Bevor ich schlafen gehe
von Cúthalion


8. Kapitel
Eine Nacht im November

„...and like a boat out on the ocean
I’m rocking you to sleep
The water’s dark and deep
Inside this ancient heart
You’ll always be a part of me“

(Billy Joel, „Good night my Angel“)

Oktober 1417

„Möchtest du noch mehr Milch?“

Lily saß am Küchentisch von Frau Kattun. Der Raum war vom kräftigen Duft nach Rindfleisch, Lauch und Kartoffeln erfüllt; ein Eintopf siedete auf dem Herd und Rosies Mutter schnitt dicke Brotscheiben für das Mittagessen. Tom und seine Söhne würden bald mit dem herzhaften Appetit von hart arbeitenden Hobbits vom Feld hereinkommen, und Lily war eingeladen, das Essen mit ihnen zu teilen. Sie hatte auf ihrem Weg zu einem Baby in Wasserau vorbeigeschaut, das nicht richtig trank, aber Frau Kattun hielt sie auf. Sie befahl ihr, sich mit einem Glas Milch und einem Stück Butterkuchen hinzusetzen, als „Ersatz für den verpassten Elf-Uhr-Imbiss nach deinem verpassten Frühstück“, wie sie es ausdrückte.

„Immerhin bist du meine Ziehtochter gewesen – wenigstens für beinahe ein Jahr – und es muss jemanden geben, der darauf achtet, dass du genug isst, Liebchen.“ fuhr sie fort. „Es macht keinen Sinn, wenn alle Babys in Hobbingen blühen, gedeihen und fett werden, während die Hebamme immer mehr abmagert. Und schlafen tust du auch nicht genug, Mädelchen. Du hast viel zu dunkle Schatten unter den Augen. Als Amaranth noch im Dienst war, ist Hobbingen auch nicht ausgestorben, selbst wenn sie von Zeit zu Zeit ein Nickerchen gemacht hat.“

Lily verbarg ihr Gähnen hinter einer Hand und ihr müdes Gesicht in dem Becher mit kühler Milch, den Frau Kattun ihr reichte. Der Butterkuchen schmeckte nach Zimt und Mandeln, und in dem sonnenhellen Frieden der Kattun-Küche spürte sie ihre eigene Erschöpfung um vieles deutlicher als in der turbulenten Hektik ihres täglichen Lebens.

Morgen würde Odogar, der Mann von Tante Esmeralda, aus Bockland eintreffen und Viola und die Jungen mitnehmen, für drei Wochen Erholung. Diesmal würde ihr Vater die Familie begleiten, aber Lily hatte sich entschieden, zu bleiben. Sechs Babys waren während der letzten zwei Wochen geboren worden und drei weitere wurden erwartet.

Eines von ihnen war das dritte Kind von Merle, und der hauptsächliche Grund, warum Lily beschlossen hatte, nicht mitzugehen.

Merle hatte inzwischen zwei Töchter. Die letzte – Primula – war gerade erst geboren worden, als Lily Amaranth im letzten Jahr auf dem Randstein sitzen fand, und Merle war eine der letzten Mütter gewesen, um die sich die alte Hebamme allein gekümmert hatte. Nur wenige Tage, bevor sie starb, hatte Amaranth mit Lily über Merle gesprochen, und zwar in einem äußerst ernsthaften Ton.

„Ihre letzten beiden Babys waren ziemlich klein,“ Es war seltsam, wie leicht es Lily fiel, sich die heisere Stimme ihrer alten Lehrerin ins Gedächtnis zu rufen. „Ich denke, das ist der Grund, wieso sie es überhaupt geschafft hat, sie zur Welt zu bringen... die Knochen, durch die das Baby hindurchrutschen muss, sind irgendwie verwachsen – obwohl ich dir nicht sagen kann, warum. Wenn sie jemals ein Kind empfängt, das in ihrem Bauch größer wird als ihre Töchter, dann wäre die Geburt sehr gefährlich.“

Lily seufzte und rieb sich über das Gesicht. Ja, sie war müde. Und sie hatte Angst.

******

Lily hatte versucht, Merle zu warnen – im Februar, kurz nachdem der heimliche Elbisch-Unterricht in Beutelsend sich in die leidenschaftlichen Begegnungen zweier Liebenden verwandelt hatte. Sie saß im Wohnzimmer von Timm Dornbuschs Smial. Merle servierte Pfefferminztee und Rosinentörtchen, und während Lily an ihrer Tasse nippte, huschte sie im Zimmer herum, rückte hier und da ein Spitzendeckchen oder eine Porzellanfigur zurecht und verbreitete eine Atmosphäre der Rastlosigkeit, bis Lily sie am Arm packte und dazu zwang, stehen zu bleiben.

„Merle, was ist los? Das letzte Mal, als du dich so aufgeführt hast, hattest du ein halbes Backblech voller Apfeltörtchen aus dem Ofen deiner Mutter geklaut und sie an all deine Schulfreundinnen verteilt, bevor sie es gemerkt hat.“ Sie lächelte ihre Freundin an. „Und jedes Mal, wenn du mich anlügst, zuckt deine linke Auenbraue.“

„Meine Augenbraue zuckt gar nicht!“ protestierte Merle. Aber sie setzte sich gehorsam in ihren Schaukelstuhl neben dem Fenster. „Lily, wieso bist du hier?“

„Ich wollte mit dir reden.“ sagte Lily. Sie beugte sich auf ihrem Hocker vor und versuchte, Merles Blick einzufangen. „Eines der letzten Dinge, die Amaranth gemacht hat, war mir zu sagen, dass du nicht noch ein Baby haben darfst.“

Merle schwieg, aber Lily sah, dass die Knöchel ihrer Hände, die gefaltet in ihrem Schoß lagen, weiß wurden.

„Mit Margerite und Primula hast du außerordentliches Glück gehabt. Sie waren klein genug, um herauszukommen, aber wenn du eine dritte Schwangerschaft wagst, dann bist du in Gefahr.“

„Timm wünscht sich einen Sohn.“ Es war, als hätte Merle ihre Worte nicht einmal mitbekommen. Lily schüttelte den Kopf. Sie fühlte, wie zornige Ungeduld in ihr aufwallte. Merles Sturheit war entnervend.

„Mag sein. Aber ich bin sicher, Timm möchte auch seine Frau behalten. Und wenn du das genauso willst, dann solltest du mit allen Mitteln verhindern, dass du empfängst. Du kannst versuchen, den Kalender zu beachten; ich zeige dir, wie. Ich kann dir auch ein paar Kräuter geben, die dir vielleicht nützen.“

„Den Kalender beachten!“ Merle gab ein kurzes, bitteres Lachen von sich. „Ich bin nicht annähernd so regelmäßig wie du - als ob du das nicht wüsstest!“ Sie erhob sich aus ihrem Schaukelstuhl und fing wieder an, durch den Raum zu streichen. „Es würde damit enden dass ich mich bis an mein Lebensende nicht mehr in mein Ehebett traue, und was für eine Ehefrau wäre ich, wenn ich das täte, hm?“

Lily wusste, dass sie sich mit dem, was sie als nächstes sagen würde, auf dünnes Eis begab, und sie wählte ihre Worte sorgsam.

„Ich bin sicher, es gibt viele Möglichkeiten, jemandem Vergnügen zu bereiten.“ sagte sie langsam. „Man muss nicht unbedingt bis... zum Letzten gehen. Man kann seinen Mund gebrauchen, seine Hände...“

Hände, die die eleganten Linien elbischer Buchstaben auf ihre bloße Haut zeichneten... wissende Lippen, die einen feurigen Pfad über ihre Brüste und ihren Bauch hinunter zur Rundung ihrer Hüften zogen... ein Mund, der küsste und liebkoste... die Berührung einer Zunge, die sie ihren Aufschrei überraschter Lust im Kissen ersticken ließ...

„Was weißt du denn schon von all dem!“ Merles zornige Stimme schnitt durch ihre plötzliche Träumerei und Lily spürte, wie ihre Wangen brennend heiß wurden. „Deine bedauernswerten Verehrer haben nie mehr von dir gekriegt als einen Tanz, geschweige denn einen harmlosen Kuss, und du bist bestimmt das einzige Mädchen in Hobbingen, das niemals auch nur über einer Balgerei im Heu nachgedacht hat, oder?“ Wieder dieses bittere Lachen. „Eine keusche Hebamme!“

„Im Gegensatz zu dir?“ Lily hob den Kopf und sah Merle in die Augen. „Ist es das, was du sagen willst?“

Das Schweigen zwischen ihnen war betäubend. Endlich seufzte Merle und griff nach Lilys Hand.

„Tut mir leid, Lilysüß,“ murmelte sie und gebrauchte dabei instinktiv einen der alten Kosenamen, die sie sich zum ersten Mal ausgedacht hatten, als sie beide acht Jahre alt waren. „Ich hätte das nicht sagen sollen.“

„Und ich auch nicht.“ Lily zog Merle in eine kurze Umarmung hinein. Merles Haar roch nach Honig und warmem Brot, die Wange an ihrer eigenen war weich und glatt. Sie umschloss das vertraute, geliebte Gesicht ihrer ältesten Freundin mit beiden Händen. „Was ist los, Merleschön?“

Merle seufzte tief.

„Ich bin schwanger.”

„Du bist... oh.“ Lily trat zurück und ließ sich behutsam auf ihren Hocker sinken, bevor ihr die Knie weich wurden. „Du hast eine verhängnisvolle Art, Tatsachen zu schaffen, oder nicht?“

„Die Geschichte meines Lebens.“ Plötzlich lächelte Merle, und es war das Lächeln langer Jahre voller Märchen, Kinderabenteuer und endloser Spiele. Es erstarb rasch, und wieder nahm sie Lilys Hand.

„Sei nicht böse mit mir, Lilysüß. Ich werde deine Hilfe brauchen. Ich muss dieses Baby haben. Ich will einen Sohn für Timm. Du weißt, es hat Jungs gegeben, bevor er kam, aber das hat sich geändert. Jetzt gibt es nur Timm, und ich würde alles tun, um ihn glücklich zu machen. Alles.“

Der Druck ihrer Finger war so hart, dass Lily zusammenzuckte.

„Hilf mir, Lily. Bitte.“

„Natürlich.“ Wieder umarmte Lily Merle. Sie konnte die tiefe Angst fühlen, die den Körper der jungen Frau erzittern ließ, kaum verborgen unter ihrem Mut und ihrer Entschlossenheit. „Natürlich. Wie könnte ich auch nicht?“

******

„Wo bist du denn, Mädel?“ Eine Hand auf ihrer Schulter zog sie in die Gegenwart zurück. „Du hast ausgesehen, als würdest du mit offenen Augen schlafen!“

Lily blinzelte.

„Tut mir leid, Frau Kattun.“ Sie erhob sich mit einiger Anstrengung von ihrem Stuhl. „Ich danke dir für die Milch und den Kuchen, aber ich fürchte, jetzt muss ich gehen. Das Baby in Wasserau wartet, und ich habe meiner Mutter versprochen, ihr zu helfen, die Taschen für die Fahrt nach Bockland zu packen.“

„Dann schicke ich Nick mit einem großen Topf Essen und frischem Brot vorbei.“ sagte Frau Kattun. „Wenn du aus Wasserau zurückkommst, ist er da, und du musst mir versprechen, dass du auch etwas isst. Ich bezweifle, dass deine Mutter heute Zeit hat, anständig zu kochen.

„Danke, Frau Kattun.“ antwortete Lily ehrlich erfreut. Die großzügige Geste würde es ihr ersparen, sich an diesem Abend selbst um die Mahlzeit zu kümmern.

Fünf Minuten später sah Lily Kattun ihr dabei zu, wie sie über den Hof ging und den Weg nach Wasserau einschlug. Sie schüttelte den Kopf.

Gutes Mädchen, dachte sie. Und sie ist eine feine Hebamme. Aber sie nimmt sich die Dinge zu sehr zu Herzen. Was wird passieren, wenn sie ihre erste Mutter bei einer Geburt verliert?

Sie seufzte, wandte dem Fenster den Rücken und fing an, den Tisch zu decken.

******

November 1417

„Ich habe ihr gesagt, sie muss nicht noch mehr Kinder kriegen.“

Die Stimme von Timm Dornbusch war leblos und monoton. Er saß am Tisch in der Küche, dunkle Ringe unter den Augen, die Hände schlaff im Schoß.

„Ich hab ihr gesagt, wir haben doch schon Margerite und Primula, ich bin’s zufrieden. Aber sie wollte unbedingt noch mehr, und sie wollte einen Jungen.“

„Es tut mir so leid, Timm.“

Lily stand in der Tür zum Nebenzimmer; sie hatte die beiden kleinen Mädchen beruhigt, die von dem hektischen Hin- und Her im Smial aufgewacht waren, von der panischen, schrillen Stimme ihrer Großmutter und vom Weinen ihres Vaters. Jetzt schliefen sie wieder; Lily hatte ihnen eine der Geschichten erzählt, die sie sonst ihren Brüdern vorlas und ihnen ein Schlaflied vorgesungen, bis ihnen die Augen wieder zufielen. Gut, dachte Lily, so bleibt es ihnen noch ein paar Stunden erspart.

„Möchtest du zu Merle? Ich habe sie gewaschen und hergerichtet, und das Kind auch. Sie sehen beide ganz friedlich aus.“

Die Worte fühlten sich in ihrem Mund an wie Asche. So hätte es nicht enden sollen. Der Smial sollte jetzt summen von freudiger Aufregung. Sie hätte Timm Dornenzweig seinen Sohn in den Arm legen sollen, warm, zappelnd und krebsrot von empörtem Gebrüll. Statt dessen ruhte er jetzt weiß und still in den Armen seiner Mutter; Lily hatte das Hobbitbaby sanft so zurechtgelegt, als würde es sich gegen Merles Brust schmiegen.

Merle.

Merle hatte die ganze Nacht hindurch gekämpft, und sie hatte verloren, ebenso wie Lily, die sich stundenlang bemüht hatte, die Freundin und ihr drittes Kind zu retten. Zuletzt hatte sie wenigstens noch Merle retten wollen, aber auch das war ihr nicht gelungen. So hätte es nicht enden sollen.

„Willst du dich lieber ein bisschen hinlegen, Timm?“ fragte sie behutsam. „Ich kann hier bleiben und später dem Sargmacher Bescheid geben. Wäre dir das lieber?“

Er hob den Kopf und sah sie an, und angesichts der abgrundtiefen Pein in seinen Augen krampfte sich ihr das Herz zusammen. Plötzlich hatte sie das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen.

„Es tut mir so leid.“ sagte sie wieder. „Vielleicht hätte ich...“ Sie hielt inne. „Vielleicht, wenn das Baby so klein gewesen wäre wie Margerite und Primula...“

Er hob die Hand.

„Gar nichts hättest du tun können, Lily.“ sagte er, und trotz seines hoffnungslosen Elends klang seine Stimme sehr bestimmt. „Du hast sie doch gewarnt. Du hast ihr gesagt, sie soll es bleiben lassen.“ Ein schwaches Lächeln hob seine Mundwinkel. „Sie hat immer versucht, ihren Kopf durchzusetzen.“

Er hatte Recht. Merle hatte immer bekommen, was sie haben wollte, und Lily hatte sie dafür bewundert. Als sie sich in den mehr oder weniger mittellosen Timm Dornbusch verliebte und beschloss, seine Frau zu werden, hatten ihre Eltern sich fügen müssen; sämtliche Versuche, sie umzustimmen, waren fehlgeschlagen. Als ihr Vater gedroht hatte, ihr die Mitgift zu verweigern, hatte sie bloß gelacht. Und während sie sich noch mit ihnen stritt, bestickte Lily bereits ihr Brautmieder mit Teerosen und Efeublättern. Schließlich hatte Vater Hornbläser klein beigegeben, Merle hatte geheiratet und binnen eines Jahres kam Klein-Margerite zur Welt. Den Grübchen und der zahnlosen Niedlichkeit ihrer ersten Enkeltochter waren die alten Hornbläsers nicht gewachsen, und bald hatten sie sich auch mit dem ungeliebten Schwiegersohn ausgesöhnt.

„Sie hat gesagt, sie fühlt sich nicht wie eine vollständige Frau, wenn sie nicht richtig mit mir zusammen sein kann.“ murmelte Timm. „Es war nicht dein Fehler. Sie hat mir mal erzählt, was du alles zu ihr gesagt hast, bevor du wusstest, dass sie wieder schwanger ist....“ Er schüttelte leicht den Kopf. „Ich hab mich immer gewundert, woher du das alles weißt, wo du doch noch gar keinen Mann genommen hast.“

„Ich habe auch noch kein Kind gekriegt, aber ich weiß trotzdem, wie sie gezeugt und geboren werden.“ sagte Lily sanft, und sie war froh, dass Timm ihr Gesicht in der schwach erleuchteten Küche nicht allzu deutlich sehen konnte. Sie hatte sich eine ganze Weile Sorgen gemacht, ob sie sich wohl um Kopf und Kragen geredet hatte. Aber Merle hatte nie gefragt, und was immer sie auch für Schlüsse gezogen haben mochte, Lily würde es jetzt nicht mehr erfahren.

„Kannst du übermorgen dabei sein, wenn wir... wenn wir sie beerdigen?“ Timms Stimme schnitt durch ihre Gedanken. „Ich glaube, es wäre gut für die Mädchen.“

„Sicher, Timm.“ Lily sah, wie er sich hoch stemmte und endlich aufstand; er wandte sich von ihr ab und ging mit gebeugten Schultern auf die Tür zu, hinter der seine Frau und sein jüngstes Kind nun ganz anders auf ihn warteten, als er noch einen Tag zuvor geglaubt und gehofft hatte. Die Hand auf der Türklinke, drehte er sich noch einmal zu ihr um.

„Geh heim. Lily.“ sagte er leise. „Ich danke dir für all deine Mühe.“

*****

Sie trat aus dem Smial, schloss die Tür sorgfältig hinter sich und sog die kalte, feuchte Nachtluft tief in ihre Lungen, dankbar für den Geruch nach verrottetem Laub und nasser Erde. Unwillkürlich hob sie die Hände und schnupperte daran; sie hatte sich gründlich gewaschen, aber noch immer spürte sie den warmen, metallischen Hauch von Blut. Merles Blut.

Hilf mir, Lily. Lass mich nicht sterben.

Die keuchende, verzweifelte Stimme ihrer Freundin, Merles Finger, die sich schmerzhaft bei jeder Wehe in ihren Arm gruben.

Hilf mir, Lily.

Die Bilder überfluteten sie mit unwiderstehlicher, verstörender Gewalt. Sie eilte den Weg hinunter, die Tasche gegen die Brust gepresst, und sie wurde erst langsamer, als die Wegbiegung vor ihr lag. Fünf Minuten auf der linken Seite die Hecke entlang und sie würde zu Hause sein.

Sie blieb stehen, das Gesicht ausdruckslos, den Körper angespannt. Dann setzte sie sich wieder in Bewegung, aber sie nahm nicht die Abzweigung, die zum Stolzfuß-Smial führte. Sie ging den Berg hinauf und um den Bühl herum, geradewegs durch das Gartentor mit den Beeten, die Sam Gamdschie schon sorgsam für den Winter abgedeckt hatte, geradewegs zu der grünen Tür.

Das war verrückt. Das Fenster war dunkel, die Lampe nicht angezündet. Sie hatte nichts in Beutelsend verloren, nicht unangekündigt, nicht mitten in der Nacht. Sie hatte kein Recht, ihn zu wecken.

Ihr Körper hörte nicht auf die mutlose Stimme der Vernunft. Es war, als würde sie sich selbst dabei zuschauen, wie sie den Türklopfer betätigte... zweimal, dreimal, viermal.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sich im Smial etwas regte. Leise Schritte waren zu hören, und Kerzenlicht huschte an der runden Fensterscheibe der Eingangshalle vorbei. Dann wurde von innen der Riegel zurückgeschoben und die Tür öffnete sich.

Frodo stand vor ihr, in Hose und halb aufgeknöpftem Hemd, einen Kerzenleuchter in der Hand.

„Lily!“ Er klang überrascht, aber nicht verärgert.

„Es tut mir leid.“ Ihre Stimme war leise und die Worte kamen stockend heraus. „Ich wollte dich nicht wecken. Ich... ich wollte eigentlich nicht einmal kommen.“

„Ich habe noch nicht geschlafen.“ sagte er ruhig. Seine Augen verengten sich und er runzelte die Stirn, als er ihr blasses, starres Gesicht bemerkte. „Ist etwas passiert, Lily? Etwas mit deinem Vater?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Merle.“ sagte sie tonlos. „Ich war bei Merle.“

„Merle Dornbusch?“ Er machte einen Schritt nach vorne und berührte ihre Hand; die Finger waren eiskalt. „Tom war vor zwei Tagen hier, mit einem Korb voller Eier. Sam hat mir erzählt, es sei bald soweit.“

„Merle ist tot.“ Sie schloss die Augen, als die Bilder sie erneut überfluteten. Sie hatte schon mehrmals geholfen, Leichen zu waschen und für die Beerdigung herzurichten, aber nichts hatte sie auf die schreckliche Aufgabe vorbereitet, eine Freundin und ihr totes Kind für den Sarg vorzubereiten. Merles verzerrtes Gesicht, das sich erst im Tod entspannte... die schweren, leblosen Glieder unter ihren Händen, als sie den Körper wusch... der winzige Leichnam des Säuglings. „Merle ist tot und das Baby auch.“

„Oh nein.“ Die tiefe Bestürzung in seiner Stimme war Balsam und Anklage, beides zugleich. „Oh nein... das ist furchtbar.“

„Ich konnte ihr nicht helfen.“ flüsterte sie. „Ich habe es einfach nicht geschafft.“

Frodo legte einen Arm um sie und zog sie durch die Tür hinein in den Smial. Es war trocken und warm, im Kamin glosten noch die Rest eines Feuers. Er nahm ihr die Tasche ab und stellte sie auf einen Stuhl; Lily stand mit hängenden Armen und sah ihm zu, wie er die Tür verriegelte. Er drehte sich wieder zu ihr um, öffnete ihren Mantel, schob ihn über ihre Schultern hinunter und warf ihn beiseite. Dann zog er sie an sich, hielt sie fest und strich ihr das Haar aus dem Gesicht; sie stieß einen schaudernden Seufzer aus und ließ ihre Stirn gegen seine Schulter sinken.

„Ganz ruhig, Lily.“ flüsterte er an ihrer Wange. „Ganz ruhig. Ich bin bei dir.“

*****

Er erwachte etwa drei Stunden später; draußen war der Himmel noch tiefschwarz. Lily lag neben ihm in seinem Bett; er betrachtete ihr blasses Gesicht, froh darüber, dass es ihm gelungen war, sie zum Einschlafen zu bringen.

So wie heute Nacht hatte er sie noch nie erlebt; sie war fast immer beherrscht und fröhlich, und unter den vielen Dingen, die er an ihr schätzte, waren ihr Humor und ihre unerschütterliche Zuversicht nicht die geringsten. Sie so gebrochen und verzweifelt zu sehen, erschütterte ihn; gleichzeitig war er bewegt, dass sie zu ihm gekommen war, um Trost zu suchen.

Er war sich wohl bewusst, wie die Dinge bei ihr zu Hause standen; dass sie es war, die sich hauptsächlich um den verkrüppelten Vater kümmerte, dass Viola Stolzfuß die Mutterpflichten für die beiden kleinen Jungen mehr oder weniger ihrer Tochter aufbürdete und dass Lily durch den Verkauf ihrer Stickarbeiten auf dem Markt und durch ihre Hebammendienste einen unangemessen hohen Anteil daran hatte, die Familie zu versorgen. Je länger ihre Affäre dauerte, desto häufiger gelüstete es ihn, Lilys Mutter den Kopf zurechtzusetzen... aber er wusste wohl, dass er nicht das Recht dazu hatte. Eine geheime Liebschaft war kaum eine gute Voraussetzung dafür, die Nase hoch zu tragen. Außerdem hatte er den nagenden Verdacht, dass er Lily auf seine Weise ebenso sehr ausnutzte wie ihre Mutter es tat.

Er ließ den Blick wieder auf ihrem Gesicht ruhen. Sie war wunderschön, selbst jetzt, mit den müden Linien der Erschöpfung und der Trauer, die auch der tiefe Schlaf nicht ganz auslöschen konnte. Und sie war stolz, denn sie hatte ihn, so lang diese seltsame verzauberte Sache dauerte, noch nie um etwas gebeten – es sei denn, dass er sie die Elbenschrift und die Elbensprache lehrte (so gut er es vermochte, und er war nicht halb so versiert in Sindarin wie Bilbo es gewesen war). Die Wärme, die Zärtlichkeit und die überwältigende Leidenschaft waren von ihr gekommen, und er hatte sie schließlich erwidert, erst zögernd, dann freudig und voller Staunen, und immer wieder überrascht von ihrer Großzügigkeit.

„Lily...“ murmelte er, und er streichelte sanft über ihre Wange. Sie regte sich, seufzte und schlug die Augen auf.

„Ist es Morgen?“ Sie hob den Kopf. „Muss ich gehen?“

„Nein...“ Sein Daumen fuhr zart über ihre Unterlippe. „Ich wollte dich nicht wecken, meine Kastanie. Schlaf noch ein bisschen...“

Aber er konnte sehen, dass die Erinnerungen zu ihr zurückkamen; der Schmerz machte ihr Gesicht einmal mehr bleich und unruhig. Er zog sich dicht an sich heran und sie erwiderte die Umarmung. Er konnte ihren Mund an seinem Hals spüren und hörte, dass sie etwas wisperte, aber er verstand es nicht. Aber ihre Arme schlossen sich noch fester um ihn und sie zitterte... genau wie vorhin, als er sie in die Küche geführt und auf einen Stuhl gedrückt hatte, damit er ihr einen Becher heißen Wein mit Zimt, Nelken und Honig machen konnte, bevor er sie zu Bett brachte.

„Was sagst du?“

Sie streckte sich und wandte den Kopf, damit sie sein Ohr erreichen konnte.

„Hilf mir...“ flüsterte sie. „ Zeig mir. dass ich wirklich bin. Zeig mir, dass ich noch lebe.“

Und dann küsste sie ihn. Ihre Lippen waren auf seinem Mund, heiß und drängend, und in seiner Verblüffung reagierte er zuerst nicht; aber zu unwiderstehlich war ihr plötzlicher Angriff, zu erregend das Gefühl ihrer Hände, die sich unter sein Hemd schoben und seine bloße Haut für sich eroberten. Ihre Zunge schlüpfte in seinen Mund und berührte die seine, zog sich zurück und kam wieder, wie in einem hungrigen Tanz.

„Lily...“ murmelte er. Ihr Atem strich über seine Wange, dann fassten ihre Zähne zu und bissen zart in sein Ohrläppchen. Ihre Finger streichelten seine Brust, glitten tiefer und kamen mit sanftem Druck auf seinem Bauch zur Ruhe. Unwillkürlich glitten seine Hände in den weiten Ausschnitt des Nachthemdes, das er ihr geliehen hatte, und dann umschlossen sie ihre vollen runden Brüste und er spürte, wie die vertrauten Knospen, die er schon so oft liebkost hatte, sich an seinen Handflächen rieben und hart wurden.

„Lily...“ Er hörte sich selbst leise aufstöhnen und ihre Stimme war ein Echo seiner jähen Lust. Sie löste sich aus seinen Armen, richtete sich auf, bis sie auf der Matratze kniete, dann beugte sie sich über ihn und knöpfte seine Beinkleider auf. Er blieb auf dem Rücken liegen, den eigenen Atem überlaut in den Ohren. Sie streifte die Hosen über seine Schenkel herunter und warf sie beiseite, dann zog sie sich mit einer schnellen Bewegung das Nachthemd über den Kopf. Er sah im schwachen goldenen Licht der einzigen Kerze flüchtig ihre blasse Haut und ihre weichen Kurven, dann ließ sie sich wieder neben ihn sinken und presste sich mit ihrer ganzen Länge gegen ihn.

Er küsste sie wieder und liebkoste ihren nackten Rücken und ihre Hinterbacken; seine Hand fand ihren Weg dazwischen, sie berührte glattes Fleisch und schlüpfrige Hitze. Er begann ihren empfindlichsten Punkt zu streicheln; er spürte, wie ihr Körper erzitterte und ihre Stimme in einem langen, leisen Stöhnen brach, als er mit den Fingerspitzen eindrang und den kleinen Knoten mit seinem Daumen umkreiste.Sie bog sich seiner Hand entgegen, den Mund zu einem lautlosen Schrei geöffnet,... dann zog sie sich zu seiner Überraschung zurück, ungeduldig den Kopf schüttelnd. Das nächste, was er spürte, war ihr Körper, der sich rasch über den seinen schob.

Wieder richtete sie sich auf; sie öffnete die Beine und der Atem stockte ihm in der Kehle, als ihre Hand seine Härte umfasste und führte, bis sie ihn in sich aufnehmen konnte. Einen Moment lang verhielt sie völlig reglos über ihm, dann senkte sich ihr Körper auf den seinen nieder, bis sie ihn ganz umschloss. Ein kleiner, schmerzvoller Laut, beinahe ein Schluchzen, kam aus ihrem Mund, dann legte sie die flachen Hände auf seine Brust, hob sich wieder an und fand in einen langsamen, regelmäßigen Rhythmus hinein. Das kleine Schluchzen blieb ihr einziger Laut. Sie stöhnte nicht mehr und sie hielt die Augen geschlossen, während sie sich über ihm bewegte und die starken Muskeln in ihrem Leib sich immer fester um ihn zusammenzogen. Alles, was er hörte, war das Knarren des Bettrahmens, ihr schwerer Atem und das unglaublich erregende Geräusch ihrer aufeinanderprallenden Körper. Als sie ihr Tempo allmählich steigerte, spürte er, wie seine Hüften ihr entgegendrängten und umklammerte ihre Oberarme. Die Spannung in ihm wuchs, qualvoll und köstlich, und er biss die Zähne zusammen. Er hielt den heftigen Drang, sich zu bewegen, im Zaum und hütete sich, auch nur den kleinsten Laut der Lust von sich zu geben... als könnte er alles zerstören, wenn er ihre Konzentration zerbrach.

Dann, ganz plötzlich, schauerte sie heftig zusammen und bäumte sich über ihm auf, und ihre Erlösung zog die seine nach sich. Er spürte seinen Höhepunkt unaufhaltsam und machtvoll tief in ihr und rief ihren Namen, und dann sank sie über ihm zusammen und fing an zu weinen. Ihre Tränen tropften auf seinen Hals , während er sie in den Armen wiegte, ihren Rücken streichelte und ihr Trostworte ins Ohr flüsterte.

******

Zwei Tage später wurde Merle Dornbusch beerdigt. Lily begleitete den Vater und die Töchter, wie sie es versprochen hatte; sie stand neben der gebeugten Gestalt von Timm Dornbusch und hielt die Hände der kleinen Mädchen, als fast ganz Hobbingen an dem Witwer vorbeizog, um ihm sein Beileid auszusprechen. Merle war sehr beliebt gewesen, und natürlich erschien auch der Herr von Beutelsend, um sein Bedauern auszudrücken.

Frodo versuchte Worte des Trostes zu finden, wo es keinen Trost gab, und während der Sarg in die Erde hinab gelassen wurde, zog er sich ein paar Meter von der Menge zurück und beobachtete das kleine Grüppchen der trauernden Familie. Margerite vergrub ihr Gesicht in Lilys Rock, und die junge Frau streichelte langsam die bebenden Schultern von Timms ältester Tochter; als Primula sah, dass ihre Schwester weinte, fing sie auch an zu schluchzen und Lily hob das kleine Mädchen auf ihre Arme und wiegte sie, bis der lockige Kopf endlich auf ihrer Schulter ruhte und Primula einschlief. Erschüttert und betrübt wandte Frodo sich ab; er verließ den Friedhof und wanderte im grauen Licht des Novembernachmittages zurück nach Beutelsend.

Im Frieden seines Studierzimmers entschied er, dass dies eine der seltenen Gelegenheiten für einen allein getrunkenen Branntwein war; er goss die bernsteingoldene Flüssigkeit in ein Glas und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Vor seinem inneren Auge sah er noch immer die aufrechte Gestalt der Frau, die vor nur zwei Nächten verzweifelt in seinen Armen geweint hatte. Er bewunderte ihre Beherrschung, ihren stillen Mut und ihre Fähigkeit, schlichten Trost zu spenden.

Er seufzte, nahm einen großen Schluck Branntwein und spürte, wie der starke Alkohol seine Kehle hinunter rann und ein Feuer in seinem Magen entfachte.

Wen immer sie eines Tages zum Ehemann nimmt, der wird ein sehr glücklicher und gesegneter Hobbit sein.

Zum ersten Mal an diesem Tag spürte er, wie sich seine Lebensgeister hoben... und jetzt hatte die Wärme, die sich in seinem Körper ausbreitete, nichts mit dem Branntwein in seinem Glas zu tun.

Er drehte sich um und nahm ein zusammengefaltetes Tuch aus dem Regal hinter sich. Es war das Schultertuch mit den Kastanien... Lily hatte es vergessen, als sie nach jener Nacht der Verzweiflung nach Hause ging. Er lächelte schwach, wandte den Kopf und atmete den frischen, süßen Duft ein, der aus dem Stoff aufstieg.

Ein glücklicher und gesegneter Hobbit, in der Tat.


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