bedauern und Entfremdung rings um sie in einem verräterischen Wirbel kreisten, umarmten sie einander mit der stillen, sehnsüchtigen Freude derer, die endlich heimgefunden haben.

*****

Am Anfang gab es so viele Dämonen, die sich auf ihrem Bett drängten: Alpträume, Schuld, Scham, Zorn und Erinnerungen. Sie tanzten wachsam um die vielen Fallgruben und sprachen immer nur von der Gegenwart, und wenn es nichts mehr zu sagen gab, oder wenn die Vergangenheit sich kalt und schmerzhaft zwischen sie schob, dann hielten sie einander einfach schweigend fest.

Rosie und Sam wechselten ein wissendes Lächeln und machten ein großes Theater daraus, die Augen abzuwenden, wenn Lily morgens aus Frodos Zimmer kam; sie wussten nichts von den Stunden, die sie damit verbrachte, ihn in den Armen zu wiegen und zurück in einen Schlaf zu summen, der zerrissen wurde von Alpträumen über Peitschen und flammend rote Räume. Sie entfernten sich auf Zehenspitzen aus dem Studierzimmer, wenn sie sahen, wie der Herr schlief, den Kopf im Schoß der Hebamme, derweil besagte Hebamme darin vertieft war, seinen Manuskriptstapel zu lesen; sie murmelte die Worte sorgfältig vor sich hin und fuhr mit den Fingern müßig durch Frodos Haar. Weder Sam noch Rosie wussten von den Tränen, die über Lilys Wangen strömten, als sie Frodo erzählte, was während der Besatzungszeit im Studierzimmer mit ihr geschehen war, oder von dem flammenden Zorn auf Frodos Gesicht, als er lange neben Lily wach blieb, nachdem sie sich in den Schlaf geweint hatte. Es gab zu viele Narben und zu viel anhaltenden Schmerz für sie, als dass sie auch nur hätten daran denken können, sich die feurige Freude zurück zu erobern, sie sie einst hinter der verriegelten Tür von Frodos Schlafzimmer miteinander geteilt hatten. Sie umarmten und küssten einander, und sie liebkosten einander sanft; keiner von ihnen brauchte oder suchte nach mehr.

Bis Lily eines Morgens erwachte und die Berührung von Frodos Lippen auf der Wange spürte... ein warmer Atem, der ihren Namen auf ihrer Haut formte, bevor er gemächlich und absichtsvoll an der Rundung ihres Kiefers entlang streifte, sich kurz in ihrem Mundwinkel niederließ und langsam den Weg zu dem Abhang fand, wo ihr Hals in ihre Schulter überging.

Sie drehte sich um und schaute ihn an, und sie sah den dunklen Schimmer seiner Augen im blassgrauen Licht eines wolkigen Morgens. Sie küssten sich leise und spielerisch, dann tiefer; sie verfielen ohne jede Hast in einen sanften Rhythmus, der stetig mit ihrem schneller werdenden Herzschlag anstieg... wie eine gewundene Treppe, aus einladenden Küssen und neckenden Fingern gebaut. Sie erweckte halb vergessene Lieder von Hitze und Zärtlichkeit, Stärke und Unterwerfung, Bedürfnis und Liebe. Es gab keine Heftigkeit, keine Eile; sie nahmen sich Zeit damit, zu berühren und zu fühlen, zu schmecken, zu schauen und zu lauschen; sie prägten sich jede Zärtlichkeit, jedes Flüstern und jeden Anblick ins Gedächtnis ein. Die Mauern zwischen der wachen Welt und den Träumen schienen zu schimmern und sich in Wellen des Entzückens und der Süße aufzulösen. Lily starrte bezaubert auf das strahlende Glühen in Frodos Gesicht; sie staunte darüber, wie er in der fast völligen Dunkelheit des Zimmers in seinem ganz eigenen Licht zu leuchten schien. Kein Sonnenschein, dachte sie, als sie die Hand ausstreckte, um sein Gesicht zu berühren, kein Diamant, keine Regenbögen, die sich bis zum Rande des Himmels erstrecken, sondern das Sternenlicht selbst. Sie hielt das Licht der Sterne in den Armen, lanzenscharf und juwelenhell.

Sie schloss die Augen und schmeckte seinen Mund auf dem ihren, und ein letztes Anschwellen von Hitze, hell wie ein Blitz, schickte sie schwerelos in den Himmel hinauf. Sie fragte sich, ob es sich wohl so anfühlte, wenn man segelte.

Sie hielten einander fest, lauschten auf das stetige, monotone Prasseln von Wasser auf dem Bühl, und starrten auf das beschlagene Fenster, wo Regentropfen ein spinnwebartiges Muster zeichneten.

Sie öffnete die Augen und spürte, wie ihre Träne einem warmen Pfad hinunter auf ihr Kissen folgte. „Du gehst weg,“ flüsterte sie.

Frodo nickte gegen ihr Haar, „Nächste Woche, an meinem Geburtstag.“

Sie wusste es, sie hatte es gesehen. Sie hielt seine Hand - die rechte, an der der Finger fehlte - und drückte einen Kuss darauf.

„Ich wünsche dir eine gute, sichere Reise, mein Geliebter,“ flüsterte sie. „Ich liebe dich.“

ENDE


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