Bevor ich schlafen gehe
von Cúthalion


9. Kapitel
Wintersonnenwende

Frodo Beutlin hatte nur wenige Träume, die regelmäßig wiederkehrten, und es gab einen, den er im Lauf der Jahre fürchten gelernt hatte. Er kam ziemlich selten, aber wenn er kam, dann verfolgte er ihn und sorgte dafür, dass er sich tagelang elend fühlte.

In diesem Traum war er wieder ein kleiner Junge; er rannte fort von den vielen Fenstern des Brandyschlosses, die wie gläserne Augen über den Fluss blickten und die blassen Strahlen der frühen Morgensonne wiederspiegelten. Er rannte durch feuchtes Gras und folgte den lauten, aufgeregten Stimmen einer großen Hobbit-Menge, die er in der Entfernung sehen konnte. Sie versperrte den Blick auf die Trauerweiden und das schwankende Schilf am Flussufer.

Als er näher kam, konnte er sehen, dass die Menge sich um etwas auf der Erde geschart hatte, aber die Leute standen zu eng beisammen, um ihm einen richtigen Überblick zu erlauben. Endlich zupfte er am Ärmel eines rotblonden Hobbits in den mittleren Jahren, den er aus den Ponyställen kannte. Der drehte sich herum, schaute auf ihn hinunter - und erbleichte.

„Frodo...! Was machst du denn hier, Junge?“ fragte er mit einer seltsam gedämpften, zittrigen Stimme. „Du solltest nicht hier sein...“

„Wieso?“ hörte Frodo sich selbst fragen. „Was ist denn hier passiert? Was starrt Ihr denn da alle an?“ Und er schubste sich seinen Weg zwischen den Beinen vor ihm hindurch, indem er seine Ellenbogen benutzte und auf bepelzte Füße trat, erfüllt von einer plötzlichen, kalten Panik bei der Erinnerung an den Schrecken und das Mitleid in den Augen jenes Hobbits, als der ihn erkannt hatte. Die Stimmen über seinem Kopf wurden lauter und schriller, und Hände versuchten, ihn zu packen und zurückzuhalten. Aber er kämpfte sich frei, stolperte vorwärts... und stand mit einemmal in einem leeren Kreis, umgeben von leisem, nervösen Gemurmel, das langsam zu einer dumpfen Stille verebbte.

Eine schwere Decke war über etwas Formloses auf dem Boden geworfen worden. Hinter dieser Decke konnte er eine breite Spur sehen, die zurück zum Fluss führte... was immer dort lag, war offenbar über die nasse Erde herangeschleift worden, um hier zu enden, verhüllt und vor seinem Blick verborgen.

Aber nicht vollständig. Er sah, was unter der Decke hervorschaute, und das nächste Geräusch, das die Totenstille durchbrach, war der spitze Aufschrei seiner eigenen Stimme, durchdringend und untröstlich.

Er schoss in seinem Bett hoch und schnappte verzweifelt nach Luft. Sein Herzschlag war ein lautes Donnern in seinen Ohren und machte ihn taub für jedes andere Geräusch in dem stillen, kalten Raum; das Feuer war fast ausgegangen. Er zog die Beine dicht an die Brust, das Kinn auf den Knien, die Augen geschlossen. Er konnte den kalten Schweiß fühlen, nicht nur auf seiner Stirn, sondern auf seinem ganzen Körper, und er schauderte.

„Frodo?“

Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder; es war ihm unmöglich zu sprechen. Langsam wandte er den Kopf; er konnte nichts sehen, aber er spürte ihre Gegenwart in der Dunkelheit und dann ihre warme Hand, die seinen Rücken hinauf glitt und auf seiner Schulter zur Ruhe kam. Er schüttelte den Kopf.

„Es war nur ein Traum, Liebes. Nur... ein Traum.“

Der Bettrahmen knarrte, als sie sich bewegte, und dann vergoldete das Licht einer einzelnen Kerze ihr Gesicht und entzündete kleine, rote Funken in ihren langen zerzausten Locken.

„Du solltest mir davon erzählen.“ sagte sie ruhig. „Mein Vater sagt immer, dass man über böse Träume bei Tageslicht sprechen muss, oder wenigstens vor einem Kaminfeuer, um die Furcht zu vertreiben.“

„Er ist ein weiser Hobbit.“ bemerkte Frodo; er stellte fest, dass die kleine Kerzenflamme dafür sorgte, dass er sich schon ein klein wenig besser fühlte. Lily schlüpfte aus dem Bett und ging hinüber zum Kamin. Sie räumte die Asche weg, legte kleine Apfelholzscheite auf den sauberen Rost und nahm die Zunderbüchse von Kaminsims, um ein warmes, knisterndes Feuer anzufachen. Sie drehte sich um und er sah diie Silhouette ihres nackten Körpers gegen die roten und gelben Flammen. Sie glitt hinter ihm unter die Decken, öffnete die Arme und zog ihn dicht an sich. Er ließ sich gegen sie sinken, ihre Schulter ein Kissen für seinen Kopf, ihre Brüste weich und tröstend an seinem Rücken.

„Worum ging es in deinem Traum?“ fragte sie.

„Um meine Eltern.“ erwiderte er und schloss die Augen; das machte es irgendwie leichter, über den alten Schmerz zu reden. „Ich war zwölf Jahre alt, als sie eines Nachts beschlossen, auf dem Brandywein zu rudern. Niemand weiß ganz genau, was passiert ist, aber das Boot kenterte und schleuderte sie ins Wasser. Es war gerade erst Frühling... die Strömung war stark und kalt, und sie riss sie mit sich fort. Und wäre da nicht ein umgestürzter Baum gewesen, der sie davon abhielt, weiter zu treiben, dann hätte man sie wahrscheinlich nie gefunden.“

Frodo hielt inne und wartete instinktiv auf eine Bemerkung, aber Lily sagte nichts. Sie änderte leicht ihre Haltung und er spürte ihre Wange an seiner und ihren Atem, warm und süß auf seiner Haut.

„An diesem Morgen wachte ich auf und stellte fest, dass ich in unseren Räumen im Brandyschloss alleine war. Ich konnte meine Eltern nicht finden, also zog ich mich an und ging hinaus, um sie zu suchen. Die Gänge waren leer, die vielen Zimmer und Hallen waren ganz still... keine Köche, keine Diener, es war, als hätten sie sich allesamt in Luft aufgelöst. Kein Wunder, dass ich niemanden sah... sie waren alle draußen, unten am Flussufer.“

Jetzt öffnete er die Augen; er beschirmte sich selbst von den Bildern in seinem Geist, die ihn verfolgten und suchte Trost im Anblick von Lilys ruhigem, aufmerksamen Gesicht und in der Berührung ihrer Hände... verlässliche Wärme mitten in der eisigen Kälte seiner Erinnerungen. Sie küsste ihn.

„Was passierte dann?“

„Sie hatten meine Eltern aus dem Wasser gezogen und eine große Volksmenge stand dicht am Fluss um ihre Leichen herum. Ich rannte den Hügel hinunter und sie versuchten, mich davon abzuhalten, dass ich sie sah, aber ich drängelte mich nach vorne, bis ich die Decke auf der Erde erreicht hatte, die sie bedeckte. Ich... ich sah, dass etwas unter dem schwarzen Tuch hervorschaute.“

Er holte tief Atem.

„Meine Mutter besaß zwei wertvolle Schmuckstücke. Ein Halsband aus Gold und Bernstein, und einen dazu passenden Ring... eine Blüte, aus durchsichtigen Bernsteintropfen geformt. Ich hätte ihn überall wieder erkannt. Und sie trug ihn immer noch, als ich nicht mehr von ihr sehen konnte als ihre Hand.“

Ein tiefer Seufzer durchschauderte seinen Körper, gefährlich nahe an einem Schluchzen, und ihre Arme schlossen sich fester um ihn.

„Ich erinnere mich daran, dass ich schrie; jemand hob mich hoch in dem verspäteten Versuch, das Unvermeidliche zu verhindern und trug mich zurück zum Schloss. Ich blieb fast zwei Tage in meinem Zimmer, starrte an die Wand und weigerte mich, zu sprechen oder etwas zu essen. Dann traf Bilbo ein; Tante Esmie hatte ihm einen Boten geschickt und er kam sofort. Als er den Raum betrat und ich sah, dass er es war, rutschte ich von meinem Stuhl und stolperte in seine offenen Arme, und wir brachen beide in Tränen aus. Es war das allererste Mal, dass ich ihn weinen sah.“

Er verfiel in Schweigen und entspannte sich in ihrer Umarmung, jetzt, da das Schlimmste berichtet war. Er hörte das leise, tröstliche Knistern des Feuers, dankbar und erstaunlich erleichtert... als hätte jemand einen Dorn aus einer alten, entzündeten Wunde gezogen. Jetzt wird es endlich heilen. dachte er schläfrig, und ihre nächste Frage entging ihm beinahe.

„Warum hat er dich nicht gleich hierher gebracht?”

Frodo zuckte die Achseln.

„Ich nehme an, ich war damals noch zu klein, und er hatte Angst, mit einem so jungen Burschen nicht zurechtzukommen. Ich blieb noch neun Jahre in Bockland, bevor er sich entschloss, mich als seinen Erben zu adoptieren. Und ich bin ihm nicht etwa gefolgt, weil ich mich dort nicht wohl gefühlt habe.”

Er zögerte; er hatte noch nie zuvor mit irgend jemandem darüber gesprochen – nicht einmal mit Merry (der sich ziemlich verraten und verkauft vorkam, als sein großer, angebeteter Vetter fort ging, und der beinahe fünf Jahre brauchte, um sich mit der Tatsache zu versöhnen, dass er nicht wiederkam).

„Ich wollte einen Ort finden, den ich wirklich mein Zuhause nennen konnte, einen Ort, wo ich hingehörte. Und obwohl all meine Tanten und Onkel, meine Vettern und Basen und all die Leute im Brandyschloss gut zu mir waren, obwohl ich wusste, dass ich ihnen wirklich etwas bedeutete... mit Bilbo war es etwas anderes.“

Er fing Lilys Hand ein und küsste die Handfläche.

„Ich weiß, er hatte immer diese Sehnsucht nach dem Abenteuer im Blut,“ sagte er leise. „Nach all diesen Jahren langsam zurückgewonnener Respektabilität, nachdem er der Herr von Beutelsend gewesen war, seine Bücher geführt, Bedürftige unterstützt, Feste besucht und in der Stille seines Studierzimmers Manuskripte übersetzt hatte, wollte ein Teil von ihm immer noch neue Straßen finden, neue Reisegenossen, neue Fahrten. Ich bin es gewesen, der ihn hier verwurzelt hielt. Er blieb im Auenland, weil er mich liebte.“

Er wandte den Kopf und ihre Lippen berührten sich; Frodo konnte den Alten Wingert auf Lily Mund schmecken, einen Hauch der Rosmarinkartoffeln vom Essen am Abend zuvor und ihr ganz eigenes Aroma, zur gleichen Zeit würzig und süß. Und plötzlich erinnerte er sich mit tiefer Zufriedenheit daran, dass sie heute Nacht nicht würde heimgehen müssen... kein leises Rascheln von Kleidung in der Stunde vor der Morgendämmerung, kein hastiger Kuss auf seiner Stirn, bevor er hörte, wie die Tür sich hinter ihr schloss und kein Bett, das sich erstaunlich leer anfühlte, nachdem sie fort war. Ihre Eltern würden morgen Abend zurückkommen... sie hatten noch Zeit, beisammen zu sein, diese friedliche Nacht zu beenden, den neuen Tag anzufangen. Sam würde heute morgen nicht kommen. Er wollte den alten Apfelbaum im Garten vom Beutelhaldenweg Nr. 3 beschneiden, bevor der erste Schnee kam (wenn es dieses Jahr denn welchen gab) und die Erdbeerbeete des Ohm abdecken.

Langsam wurde ihm bewusst, dass Lily sang... mit einer sehr leisen, dunklen Stimme.

Der Winterhimmel gibt uns Freud,
So hell dem Auge, blau und weit
Der Sonnenaufgang, strahlend rein
Bringt Wärme in den Frost hinein.

Seine Finger glitten über ihre Hände und hielten sie auf seiner Brust fest.

Und wenn die Sonne schlafen geht
In ihrem feurig roten Bett
Dann hält der Mond die sanfte Wacht
Und führt uns freundlich durch die Nacht.*

Er fühlte sich geborgen in ihrem Armen, geborgen und vollständig, und die schlichte Melodie lullte ihn in einen traumlosen Schlaf.

*****

Sam legte die letzten paar Tannenzweige auf das letzte Erdbeerbeet und dehnte den Rücken. Das war schneller gegangen, als er erwartet hatte; der Baum streckte seine beschnittenen Zweige in den blassblauen Himmel, das abgesägte Holz war sauber im kleinen Schuppen aufgestapelt und die Decke aus Tannennadeln würde den Frost davon abhalten, bei den geliebten Erdbeerbeeten seines Ohm Schaden anzurichten.

Besagter Ohm war ziemlich übler Laune; das feuchtkalte Wetter der letzten Wochen war in seine alten, angegriffenen Gelenke gesickert. Sie waren rot geschwollen und empfindlich, und ein Großteil seines finsteren Gemurmels und seiner essigsauren Bemerkungen waren seinem schlechten Befinden zuzuschreiben... aber nach einem langen Abend und einem stillen, unbehaglichen Frühstück mit Hamfast Gamdschie war Sam froh, dass er draußen im Garten und außer Schussweite war.

Es war noch eine Stunde bis zum Elf-Uhr-Imbiss, und er entschloss sich spontan, den Bühl hinaufzugehen; er konnte seine Nerven damit beruhigen, dass er die Gartenwerkzeuge im Schuppen sortierte (er war erst halb damit fertig gewesen, als er gestern Abend gehen musste), und er konnte nach einem Krug von Herrn Frodos Bier für seinen Vater fragen. Das Gebräu im Efeubusch hatte den Gebrechen des Ohm in letzter Zeit ein unangenehmes Sodbrennen hinzugefügt, was zornige Verwünschungen hervorbrachte wie: „Ein fauler Wirt macht lausiges Bier“. Der Gerstensaft von Herrn Frodo kam vom Kattun-Hof, und er war milde, nussig und köstlich. Vielleicht würden eine Halbe oder zwei davon viel dazu tun, den alten Hobbit aufzuheitern.

Sam öffnete die Tür, rief: „Ich bin oben auf dem Bühl, Ohm!“ und wurde mit einer gegrummelten Antwort belohnt. Er verließ den Garten und wanderte um die Biegung des Beutelhaldenweges.

Zehn Minuten später hatte er Beutelsend erreicht. Die Vorhänge waren zugezogen. Er schüttelte den Kopf und lächelte vor sich hin. „Zu viel Tinte in zu vielen Büchern macht zu viele kurze Nächte...“ murmelte er, und sein Lächeln wurde noch breiter, als er merkte, dass er nicht anders klang als der Ohm. Er öffnete den Schuppen im hinteren Garten mit dem kleinen Schlüssel, den er immer in der Hosentasche trug, nahm den Putzlumpen, den er auf der kleinen Arbeitsplatte liegen gelassen hatte und fing an, die Erde vom Blatt der größten Schaufel zu reiben. Er würde wahrscheinlich nicht länger als eine halbe Stunde für die Arbeit im Schuppen brauchen, und dann würde er die Säge aus ihrer Halterung holen und den Birnbaum in Angriff nehmen.

Sam fing an, stimmlos zu pfeifen und schwelgte in der stillen Vorstellung einer Tasse Tee in der warmen Küche von Beutelsend... Herr Frodo war nicht der größte Koch unter den Hobbits, aber seine Mandelkuchen waren ausgezeichnet. Vielleicht zum Elf-Uhr-Imbiss... Mandelkuchen mit Butter, die auf der warmen Kruste schmolz, und ein Löffel voll Kirschmarmelade... und eine der alten Geschichten, die Herr Frodo noch von Herrn Bilbo kannte...

Er rieb noch ein bisschen kräftiger an dem Schaufelblatt herum und lächelte.

******

„Ich muss bald gehen.“

Lily stand von ihrem Stuhl auf; Frodo sah zu, wie sie die Teller und Becher stapelte und zu der tiefen Steinspüle hinübertrug. Ihre Bewegungen waren rasch und geübt. Er konnte sehen, dass sie daran gewöhnt war, einen Haushalt zu führen, und plötzlich schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass dies die erste Frau seit Belladonna Beutlin war, die sich mit dem Herrn von Beutelsend das Frühstück teilte. Das letzte Paar in dieser Küche waren Bilbos Eltern gewesen.

Aber er und Lily waren kein Paar. Nicht wirklich.

Sie hatte bereits den Kessel unter der Pumpe gefüllt und über das Feuer gehängt. Jetzt dampfte das Wasser; sie verteilte eine Handvoll weicher Seife über Tellern, Besteck und Bechern und goss den Inhalt des Kessels in die Spüle. Frodo trat hinter sie und legte ihr die Hände auf die Schultern.

„Lass mich das machen.“ sagte er sanft. „Du bist nicht mein Küchenmädchen.“

Sie drehte sich um; ihre Bernsteinaugen waren plötzlich ernst.

„Natürlich nicht.“ erwiderte sie. „Aber ich habe mit dir gegessen, und ich kann mir denken, dass sogar deine Vettern den Abwasch erledigen, wenn sie hier sind, oder nicht?“

„Das tun sie auch.“ Er grinste. „Unter Protest.“

Sie ließ sich nicht so leicht ablenken.

„Und ich tue das jeden Tag. Wieso stört es dich, wenn ich dir anbiete, es auch hier zu tun?“

„Es stört mich nicht.“ sagte Frodo leichthin. „Aber du tust schon genug, auch ohne Abwasch.“ Er umschloss ihr Gesicht mit beiden Händen. „Es war gut, dich letzte Nacht hier zu haben, Lily. Es hat mir sehr viel bedeutet.“ Er küsste sie auf die Stirn, die Nase und den Mund. „Ich danke dir, meine Kastanie.“

„Es war mir ein Vergnügen, Herr.“ Sie knickste und trat zurück. Er folgte ihr, als sie in die Eingangshalle hinüberging, ihren langen, dunkelblauen Mantel vom Haken nahm und sich hineinwickelte. Er reichte ihr den Korb, den sie am vergangenen Abend mitgebracht hatte.

Sie öffnete die Tür.

„Dein Nachthemd ist sauber zusammengefaltet.“ sagte er. „Du hast es gar nicht gebraucht.“ Er zog sie an sich und küsste sie noch einmal.

„Nein, hab ich nicht.“ Ihr Körper fühlte sich in seinen Armen weich und geschmeidig an. „Du hast mich warm gehalten.“ Sie gab nach und er vertiefte den Kuss für einen weiteren, süßen Augenblick. Nur noch eine Minute... Dies war der hintere Garten, und sie waren allein und außer Sicht.

„Frodo.“ Lily hob ihre Hände und schob ihn sanft von sich. „Ich muss gehen. Jetzt.“ Sie drehte sich um... und dann wurde sie plötzlich steif und hielt den Atem an. Er schaute ihr über die Schulter und fror ein.

Sam stand direkt vor ihnen, kaum zwei Meter weit entfernt. Er hielt die große Säge in der Hand; seine Augen waren so groß wie Untertassen und sein Mund stand in schockiertem Unglauben weit offen.

******

Frodo verbrachte den Rest des Vormittages reichlich unbehaglich hinter seinem Schreibtisch; das Einzige, was er hörte, war das scharfe, regelmäßige Geräusch der Säge von draußen. Er behielt den letzten Anblick von Lily im Kopf, wie sie an Sam vorbei den Gartenweg zum Tor hinunterging, mit geradem Rücken und einem knappen Kopfnicken. Weder er noch Sam sagten irgend etwas, bevor sie das Tor hinter sich geschlossen hatten und verschwunden war. Erst dann hatte Frodo das Gefühl, genug von seiner Fassung zurück gewonnen zu haben, dass er es wagen konnte, zu sprechen.

„Sam?”

„Ja, Herr Frodo?“ Sam hielt den Blick auf den Boden gerichtet, und die Knöchel seiner Hand um den Holzgriff der Säge waren weiß.

„Wenn du fertig bist mit dem was du auch immer vorhast, würdest du dann bitte in mein Studierzimmer kommen? Wir sollten uns unterhalten.“

„Wie du möchtest, Herr.“ Noch immer hob Sam nicht den Kopf. Er drehte ab und verschwand in Richtung des Birnbaums, und ein paar Minuten später fiel der erste Zweig mit einem dumpfen Geräusch auf den feuchten Boden.

Inzwischen hatte Frodo mit grimmiger Entschlossenheit den Abwasch erledigt, sich hinter dem Schreibtisch nieder gelassen und eines seiner Rechnungsbücher geöffnet; er dachte, es wäre leichter, sich auf Zahlen zu konzentrieren anstatt auf irgendwelche elbische Dichtkunst. Er fühlte sich nervös und unruhig; nicht nur deshalb, weil diese Nacht mit Lily auf solche katastrophale Weise geendet hatte, sondern wegen Sams Reaktion.

Er war sich ziemlich sicher, dass Sam sie nicht verraten würde. Der schmerzhafte Knoten in meinem Magen kam nicht von der Furcht vor Entdeckung, sondern von dem Blick in Sams Augen, bevor er sie abwandte und es vermied, ihn noch länger anzuschauen. Dort hatte er keine Verachtung gesehen, sondern quälendes Unverständnis, als seien von einer Sekunde zur anderen Sams Vorstellungen erschüttert worden, und als sei sein Held von einem unsichtbaren Piedestal gestürzt.

Frodo wusste sehr gut, dass er für den Sohn von Hamfast Gamdschie immer ein Gegenstand der Bewunderung gewesen war. Sam war weit mehr als sein Gärtner, weit mehr als ein getreuer, vertrauenswürdiger Diener. Sam war sein Freund, länger als er sich zu erinnern wagte. Er hatte Sams tiefe Ergebenheit und seine offensichtliche Überzeugung, dass er, Frodo, nichts falsch machen konnte, nie in Frage gestellt, Er hegte den stillen Verdacht, dass Sam eine Menge Zeit damit verbrachte, ihn gegen Leute zu verteidigen, die ihn für ebenso seltsam und exzentrisch hielten wie Bilbo es gewesen war. Aber jetzt hatte Frodo Sams unschuldiges Vertrauen verloren, und diese Tatsache war viel beunruhigender, als er es sich je hätte vorstellen können.

Er ließ den Elf-Uhr-Imbiss ausfallen und hatte um die Mittagszeit eine lustlose Mahlzeit aus kaltem Braten, eingelegten Gurken und Brot. Eine halbe Stunde später beendete Sam endlich seine Arbeit und kam aus dem Garten ins Studierzimmer. Er stand mitten im Raum und wusste offensichtlich nicht, was er mit seinen Händen tun sollte. Er hatte keinen Hut bei sich, den er zwischen den Fingern drehen konnte, also steckte er sie in die Hosentaschen.

Endlich räusperte Frodo sich.

„Wie lange bist du heute Morgen im Garten gewesen, Sam?“

„Eine ganze Weile, Herr.“ erwiderte Sam. Er trat unruhig von einem Fuß auf den anderen und sah aus, als wünschte er sich verzweifelt, er wäre ganz woanders. „Lang genug für die Bemerkung mit dem... dem Nachthemd.“

„Und um den Kuss zu sehen.“ sagte Frodo leise.

„Ja... ja, Herr.“ Sam öffnete den Mund und machte ihn wieder zu. Dann straffte er den Rücken und begegnete offen Frodos Blick. „Herr Frodo... wie... wie lange geht das schon? Ich weiß, ich hab kein Recht zu fragen, und das sind die Angelegenheiten eines Edelhobbits und nicht meine.. aber ich kenne Lily, seit sie ein kleines Mädelchen mit aufgeschürften Knien war, und... ich mach mir ein bisschen Sorgen.“

Frodo atmete tief ein.

„Glaub mir Sam, ich habe nicht die Absicht, Lily Schaden zuzufügen.“ sagte er.

„Oh, ganz bestimmt.“ erwiderte der junge Gärtner, sein Blick noch immer forschend und geradeaus. „Aber es ist einfach, ein junges Mädel in Schwierigkeiten zu bringen, auch wenn du das nicht willst... wenn du verstehst was ich meine. Es wäre ein Festessen für die alten Klatschbasen, wenn sie je herausfinden, dass der Herr vom Bühl mit der jungen Hebamme ins Bett geht.“

Frodo fuhr unwillkürlich zusammen, aber er wich Sam Augen nicht aus.

„Du hast Recht... aus diesem Blickwinkel sieht es ziemlich unangenehm aus. Aber...“ Er schaute auf seine gefalteten Hände hinunter. „Es mag dir nicht sehr respektabel vorkommen, aber ob du es glaubst oder nicht, es hat mit einer ganz harmlosen Sache angefangen: mit Elbisch-Unterricht. Lily ist sehr gut. Mittlerweile kann sie Sindarin fließend lesen und schreiben.“ Ein flüchtiges Lächeln spielte um seinen Mund und verschwand wieder. „Sie hat einen offenen, eifrigen Geist; es war eine Freude, ihr etwas beizubringen.“

„Du musst mir das alles nicht erzählen.“ Sams Stimme klang unbehaglich.

„Ich möchte nur, dass du es verstehst.“ sagte Frodo ruhig. „Es hat mit Unterricht angefangen, aber geendet hat es mit etwas – etwas anderem.“

„Ich hab kein Recht, dir diese ganze Sache vorzuhalten, Herr Frodo, das hab ich bestimmt nicht.“ Sam schlug die Augen nieder. „Ich hab mir bloß... Sorgen gemacht.“

Frodo seufzte. „Und das tust du immer noch, oder?“

„Ja.“ Sam nickte langsam. „Das tu ich immer noch.“ Er drehte sich um und ging in Richtung Tür. „Wenn du mich jetzt entschuldigst, Herr... ich werd mal die Zweige vom Birnbaum im Schuppen aufstapeln. Jede Menge feines Feuerholz für diesen Winter. Brennt sehr gut.“

Der junge Gärtner ging mit schnellen Schritten hinaus und ließ den Herrn von Beutelsend zurück; er starrte aus dem runden Fenster, erfüllt von einem seltsamen Schuldgefühl und mit einem bitteren Geschmack im Mund.

******

Drei Tage später öffnete Sam die Tür vom Beutelhaldenweg Nr. 3 und fand einen reichlich unerwarteten Besucher auf der Türschwelle. Es war Lily; ihr kastanienbraunes Haar war zu einer schimmernden Krone aufgesteckt, ihr liebliches Gesicht war undurchdringlich und kühl.

„Ist der Ohm hier?“

„N... nein.“ stotterte Sam völlig verblüfft. „Er ist drüben im Grünen Drachen. Was...“

„Darf ich reinkommen?“

„Na... natürlich.“

Er schloss die Tür und folgte ihr in das kleine Wohnzimmer. Es war Bell Gamdschies Lieblingsraum gewesen, als sie noch lebte, und ihr alter Ohrensessel – ausgeblichenes Dunkelgrün, mit Gänseblümchen bestreut – stand noch immer neben dem Fenster. Als er hereinkam, lag Lilys Hand auf der Armlehne.

„Deine Mutter wollte mir das alte Familienrezept für ihre Apfeltörtchen nicht geben,“ sagte sie mit einem schwachen Lächeln, „es sei denn, ich mache ihr eine Schürze. ,Einen Gefallen um den anderen,’ hat sie gesagt.“

Sam spürte, wie sein Gesicht sich entspannte.

„Ich kenne die Schürze, glaube ich.“ sagte er. „Gelb, mit roten Tulpen am Saum und auf der Tasche, stimmt’s?“

„Ja. Und eine Tulpenblüte war rosa, weil mir der rote Faden ausgegangen ist.“

„Ich erinnere mich sehr gut daran, und Mama liebte sie... es war ihre letzte Schürze, bevor sie krank wurde.“ Sams Stimme war sanft. Aber bevor er noch mehr sagen konnte, sah er, wie Lilys Gesicht, das sich in der Erinnerung kurz erwärmt hatte, wieder kalt wurde. Für einen Augenblick war das Zimmer sehr still.

„Sam, ich bin hergekommen, um dir etwas zu sagen.“ erklärte Lily endlich. „Lass Frodo Beutlin in Frieden.“

„Ich hab keine Ahnung, was du meinst, Mädel.“

„Oh, und ob du das hast.“ schoss Lily zurück. „Wie ich dich kenne, hast du ihm Vorwürfe gemacht und dir lautstark den Kopf darüber zerbrochen, was die alten Klatschbasen von Hobbingen wohl sagen werden, wenn sie es herausfinden, oder?“

„Und wenn ich’s hab?“ Sam entschloss sich, die Gelegenheit zu nutzen. „Was um Himmels Willen ist falsch daran, Lily? Du gehört nicht auf seine Seite vom Zaun; dass er sich für dich interessiert, mag ja schmeichelhaft genug sein, aber es ist einfach nicht anständig, auch wenn es bloß damit angefangen hat, dass er dir die Sprache der Elben beigebracht hat und all solche Sachen.“

„Richtig oder falsch, es geht dich nichts an.“ schnappte Lily. „Du hast nichts damit zu tun.“

„Du hast Recht.“ Sam nickte. „Aber du, Mädel. Und ich hab dich aufwachsen sehen, und ich kenn deine Mama, deinen Papa und deine Brüder beinahe so gut wie meine eigenen Leute. Das ist nicht anständig, und es ist gefährlich, und es kommt nichts Gutes dabei heraus, merk dir meine Worte.“

„Lass ihn in Frieden,“ wiederholte Lily; ihre Augen flammten und ihr Mund war eine schmale Linie. „Und lass mich in Frieden. Misch dich nicht in mein Leben. Wag es ja nicht.“

Sie drehte sich um und war halb zur Tür hinaus, als er wieder sprach.

„Und was, wenn du irgendwann ein Kind kriegst?“

Lily stand da, ohne sich zu rühren.

„Du magst ja die Hebamme sein, und ich bin sicher, du hast eine Handvoll Kniffe auf Lager, um einen dicken Bauch zu vermeiden, aber was, wenn es mal schief geht?“

„Wie ich schon gesagt habe,“ wiederholte sie mühsam beherrscht, beide Hände zu Fäusten geballt, „das geht dich nichts an. Und ich würde ihm nie die Schuld geben, oder ihn um etwas bitten, was er mir nicht geben will.“

Sie drehte sich noch einmal zu ihm um.

„Er ist meine Art, von einer Welt wegzulaufen, wo jedermann meint, er hätte das Recht, mir zu sagen, was ich tun darf und was nicht.“ sagte sie; ihre Stimme war äußerst klar. „Hinter der grünen Tür kann ich jemand ganz anderes sein. Ich kann elbische Buchstaben lesen und Elbensprachen sprechen, ich kann Zwergenlieder singen, ich kann lachen und weinen und fühlen... und es macht ihm etwas aus. Er ist unglaublich gut zu mir, und er sieht mich, wie ich wirklich bin.“ Sie holte tief Atem. „Es ist nicht so wichtig, ob er mich liebt. Weißt du was? Er macht, dass ich mich selbst liebe.“

Ihr Blick hielt den seinen fest; ein Feuer brannte in den goldenen Tiefen ihrer Augen.

„Wirst du uns verraten?“

Er schüttelte den Kopf.

„Nein, werd ich nicht. Würde ich nie.“

Lilys Lächeln war strahlend und wunderschön. Sam starrte sie an, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen.

„Ich wusste, dass du das sagen würdest.“ Plötzlich trat sie dicht an ihn heran. Er roch einen schwachen Hauch von Kräutern und Rosen und spürte die Berührung ihrer Lippen auf seiner Wange. „Ich wusste es. Ich danke dir, Sam Gamdschie.“

Sie schloss die Tür leise hinter sich und war gegangen, bevor er wusste, was er darauf antworten sollte.

*****

Einmal mehr wurde das Jahr alt, und wieder kam der Schnee spät; die Erde blieb braun und nackt, die Bäume streckten lange, schwarze Finger in den Himmel. Die Nächte waren atemberaubend kalt, der Boden gefror und wenn das Eis in den Pfützen unter den Füßen splitterte, hatte es den Klang von zerbrochenem Glas.

Der Jultag kam, die Sonne verjagte die dunklen Wolken und schien von einem blassblauen Firmament. Die schmalen Wege zwischen den reifbedeckten Hügeln blieben leer, bis auf eine Handvoll Hobbits, die die letzten Geschenke ablieferten, bevor sie an einen warmen Kamin zurückkehrten. Als die Abenddämmerung kam und das Licht golden und rosig färbte, verließ Lily den Stolzfuß-Smial für eine letzte Runde. Sie trug einen Korb mit bestickten Taschentüchern für die Mütter, um die sie sich dieses Jahr gekümmert hatte, und drei kleine Häubchen für Kinder, die Anfang Januar zur Welt kommen würden. Ganz unten im Korb lag, verpackt in mehrere Schichten Papier, ein neues Hemd für Frodo. Der Stoff für dieses Hemd war schon im Sommer auf der Kattun-Farm gesponnen worden, und Lily hatte Frodos Namen versteckt auf der Innenseite von Manschetten und Kragen in tengwar-Buchstaben eingestickt.

Sie wusste, sie würde es ihm heute abend nicht geben können; sie würde es neben der Tür hinterlassen und sich auf den Tag nach Jul freuen, wenn sie nach Beutelsend gehen und sehen konnte, wie er es trug. Jetzt brannte kein Licht im Fenster; Frodos Vettern Peregrin Tuk und Meriadoc Brandybock waren zu Besuch, und Lily hätte sowieso nicht kommen können. Ein großer Schinken, mit Gewürzen und Honig glasiert, brutzelte jetzt seit Stunden im Stolzfuß-Ofen und ihre Familie wartete darauf, dass sie nach Hause kam. Nur noch ein kurzer Umweg und sie würde wieder heimwärts wandern.

Als sie endlich all ihre Päckchen außer dem letzten verteilt hatte, nahm sie den Weg den Bühl hinauf, öffnete das Gartentor, lief auf leisen Sohlen an den zugedeckten Blumenbeeten vorbei und ließ das Päckchen auf der Schwelle der Hintertür. Sie ging entlang der Fensterfront zurück. Alle Vorhänge waren zugezogen, aber als sie halbwegs den Pfad hinunter war, wurde eines der Fenster von innen geöffnet. Gelächter flatterte in die kalte Luft hinaus und eine Wolke aus Pfeifenrauch füllte ihr die Nase. Sie musste ihr Gesicht mit beiden Händen verdecken, um ein plötzliches Niesen zu ersticken. Sie hastete so lautlos wie möglich den Weg hinunter, aber dann erhob sich eine Stimme zu einem Lied und hielt sie auf:

Bruder nun wird es Abend,
nimm dir ein Glas mit Wein.
Schenke Triodimali, Triodimali, Triodimali ein.**

Es war die Stimme von Frodo, ein warmer Bariton, voll und angenehm. Sie stand ganz still und lauschte mit einem schwachen Lächeln auf dem Gesicht.

Stopf dir die lange Pfeife,
denk dir nicht viel dabei.
Singe Triodimali, Triodimali, Triodimali, zwei.

Sie kannte dieses Lied. Er hatte ihr die Melodie und den schönen Text beigebracht, und sie erinnerte sich mit der Leichtigkeit eines gut geübten Gedächtnisses an beides. Nun fiel eine zweite Stimme ein, und eine dritte... zwei Tenöre, einer davon bemerkenswert leuchtend und klar. Sie gaben einen erstaunlich harmonischen Chor ab.

Nichts will das Lied bedeuten,
als etwas glücklich sein.
Dreimal Triodimali, Triodimali, Triodimali, drei.

Zwei Tage nach ihrem Besuch im Beutelhaldenweg Nr. 3 war sie nach Beutelsend zurückgekehrt und er hatte auf sie gewartet, einen besorgten Ausdruck in den Augen. Sie hatte in der Eingangshalle gestanden, zum ersten Mal seit Monaten nicht wirklich sicher, dass sie willkommen war. Endlich sprach sie.

„Es hat sich nichts geändert.“ sagte sie still. „Nicht für mich. Was ist mit dir, Frodo? Soll ich gehen?“

Das Schweigen zog sich in die Länge, und noch immer wartete sie. Dan schüttelte er den Kopf.

„Nein.“ sagte er. „Bleib hier, Lily. Bleib bei mir.“

Er öffnete seine Arme und sie trat in seine Umarmung hinein; sie hielt einander fest, Stirn an Stirn. Sie sprachen nicht über Klatschbasen oder den einzigen Hobbit, der von ihrem Geheimnis wusste und es sicher bewahren würde. Statt dessen küssten sie sich und gingen zum Kamin hinüber. Sie hielten sich an den Händen und redeten eine Weise leise miteinander, und dann hob er sie auf die Arme und trug sie in sein Bett.

Mondlampe lacht am Fenster,
Schlaf klopft an die Tür.
Leise Triodimali, Triodimali, Triodimali, vier.

Traumschwere Worte...

Der Chor brach ab und neues Gelächter folgte... anscheinend hatten sie einen Teil des Textes vergessen. Aber irgendjemand sang immer noch, und mit plötzlichem Schrecken erkannte Lily ihre eigene Stimme.

Traumschwere Worte fallen,
Stille besiegt das Haus.
Trinke Triodimali, Triodimali, Triodimali, aus.

Sie schalt sich selbst für ihre Unvorsichtigkeit und zog sich hastig weiter in die Dunkelheit zurück. Das Fenster wurde ganz aufgestoßen; warmes goldenes Licht ergoss sich auf den Boden unter der frostkalten Wand.

*****

„Hallo! Ist da jemand?“

Pippin lehnte sich über das Fensterbrett und spähte in den Garten. Nach einem feinen Essen hatten sie zu singen angefangen, nach ein paar Gläsern aus dem übrig gebliebenen Vorrat von Bilbos Altem Wingert und ein paar Pfeifen. Trinklieder, Balladen, ein albernes Schäferlied aus den Tukländern und endlich „Triodimali“. Frodo hatte mit der Melodie angefangen, und Pippin nahm sie mit seiner schönen Stimme auf, begleitet von Merry mit einem etwas tieferen Tenor. Nach vier Versen, an die er sich gut erinnerte, stolperte Frodo über die erste Zeile des fünften und das Lied löste sich in leises Gekicher auf. Merry hatte es sich auf dem dicken Teppich dicht am Kamin bequem gemacht; er ließ den tiefroten Wein in seinem Glas herumwirbeln. Pippin saß neben dem Fenster, und plötzlich sagte er:

„Da draußen singt jemand!“

Sie wurden still und lauschten.

...Stille besiegt das Haus.
Trinke Triodimali, Triodimali, Triodimali, aus.

Frodo erkannte Lilys Stimme sofort, und er hielt den Atem an, froh darüber, dass Merry den Blick auf das Fenster gerichtet hielt. Ihr Geschenk. Sie musste ihr Geschenk hergebracht haben. Er wusste, sie wollte nicht, dass er wartete, bis sie sich nach Jul wiedertrafen. Sei vorsichtig jetzt. Merry drehte sich um und sah ihn an, eine Frage in den Augen, aber er zuckte nur die Achseln und zeigte ihm das verwirrteste Lächeln, das er zustande brachte. Dann stemmte er sich aus seinem bequemen Sessel hoch und trat neben Pippin.

Falls es leise Schritte auf dem Gartenweg gab, dann konnte er sie nicht hören. Und der Mond hatte sein Gesicht hinter dicken Wolken verborgen, deshalb konnte er auch nichts sehen (und seine neugierigen Vettern hoffentlich auch nicht). Aber einen Moment später kam das Geräusch, auf das er halb und halb gewartet hatte... das leise Klick, als der Riegel des Gartentores an seinen Platz fiel.

„Da war jemand!“ beharrte Pippin. „Vielleicht ein hübsches Mädchen auf der Suche nach einem warmen Bett?“

Frodo lachte.

„Komm schon, du Witzbold.“ sagte er und kniff seinen vorlauten Vetter ins Ohrläppchen. „Frische Luft ist schön und gut. Aber es wird schrecklich kalt hier drinnen.“

Ein fröhliches Julfest, meine Kastanie.

Und nun kam endlich der Schnee; er fiel langsam und hüllte den Erdboden in eine dünne Decke von schimmerndem Weiß. Frodo streckte die Hand aus und fing ein paar der eisigen Flocken mit seiner Handfläche ein. Dann schloss er Fenster und Vorhänge und sperrte die Nacht aus.


*Dieses Lied stammt von rabidsamfan. Ich bin sehr dankbar, dass ich es für dieses Kapitel ausleihen darf!

**Autor dieses Lagerfeuer-Klassikers ist der deutsche Pfadfinderführer Erich Scholz („Olka").


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