Bevor ich schlafen gehe
von Cúthalion


10. Kapitel
Frühlingstanz

März 3018

Lily kniete auf einem flachen Stein vor dem großen Blumenbeet; ein plötzlicher unerwarteter Frost im Februar nach einem sehr milden Januar hatte sie daran gehindert, die Tulpenzwiebeln vom letzten Jahr auszugraben; sie wollte den Rosenbüschen und dem Rittersporn in diesem Sommer mehr Platz zum Atmen und zum Blühen lassen.

Marco hatte angeboten, ihr zu helfen; zu seiner heimlichen Erleichterung hielt ihn eine lästige Erkältung vom Besuch der Schule im Brockhaus-Smial ab (Amaranths Nichte Narzissa war dort nach dem Tod der alten Hebamme eingezogen, und jetzt setzte sie die Arbeit von Campanula Brockhaus fort und unterrichtete die Kinder von Hobbingen). Lily hatte den Verdacht, dass ihr achtjähriger Bruder die unerwartete Gelegenheit, in der dunklen, nassen Erde herum zu wühlen, viel aufregender fand als das mühselige Malen von Buchstaben auf seiner Schiefertafel.

Jetzt pfiff er fröhlich vor sich hin (eine brandneue Fähigkeit, auf die er unheimlich stolz war). Seine Arme waren bis hinauf zu den Ellbogen mit Erde bedeckt und er warf die Zwiebeln in Lilys Eimer. Von Zeit zu Zeit schaute er auf und grinste sie an, und sie gab das Lächeln zurück und rieb ihm einen Dreckschmierer von der Nase.

Plötzlich hörte sie gedämpftes Hufgeklapper und das Knarren hölzerner Räder den Weg hinaufkommen; sie stand auf, wischte sich beide Hände an ihrer ältesten Schürze ab und entdeckte Magnolia Gutleib auf ihrem Karren, begleitet von ihrem Bruder Folco.

„Guten Morgen, Lily!“ Magnolia winkte. Folco neben ihr nickte grüßend, aber er sagte nichts. Lily war nicht überrascht. Folco litt unter einer schweren Sprachstörung, die ihn unglücklicherweise zum Gespött machte für Leute wie Timm Sandigmann und seine Kumpane. Er stotterte, und je unbehaglicher er sich fühlte, desto schlimmer wurde es. Als Folge davon war er sehr schüchtern; aber andererseits war er ein fähiger, hart arbeitender Bauer und für seine stille, freundliche Art sehr beliebt.

„Morgen, Magnolia... Folco...“ Marco hatte seine Arbeit vergessen und stand vor dem dunkelbraunen Pony. Er tätschelte ihm die Nase und kämmte die lange Mähne mit den Fingern. „Wo kommt ihr her?“

Wir waren auf dem Markt in Wasserau, aber wir haben nur deine Mutter hinter eurem Stand gesehen.“ sagte Magnolia. „Ich wollte dich etwas fragen. Du bist jetzt immer so beschäftigt, dass man dich kaum noch irgendwo trifft... kommst du dieses Jahr zum Frühlingstanz?“

Lily zögerte: Frodo würde in der nächsten Woche nach Bockland fahren, und sie konnten ohnehin nicht gemeinsam dort hingehen. Sie hatte sich noch nicht entschieden, ob sie dort sein wollte ohne die Möglichkeit für einen Tanz mit ihm. Sie beugte sich über den Eimer mit Zwiebeln und verpasste den herzhaften Rippenstoß, den Magnolia ihrem Bruder versetzte.

„Ich weiß noch nicht, Magnolia.“ erwiderte sie und streckte den Rücken. „Ich sag’s dir, wenn ich es weiß.“ Sie betrachtete die beiden Gutleibs und wieder fiel ihr auf, wie verschieden sie waren. Magnolia war das Ebenbild ihrer Mutter, mit ihren dicht gelockten, ebenholzschwarzen Haaren, ihren dunkelblauen Augen und ihren regelmäßigen Zügen; Folco dagegen kam ganz nach seinem Vater, vom Charakter und vom Aussehen. Sein Haar war von einem sandigen, rötlich schimmernden Blond, seine Haut hell und empfindlich und übersät mit blassgoldenen Sommersprossen. Sonnengebleichter Flaum bedeckte seine kräftigen Arme und seine großen Hände, und er hatte ruhige, graue Augen. Ein gutaussehender Bursche, dachte Lily plötzlich. Ein Jammer, dass er nie ein Mädchen finden wird, solange er die Zähne nicht auseinander bekommt.

„Ich werde meiner Mutter mit dem Stand helfen, wenn der Markt nächste Woche nach Hobbingen kommt.“ Lily lächelte. „Ich bin sicher, wir können ein kleines Picknick machen... du bringst den Kuchen mit und ich den Tee.“

„Gute Idee.“ Magnolia nahm die Zügel und schnalzte mit der Zunge. Lily hob die Hand und sah, wie Folco scheu zum Abschied winkte, als der Karren den grasbedeckten Weg hinunterrollte.

*****

„Ich glaub es einfach nicht – du hast kein Wort gesagt!“

Folco schenkte Magnolia keinerlei Aufmerksamkeit; er verdrehte den Hals, damit ihm auch noch den letzten Ausblick auf die schlanke Gestalt im Stolzfuß-Garten nicht entging.

„Folco, du bist hoffnungslos. Ich fahr dich zum Markt, damit du die Gelegenheit hast, mit ihr zu reden; ich fahr dich sogar zu ihrem Smial, damit du sie fragen kannst, und alles, was du tust, ist sie anzustarren wie ein liebeskrankes Mondkalb!“

Der junge Hobbit drehte sich endlich um und errötete. „I... ich w-weiß.“ erwiderte er unglücklich. „Ich w-wusste genau, w-was ich s-sagen wollte, aber als ich s-sie g-gesehen h-hab, d-da war alles w-weg.“

Magnolia schüttelte den Kopf; ihr Bruder war jetzt seit fast einem Jahr in Lily verliebt, aber er hatte es nie fertig gebracht, dafür zu sorgen, dass die junge Hebamme auch nur eine Ahnung davon hatte. Sie hatte ihn abseits der Menge stehen sehen, als Lily letztes Jahr an Mittsommer mit dem Herrn von Beutelsend tanzte. Schon damals hatte er mit ihr reden wollen, aber er traute sich nicht, und dies war die nächste Gelegenheit, die sich anbot. Magnolia hatte ihn sogar dabei belauscht, wie er vor dem kleinen Spiegel in seinem Zimmer stand und eine wunderschöne kleine Ansprache übte. Zu Hause stotterte er kaum... aber wenn er es nicht bald wagte, den Mund aufzumachen, dann würde Lily ganz sicher jemand anderen finden... falls sie je die Angewohnheit loswurde, sich um die ganze Welt zu kümmern und endlich bereit war, sich auf ihre eigenen Kinder zu konzentrieren, und auf einen Ehemann.

Magnolia seufzte.

Armer Folco, dachte sie. Solange Lily darauf besteht, all die hübschen Jungs in Hobbingen so zu behandeln, als wären sie ihre kleinen Brüder, hat er nicht die geringste Chance. Und er wäre ein vertrauenswürdiger Freund und ein feiner Ehemann, falls sie jemals heiratet und sich wunderbarerweise dafür entscheidet, ihn zu nehmen. Wenn Folco sich nicht überwindet, dann werde ich sie dazu überreden müssen, allein auf das Frühlingsfest zu gehen... vielleicht traut er sich wenigstens, sie zu fragen, ob sie mit ihm tanzt.

*****

Das Feuer loderte hoch und fröhlich und schickte Funkenschauer in den samtblauen Nachthimmel. Die Frühlingstänzer hatten sich an den Händen gefasst und bildeten einen großen Kreis um die Flammen, und die Luft – erstaunlich mild für Anfang April - roch nach einer erregenden Mischung aus brennendem Apfelholz und würzigem Spanferkelbraten, nach frisch gemähter Wiese, süßem Fruchtpunsch und Bier.

Lily stand inmitten der Menge und lachte; sie hatte mit der Hälfte der Jungs aus Hobbingen getanzt, sogar mit Folco Gutleib (er hatte sie strahlend angelächelt, ohne ein Wort zu sagen). Nick Kattun, der einiges mehr intus hatte, als ihm gut tat, legte ihr schwerfällig einen Arm um die Hüfte und versuchte, sie zu küssen, aber sie gab ihm einen gutmütigen Klaps und er trollte sich. Mit Hobbits wie Nick oder Folco umzugehen, war nicht weiter schwierig; sie meinten es nicht böse und waren nicht beleidigt, wenn man ihnen einen Korb gab. Mit jemandem wie Lotho Sackheim kam sie schon weit weniger zurecht...vielleicht, weil seine Art, sich für sie zu interessieren, so unauffällig war, unauffällig und beinahe bedrohlich. Sie fühlte sich ständig von ihm beobachtet. Wenn sie sich auf einem Fest begegneten, folgte er ihr in einiger Entfernung wie ein stummer, hartnäckiger Schatten.

Lily war nicht wohl dabei. Sie wusste inzwischen weit mehr darüber, wie Begehren aussah. Sie kannte das Begehren von Frodo, die glühende Vorfreude, die sie in seinen Augen fand, wenn sie abends nach Einbruch der Dunkelheit durch die Seitenpforte nach Beutelsend hineinschlüpfte. Wie er sie anschaute, wenn sie von ihren Schreibübungen aufsah und feststellte, dass er sie beobachtete, die Feder reglos in der Hand und ein heimliches Lächeln in den Mundwinkeln. Sein Blick, wenn sie sich, spät am Abend, aus den Verschnürungen ihres Mieders befreit hatte und nackt aus ihren Röcken stieg, um ihn an der Hand zu nehmen und zum Bett zu führen. Seine Augen, die sich verschleierten, wenn er sie in die Arme nahm, sie küsste und sie in die Kissen bettete.

Was sie in Lothos Augen sah, war finsterer... keine sehnsüchtige Liebe, sondern nackte Gier. Und sie wusste instinktiv, dass sie recht daran tat, sich vor ihm in acht zu nehmen.

Frodo war jetzt fast drei Wochen in Bockland; sein Vetter Merry hatte ihn eingeladen und er hatte ihr nicht versprechen können, ob er rechtzeitig zum Frühlingsfest wieder in Hobbingen sein würde. Sie war nicht wirklich enttäuscht oder ungeduldig, aber sie hatte ein paar Dinge, die sie ihm gern zeigen wollte. Das Festmieder, dass sie mit Vergissmeinnicht und Rosenknospen bestickt hatte, war ihr noch am wenigsten wichtig – viel kostbarer war ihr das sorgfältig zusammengerollte Pergament, auf das sie in drei Nächten die ersten zwanzig Verse eines Elbengedichtes geschrieben hatte, in sorgfältig gemalten tengwar-Buchstaben, mit richtig gesetzten thethar und ohne einen einzigen Tintenklecks. Sie freute sich wie ein Kind darauf, seinen Gesichtsausdruck zu sehen, wenn sie das Pergament vor ihm auf den Tisch legte.

Hinter ihr entstand eine leichte Bewegung in der Menge, aber Lily achtete kaum darauf, denn die Kette der Tänzer brach auseinander und Rosie Kattun, die jetzt bereits seit Stunden ausgelassen herumwirbelte, stolperte und wäre um ein Haar ins Feuer gefallen. Sam Gamdschie, der es nie gewagt hätte, sie um einen Tanz zu bitten, griff beherzt zu, zog sie außer Reichweite der Flammen und schlug mit den Händen auf ihren glimmenden Rocksaum ein, bis der Stoff nur noch an ein oder zwei Stellen rauchte. Fasziniert beobachtete Lily, wie Rosie ihn gewähren ließ; als er nach vollbrachter Rettung knallrot anlief und sich zurückziehen wollte, nahm sie sein Gesicht in beide Hände und gab ihm einen herzhaften Kuss mitten auf den Mund.

„Schau an,“ sagte eine sanfte Stimme dicht an ihrem Ohr, und im Schutz ihrer üppigen Rockfalten schloss sich eine Hand um ihre Finger. „Es sieht ganz so aus, als würde Rosie ihn mögen. Vielleicht hört er jetzt endlich auf damit, mit jeder Ausrede, die ihm einfällt, um den Kattunhof herumzustreichen...“

Lily zuckte überrascht zusammen und spürte, wie jähe Wärme in ihrem Körper aufstieg; sekundenlang wurden ihr die Knie weich, bevor sie sich wieder in der Gewalt hatte.

„Frodo...“ hauchte sie, dann hatte er ihre Hand auch schon wieder losgelassen. In den nächsten Minuten sah sie, wie er halb Hobbingen begrüßte; so unauffällig wie möglich folgte sie ihm mit den Augen, wie stets gefesselt von seiner gelassenen, leichtfüßigen Art, sich zu bewegen, davon, wie er seinen Rücken hielt und wie er seinen Kopf zurückwarf, wenn er lachte.

„Fräulein Lily.“

Lotho Sackheim stand neben ihr. Sie warf ihm einen Seitenblick zu, wie so oft unwillkürlich abgestoßen von der Art, wie er sie ansah. Manch ein Hobbit hatte schon heftig mit ihr getändelt und sie mehr als nur ein wenig begehrlich betrachtet; aber sie hatte immer das Gefühl, als versuchte Lobelias Sohn sie mit den Augen auszuziehen.

„Guten Abend, Herr Lotho.“ sagte sie höflich. „Möchtest du etwas Bestimmtes?“

„Soll ich dir etwas zu trinken holen?“ fragte er und sie sah, wie sein Blick im Ausschnitt ihres Mieders hängen blieb. Zum ersten Mal an diesem Abend wünschte sie sich ein Brusttuch.

„Nein, danke.“ sagte sie mühsam beherrscht. „Mit dir tanzen möchte ich übrigens auch nicht, Und ich wäre dir sehr dankbar, wenn du aufhören könntest, mir auf den Busen zu starren.“

Lotho wurde knallrot, und für einen Moment verzog sich sein Gesicht zu einer hässlichen Grimasse. Sie konnte in seinen Augen lesen, und plötzlich war sie sehr dankbar, dass sie sich inmitten dieser großen, ausgelassenen Menge befand.

„Du bist hochnäsiger, als gut für dich ist, Mädchen!“ schnappte er, und dann packte er sie am Handgelenk. Der Griff war schmerzhaft und rücksichtslos, und sie wich zurück, ein erschrockenes Aufkeuchen in der Kehle. Dann prallte sie gegen jemanden, der hinter ihr stand, und ein Arm legte sich um ihre Mitte.

„Ach... guten Abend, Lotho, wie immer ist es ganz besonders angenehm, dich zu treffen!“ sagte Frodo heiter. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, aber zum zweiten Mal an diesem Abend spürte sie, wie er im Schutz der Röcke ihre Hand nahm. Lotho allerdings sah Frodos Gesicht und seinen Blick, und jetzt war er es, der zurückwich.

„Guten Abend, Vetter.“ zischte er, dann drehte er sich ohne ein weiteres Wort um und verschwand in der Menge.

„Zu dumm, dass man sich seine Verwandtschaft nicht aussuchen kann.“ sagte Frodo gelassen. „Außerdem ist er gar nicht wirklich mein Vetter, denn Lobelia ist keineswegs meine Tante – eine Tatsache, für die ich dem Schicksal jeden Tag aufs Neue danke.“

Lily gluckste leise.

„Oh, ich wäre schon mit ihm fertig geworden.“ sagte sie leichthin, aber ihre Hand, die Frodos Finger immer noch fest umklammerte, sprach eine andere Sprache. Noch nie im Leben war sie so froh gewesen, dass er da war.

„Möchtest du etwas essen oder trinken?“ fragte er. „Möchtest du noch bleiben, oder soll ich dich nach Hause bringen?“

Sie lehnte für einen winzigen Augenblick ihren Kopf an seine Schulter. Frühlingstänzer und fröhliche Festgäste strudelten um sie herum, ohne auf den Herrn von Beutelsend und die junge Hebamme zu achten.

„Komm mit mir.“ sagte sie.

Sie stahlen sich durch die Menge, weg vom Lärm und der rotgoldenen Helligkeit des Feuers. Lily spürte das taufeuchte Gras unter den Füßen und zog Frodo hinter sich her, hinein in den Schatten des Waldes. Sie glitten lautlos durch das Unterholz und Tannenzweige streiften ihre Köpfe; dann kamen sie auf eine winzige Lichtung mit moosigem Boden, fast unsichtbar in der mondlosen Nacht. Lily lehnte sich gegen den Stamm einer riesigen Tanne und zog Frodo an sich. Sie suchte seinen Mund und küsste ihn, erst zart, dann tief und hungrig... oh, sie hatte sich nach ihm gesehnt, sie hatte ihn vermisst, und dieser Kuss war wie frisches Brot nach einer erzwungenen Fastenzeit.

Sie löste sich von ihm, und ihrer beider Atem ging schwer; sie konnte ihn im Dunkeln kaum sehen, aber sie nahm das Glitzern seiner Augen über sich wahr, sie spürte seine streichelnden Hände und bog sich ihnen sehnsüchtig entgegen.

„Du hast mir gefehlt.“ flüsterte Frodo. „Lily...“

Sie zog ihn wieder dicht heran und spürte ihn durch die dicke Stoffschicht ihrer Kleidung hart und drängend an ihrem Bauch. Ein Stöhnen fing sich in ihrer Kehle und seine Stimme antwortete, leise und heiser, und dann befreite er sich mit zwei schnellen Griffen von seinen Beinkleidern und hob mit beiden Händen ihre Röcke hoch.

*****

Lotho stand in der Dunkelheit am Rande der Lichtung, hinter einem anderen Baum verborgen. Er war ihnen gefolgt, als er entdeckte, dass Lily mit dem Herrn von Beutelsend im Wald verschwand. Er konnte sie kaum sehen, aber er hörte sie, er hörte Lilys Stimme, dunkel und süß, und die von Frodo, abgerissen und atemlos, Worte flüsternd, die sich zärtlich und lustvoll überstürzten, und jedes einzelne war neuer Zündstoff für seinen Hass auf den Erben des verrückten Beutlin.

Dann verloren sich die Worte, aber ihre Stimmen blieben, und er lauschte, von Wut und brodelnder Eifersucht geschüttelt. Dieser Brandybock-Wechselbalg hatte sich alles genommen, was von Rechts wegen ihm zustand, erst den prächtigen Smial unter dem Bühl und jetzt die Frau, die er begehrte. Und während er die beiden Liebenden belauschte, stieg erneut die Gier in ihm auf, die Gier nach Lily, heiß und verzehrend, und er wünschte sich, er könnte Frodo beiseite stoßen und seinen Platz einnehmen... jetzt, auf der Stelle.

Aber er blieb, wo er war, bis die beiden sich langsam voneinander lösten und ihre Kleidung in Ordnung brachten. Er stand, ohne sich zu rühren, während sie ahnungslos an ihm vorbei zum Feuer zurückgingen.

Lotho Sackheim mochte verwöhnt sein, eigensüchtig und feige, aber dumm war er nicht. Was er gesehen hatte, ließ ihn gewisse Schlüsse ziehen; dies hier war nichts, was gerade erst begonnen hatte. Was die beiden verband, mochte es bloße Lust sein oder Liebe, bestand schon länger, und zwar offenbar ganz im Geheimen. Und das hieß, dass die schöne, scheinbar so zurückhaltende Lily Stolzfuß ein höchst unpassendes Verhältnis hatte mit Frodo Beutlin von Beutelsend... dass sie seine Metze war, sein schamloses Liebchen und seine Hure.

Er würde es ihnen heimzahlen.

Die beiden waren längst verschwunden und Lotho hörte das ferne Gelächter der Tänzer am Feuer. Aber er stand noch immer gegen den Baum gelehnt, und Phantasien von Lily kochten in seinem Geist, Phantasien von einer wehrlosen Lily, halbnackt in seinen Händen anstatt in Frodos Umarmung. Und er träumte davon, dass sie weinte, während er sich ihr aufzwang und dass sie um Gnade bettelte, während er sie nahm. Sein Kopf sank nach hinten gegen den Baumstamm und sein Atem wurde zu einem zischenden Keuchen, während er seine Hose öffnete, mit einer Hand seine schmerzhaft angeschwollene Erregung umschloss und sich selbst bittere Erleichterung verschaffte.

Er würde sie haben... und zwar bald.

*****

Lily war eine der ersten, die den Frühlingstanz verließ. Ihre Arbeit als Hebamme gab ihr mehr Freiheiten als ein unverheiratetes Mädchen in Hobbingen sie normalerweise gehabt hätte; Fredegar und Viola waren an die nächtlichen Ausflüge ihrer Tochter gewöhnt und würden nicht misstrausch sein, vor allem nicht heute, da das gesamte Jungvolk von Hobbingen und Wasserau zum Tanz versammelt war. Es war noch immer zwei Stunden bis Mitternacht, und ihre Eltern erwarteten sie nicht allzu bald. Sie wollte nicht noch mehr Zeit auf dem Fest verbringen; sie und Frodo waren übereingekommen, dass er ihr ein paar Minuten später folgen würde. Sie konnnten sich im Garten von Beutelsend treffen. Ein paar Stunden Zeit... Lily wollte ihm das Gedicht zeigen, aber viel mehr als dass wollte sie ihn noch einmal in die Arme nehmen... sie sehnte sich danach, seine Haut zu berühren und seinen Anblick zu genießen, vergoldet von den Kerzen in seinem Schlafzimmer. Die leidenschaftliche Begegnung im Wald sang noch immer in ihren Adern.

Sie nahm die Biegung zum Weg, der am Efeubusch vorbei den Bühl hinauf führte. Die Fenster des Gasthauses waren dunkel; der Wirt war weise genug gewesen, seinen Schankraum für diesen Abend zu schließen. Selbst die betagtesten Väterchen waren auf dem Frühlingstanz, genossen alte Geschichten und tauschten brandneuen Klatsch aus.

Die Nacht war sehr still, und außer ihr schien niemand unterwegs zu sein. Plötzlich hörte sie etwas hinter sich; sie hielt an und drehte sich um, aber was immer es auch war, es bewegte sich nur dann, wenn sie es auch tat. Sie runzelte die Stirn und spähte in die Dunkelheit.

„Hallo...?“

Keine Antwort. Sie ging weiter, überquerte den breiten Marktplatz vor dem Efeubusch und lief in einen engen Hohlweg, der zu der Biegung führte, die sie nehmen musste, um Beutelsend zu erreichen. Und jetzt gab es keinen Zweifel mehr: jemand folgte ihr. Konnte das schon Frodo sein?

„Hallo?”

Von einem Moment zum anderen erschien eine massige Gestalt aus dem Nichts, und eine schwere Hand fiel auf ihre Schulter nieder.

„So alleine unterwegs, Fräulein Lily?“

Es war Lotho, und wenn er vor ein paar Stunden noch nüchtern gewesen war, jetzt war er entschieden betrunken. Ein intensiver Geruch nach schalem Bier ging von ihm aus, und er kam ihr sehr nahe... viel zu nahe, als es ihr lieb war.

„Scheint, als hättest du die falsche Abzweigung genommen, meine Hübsche. Das ist nicht der Weg zum Stolzfuß-Smial, oder?“

Er kam noch näher und sie stolperte rückwärts bei dem erfolglosen Versuch, die Berührung mit seinem Körper zu vermeiden. Er roch nach Schweiß und nach Gier; dies war nicht ihre erste Begegnung mit einem erregten männlichen Wesen, aber jetzt lernte sie den erschreckenden Unterschied zwischen eifrig willkommen geheißener Leidenschaft und einem Hunger kennen, den zu stillen sie nicht die geringste Absicht hatte. Ihr Rücken stieß gegen den taufeuchten Abhang und sie hörte ihn lachen, ein gedämpftes Geräusch, heiser und triumphierend. Instinktiv hob sie die Hände, aber es war schon zu spät. Sie war zwischen der Seitenwand des Hohlweges und seinem schweren Brustkorb und Bauch eingeklemmt. Mit Entsetzen begriff sie, dass er versuchte, sein Knie zwischen ihre Schenkel zu schieben, und dann presste sich sein Mund auf den ihren und er stieß seine Zunge zwischen ihre Lippen und zwang ihre Zähne auseinander.

Mit einer gewaltigen Anstrengung stieß sie ihn zurück; ihre Hände waren frei und sie versetzte ihm eine saftige Ohrfeige. Sie versuchte auch, ihn in die Weichteile zu treten, aber in der Dunkelheit traf sie nur seine Hüfte. Er stieß einen kurzen Schmerzensschrei aus, aber dann hakten sich seine Finger in ihren Ausschnitt und rissen ihr neues Mieder mitsamt der Bluse darunter auf. Sie spürte seine Hände auf ihren halb entblößten Brüsten und fand endlich genügend Geistesgegenwart zu schreien.

******

Frodo überquerte gerade den Marktplatz, als er plötzlich das Grunzen einer männlichen Stimme hörte und ein atemloses Kreischen. Noch eines, sogar noch länger und lauter als das erste, gefolgt von Worten, in einem verzweifelten, zornigen Tonfall ausgespien.

„Hilfe! Lass mich los, du lausiger – Hilfe! Hilfe!“

Lily. Um Himmels Willen, das war Lily!

Er dachte nicht nach; er spürte, wie er in ihre Richtung schoss, von rasender Wut erfüllt. Im nächsten Augenblick krachte er in Lilys Angreifer hinein und riss ihn mit sich zu Boden. Er kam unter dem unsichtbaren Hobbit zu liegen, bekam den Aufschlag einer seidenen Weste zu fassen, krallte alle fünf Finger seiner rechten Hand in die Wange seines Gegners und spürte, wie der zurückzuckte. Er rollte sich seitlich weg, versuchte auf die Füße zu kommen, und dann grub sich eine Faust schmerzhaft in seinen Magen. Noch immer hatte er keine Ahnung, gegen wen er kämpfte, aber er schnappte nach Luft, trat um sich und traf ein Schienenbein.

„Er hat ein Messer! Ein Messer!“

Wieder Lilys Stimme, erfüllt von Panik und Entsetzen. Etwas Scharfes und brennend Heißes schrammte seinen linken Arm entlang, und er tastete in der Finsternis herum, bis er aus schierem Glück das Handgelenk seines unsichtbaren Feindes erwischte und es so kraftvoll wie möglich nach hinten drückte. Unglücklicherweise konnte er nur eine dieser beiden gefährlichen Hände unter Kontrolle halten, und plötzlich kam ein Schwinger aus dem Nichts und krachte gegen seine Schläfe. Die nächtliche Welt rings um ihn her verschwamm und er schüttelte hilflos den Kopf, um deutlich zu sehen.

Eilige Schritte und ein Ausruf, und plötzlich war sein Widersacher fort. Er hörte das Geräusch einer Faust, die auf etwas Weiches traf und ein scharfes Knacken, gefolgt von einem schrillen Schrei. Und dann ertönte die Stimme von Samweis Gamdschie in der Dunkelheit, erstaunlich tief und zitternd vor Zorn.

„Du elender Hundesohn du!“

Zunder flammte auf und dann erhellte das Licht einer Fackel den Hohlweg. Frodo stützte sich auf einen Ellbogen und versuchte, sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Sam stand mitten im Weg, eine Hand zur Faust geballt und schwer atmend. Vor ihm auf dem Boden lag eine zusammen gekrümmte Gestalt, eine Hand auf das blutverschmierte Gesicht gepresst. Eine wimmernde Stimme drang zwischen den schützenden Fingern hindurch. „Er hat mir die Nase gebrochen! Er hat mir die Nase gebrochen!“ Und jetzt erkannte Frodo, mit wem er es zu tun hatte. Er holte tief Atem.

„Oh, hat er das? Nun... das war eine ausgezeichnete Idee, würde ich sagen, wenn dir nichts Besseres einfällt, als Fräulein Stolzfuß zum zweiten Mal zu belästigen, während ich in der Nähe bin, Vetter. Ich bin schwer in Versuchung, das Werk meines Gärtners zu vollenden und dir das Genick zu brechen.“

„Du... das würdest du nicht wagen... du...“

Lotho kam stolpernd auf die Beine; Blutstropfen sprühten von seiner geschwollenen Nase. Frodo packte ihn am Kragen und zog ihn dicht an sich heran, seine Stimme leise und kalt wie Eis.

„Ich würde was nicht wagen? Deine Mutter zu besuchen und ihr zu erzählen, was ihr Sohn tut, wenn sie ihn frei herumlaufen lässt? Dass ihr angebeteter Junge ein wertloser, selbstsüchtiger Trunkenbold ist, der ein ,Nein’ nicht akzeptiert, wenn er eines hört? Was meinst du wird wohl passieren, wenn ich das hier öffentlich mache, hm?“

Lotho fuhr zurück und schwankte auf unsicheren Beinen hin und her. Sein Gesicht war eine Maske aus purem Hass, aber er sagte nichts.

„Sam?”

„Ja, Herr Frodo?“

„Wärst du so freundlich, meinen fabelhaften Vetter zu seinem Wagen zu geleiten und sicher zu stellen, dass er auch tatsächlich nach Hause fährt?“

Sam grinste.

„Aber sicher, Herr... liebend gern!“

Er packte Lothos Arm mit ziemlich unsanftem Griff und zerrte ihn weg. Frodo blieb zurück. Sein Atem beruhigte sich, die Spannung rieselte fühlbar aus seinem Körper. Jetzt spürte er einen stechenden Schmerz im linken Arm; er sah, dass der Ärmel seiner Jacke von der Schulter bis zum Handgelenk aufgeschlitzt war. Blut verfärbte das Hemd darunter in einer dünnen, roten Linie.

„Frodo…?”

Lily.

Sie trat aus der Dunkelheit und hielt ihr zerrissenes Mieder mit einer zitternden Hand zusammengerafft. Ihre geflochtene Krone hatte sich gelöst, und ihr Haar fiel wie ein Wasserfall aus Locken über ihre Schultern und ihren Rücken hinunter. Bei ihrem Anblick fühlte er, wie die blinde Wut zurückkehrte. Er öffnete und schloss die Hände, als lägen sie um Lothos Hals, überrascht und erschüttert von der glühenden Intensität seines eigenen Zorns.

„Lily. Mein Liebes.“

Sie stolperte auf ihn zu und er fing sie in den Armen auf und hielt sie in einer engen, besitzergreifenden Umarmung. Ihr Kopf sank gegen seine Schulter; minutenlang stand sie da, ohne sich zu rühren, und er spürte, wie ihre Tränen die Vorderseite seines Hemdes durchweichten.

„Ganz ruhig, Lily.“ sagte er leise, wie schon einmal in einer anderen dunklen Nacht. „Ganz ruhig, meine Geliebte. Ich bin hier.“

******

Sie weigerte sich, nach Hause zu gehen, und er gab ihr Recht; es wäre wahrscheinlich keine sehr gute Idee gewesen, sie in dem Zustand, in dem sie sich befand, ihren Eltern zu präsentieren. Er brachte sie langsam den Bühl hinauf und durch den Garten von Beutelsend, dann schloss er die grüne Tür auf und geleitete sie hinein.

Eine halbe Stunde später hatte sie langsam und schlückchenweise ein halbes Glas Wein ausgetrunken und er hatte sie von ihrem zerrissenen Mieder befreit – es war wunderschön, mit Vergissmeinnicht und Rosenknospen dekoriert, aber jetzt unrettbar ruiniert – und ihr geholfen, aus Bluse und Rock zu schlüpfen. In einer der Schubladen fand er ein altes Nachthemd und schüttelte die getrockneten Lavendelzweige heraus; es war eines seiner eigenen, noch aus der Zeit, als er gerade erst nach Hobbingen gezogen war. Sie nahm es und hüllte sich in den weichen, alten Stoff. „Das riecht gut...“ murmelte sie (ihre allerersten Worte überhaupt seit dem Überfall), und dann bettete er sie in die Kissen und deckte sie mit frischen weißen Leinentüchern und einer warmen Decke zu.

Sie war schon halb weg gedämmert, beruhigt und getröstet von seiner zärtlichen, stillen Fürsorge; aber als er sich umdrehte, um auf Zehenspitzen hinauszugehen, öffnete sie ihre Augen und sah ihn an.

„Ich hatte keine Chance, wegzukommen...“ sagte sie. Ihre Stimme schwankte und war kaum mehr als ein Hauch; ihre Augen waren voller Scham. „Ich habe ihn nicht kommen sehen. Es tut mir leid...“

Er nahm ihre Hand und küsste sie.

„Du hast keinen Grund, dich zu entschuldigen, mein Liebstes. Ich hätte eher da sein sollen. Ich hätte dich nicht allein lassen sollen.“

Ihre Augenlider flatterten und fielen zu, und binnen Minuten war sie fest eingeschlafen. Er verließ das Zimmer, nahm ein sauberes Tuch und die Branntweinflasche aus der Anrichte in der Küche; er zog Jacke, Weste und Hemd aus und schaute sich die Wunde an seinem linken Arm zum ersten Mal genauer an.

Es war ein langer, glücklicherweise nur oberflächlicher Schnitt; seine Kleidung hatte ihn davor bewahrt, schwerer verletzt zu werden. Das meiste Blut war bereits getrocknet. Er tupfte den starken Alkohol auf die Haut und zischte dabei durch die zusammengebissenen Zähne; endlich zog er sich ein frisches Hemd an. Dann goss er sich ein kleines Glas Branntwein ein, ging hinüber ins Studierzimmer und setzte sich hinter den Schreibtisch. Sorgsam entzündete er die acht Kerzen in dem großen, silbernen Leuchter.

Der Smial war völlig still, und nun, da er endlich die Zeit hatte, sich zu entspannen, rauschten die Bilder der letzten Stunde in einem verstörenden Wirbel durch seinen Geist.

Lily, die in der Finsternis schrie... sein wildes Handgemenge mit einem Feind, den er nicht sehen konnte... Sam, der zu seiner Rettung kam... Lilys Haut, erstaunlich weiß unter dem zerrissenen Mieder, ihre zitternden Hände.

Lily.

Das wäre nie geschehen, wenn sie deine Frau wäre.

Eine kalte, anklagende Stimme, die ihn zusammenzucken ließ. Er starrte blind auf das Glas in seiner Hand.

Anstatt sie zu beschützen, hast du sie benutzt wie ein Spielzeug.

Er nahm einen langen Schluck Branntwein und schloss die Augen. Jemand klopfte leise an die Tür, und er seufzte erleichtert.

„Komm herein.“

Es war Sam (was ihn nicht überraschte). Er sah den Branntwein und ein Lächeln irrlichterte kurz in seinen Augen. Frodo erhob sich, holte noch ein Glas, goss es voll und reichte es wortlos seinem Gärtner. Sam nahm einen raschen Zug und hustete.

„Herr Frodo, wie geht’s Lily?“ fragte er, als er wieder zu Atem gekommen war. „Hast du sie nach Hause gebracht?“

„Nein.“ Frodo schüttelte den Kopf. „Nein, sie ist hier. Ich dachte, sie sollte sich erst erholen. Sie schläft in meinem Schlafzimmer.“

Zu seiner Überraschung erhob Sam keinen Widerspruch. Er nickte.

„Du solltest sie aufwecken, kurz bevor es dämmert, Herr, dann kann ich sie heimbringen. Ich bin ganz schön sicher, dass Herr Lotho nicht noch mal auftaucht, aber ich werd mich besser fühlen, sobald ich weiß, dass sie wieder in ihrem eigenen Bett liegt.“ Er bemerkte den Ausdruck in Frodos Gesicht und fügte hastig hinzu: „Sollte kein Vorwurf sein, Herr, ganz bestimmt nicht. Ich meine... das war ein ganz schöner Schrecken, oder? Ich hätte nie gedacht...“

„Und ich hätte es besser wissen müssen.“ sagte Frodo in einem bitteren Tonfall. „Zum ersten Mal hat er sich ihr letztes Jahr in Wegscheid aufgedrängt. Aber das war auf dem Markt, mitten in der Menge, und ich kam rechtzeitig... nicht wie heute abend.“ Er holte tief Luft, dann hob er den Kopf und lächelte den jüngeren Hobbit an. „Danke, Sam. Du hast heute eine wesentlich heldenhaftere Rolle gespielt als ich, soviel ist sicher.“

Sam errötete vor Verlegenheit und schüchterner Freude. „ich bin froh, dass ich dir helfen konnte.“ sagte er, dann räusperte er sich.„Hast du schon was gegessen?“

Als Frodo den Kopf schüttelte, straffte er den Rücken. „Du solltest dir ein belegtes Brot gönnen, oder ein bisschen kalten Braten und Bier. Entschuldige, wenn ich das sage, aber du bist ein bisschen grün um die Nase.“

Frodo lachte.

„Sam, du bist unbezahlbar.“ sagte er. „Jetzt, da du es erwähnst... ich glaube, etwas zu Essen wäre eine großartige Idee. Ich schlage vor, dass wir die Speisekammer zusammen plündern, und dass wir Lily auch zusammen nach Hause bringen. Ich will sie nicht alleine lassen, und vier Augen sehen besser als zwei.“

*****

Der Herr von Beutelsend und sein Gärtner teilten sich ein improvisiertes Mahl, bestehend aus sauer eingelegtem Gemüse, kaltem Hühnchen und Bier aus dem Keller, dann legte sich Sam in eines der Gästebetten, um wenigstens zwei oder drei Stunden zu schlafen. Frodo fühlte sich noch immer nicht müde genug, also ging er ins Studierzimmer hinüber, setzte sich einmal mehr hinter seinen Schreibtisch und ließ seine Gedanken von der Frau in seinem Bett zurückwandern zu den letzten Wochen in Bockland.

Er hatte eine angenehme Zeit dort verbracht, hatte alte Bekanntschaften erneuert und Freundschaften aufgefrischt und gutgelaunt Esmies endlose Versuche toleriert, ein passendes Mädchen für ihn zu finden. Eines Abends Ende März schickte Saradoc nach einer Flasche Wein und lud ihn ein, im bequemsten Sessel neben dem Kamin Platz zu nehmen.

„Gut siehst du aus, Frodo.“ sagte Saradoc und streckte seine Füße den Flammen entgegen. „Immer noch glücklich mit deinen Büchern und deiner Studierstube? Die Zeit bleibt nicht stehen, mein Junge. Und du wirst nicht jünger.“

Frodo nahm einen Schluck von dem würzigen tiefroten Wein und lächelte, aber er sagte nichts.

„Nein, ehrlich.“ Saradoc spähte durch das Dämmerlicht. „Du solltest darüber nachdenken, dir eine Frau zu suchen, oder irgendwann kommt der Tag und du stirbst allein, ohne Söhne und Töchter, und mit niemandem, dem du Beutelsend hinterlassen kannst.“

Frodo sah auf.

„Also gut, Saradoc... wie soll ich wissen, dass ich die richtige Frau getroffen habe?“

Saradoc stutzte und starrte ihn verblüfft an.

„Ist die Frage ernst gemeint?“

„Natürlich ist sie das.“ Frodo hob eine Augenbraue. „Du bist der Fachmann, oder nicht? Anders als du habe ich noch keine Frau.“

„Ah...“ Saradoc verfiel eine Weile in Schweigen, dann sprach er in einem leisen, nachdenklichen Tonfall. „Die richtige Frau... weißt du, es braucht eine lange Reise, um herauszufinden, ob du sie entdeckt hast. Die richtige Frau kann ein Pfahl in deinem Fleisch sein und gleichzeitig ein warmes Feuer in deinem Herzen. Sie ist stark wie ein Krieger und schwach wie ein neugeborenes Kätzchen. Sie kann dich mit ihrem Zorn zerschmettern und dich so zärtlich trösten, als wärst du ihr Kind. Du kannst mit ihr lachen wie ein alberner Zwanziger, selbst wenn du schon alt wirst, und du kannst in ihrem Armen weinen, ohne dich zu schämen. Sie ist eine Mutter, eine Tochter, eine Schwester, eine Freundin, ein Feind... sie ist alles auf einmal.“

Er hob sein Glas zu einem stillen Prosit.

„Wenn du deine Zukunft in ihren Augen sehen kannst, und die Kinder, die du noch nicht hast... dann hast du sie gefunden.“ ----

Frodo schrak zusammen und schaute sich um. Die Zwergenuhr tickte leise auf dem Kaminsims und die Kerzen brannten hell und stetig. Er beugte sich hinunter, öffnete eine kleine Schublade tief unten im Schreibtisch und holte einen kleinen Beutel aus verblichenem schwarzen Samt heraus. Er zog an der weichen, alten Kordel und ein Rinnsal aus Gold rieselte in seine Handfläche. Er legte den Schmuck auf die Schreibunterlage aus dunklem Leder... die Halskette, eine zarte Aneinanderreihung von goldenen Blättern und Bernsteinblumen, die größte davon in der Mitte... und der Ring, dessen Blütenblätter leuchteten wie flüssiger Honig.

Wie Lilys Augen.

Sein Herz füllte sich mit einer plötzlichen, tiefen Wärme. Er zog ein frisches Blatt Papier aus einer der oberen Schubladen, nahm einen Bleistift und fing an zu schreiben... zuerst langsam und hier und da ein Wort durchstreichend, dann flüssiger. Ein Vers, dann noch einer... er schaute auf das Papier und die harmonischen Linien der Buchstaben hinunter und lächelte.

Eine Stunde später – Mitternacht war vorüber und der Frühlingstanz auf der Festwiese lange vorbei – ging er in sein Schlafzimmer. Lily schlief immer noch, aber es war ein unruhiger Schlaf. Er konnte die Träume über ihr Gesicht flackern sehen, und nach einem kurzen Moment des Zögerns schlüpfte er unter die Decke und schlang die Arme um sie. Er summte vor sich hin, und dann formten sich die Worte, die er niedergeschrieben hatte, zu einem Lied... schlicht und süß, erfüllt von leuchtenden Bildern, voller Liebe und Hoffnung. Er war sich nicht sicher, wie viel von diesem Lied seinen Weg in ihren Schlaf fand, aber er spürte, wie sie sich in seiner Umarmung entspannte, und als er den letzten Vers gesungen hatte, küsste er sie auf die Stirn und sah, wie sich ihre Mundwinkel sachte hoben.

*****

12. April 1418

Lily kam eine halbe Stunde, bevor es dämmerte, sicher zu Hause an, geleitet von zwei sehr wachsamen Rittern, und Sam sah zu, wie Frodo Beutlin den Bühl hinaufwanderte, bevor er in sein eigenes Bett zurückkehrte und die Nacht im Beutelhaldenweg beendete. Ein paar Stunden später machte er dem Ohm Frühstück und ging wieder nach Beutelsend; der Tag versprach frisch und klar zu werden. Er kam in die Eingangshalle, sah die offene Tür des Studierzimmers, trat ein... und seufzte.

Herr Frodo saß in dem Sessel hinter seinem Schreibtisch, die Augen geschlossen; er schlief tief und fest. Eine Hand lag auf seiner Brust, die andere hing schlaff über der Armlehne. Auf der Schreibunterlage funkelten eine Halskette und ein Ring in der hellen Morgensonne, beide wunderschön. Er wagte es nicht, sie anzurühren, aber er entdeckte auch das Blatt Papier. Es waren keine elbischen Buchstaben... das war einfaches Westron, und nach einem kurzen Moment des Zögerns siegte Sams Neugier.

Er las den ersten Vers, dann den zweiten und den dritten und den Rest, und langsam breitete sich eine strahlende Freude über seinem Gesicht aus.

„Also, da soll mich doch...“ flüsterte er. „Sonne und Sterne, was werden wohl die Leute dazu sagen?“

Aber während er Herrn Frodos Frühstück in der Küche zubereitete, sang er alle Frühlingslieder, die ihm einfielen, und die Freude blieb in seinen Augen, während er die Würstchen umdrehte und das frische Brot röstete. Sie begleitete ihn den ganzen Tag und wärmte ihn immer noch, als er am späten Nachmittag zum Grünen Drachen hinüberwanderte.

Alles würde gut werden.

******

Aber an diesem Abend, als Sam in der Dämmerung heimging, hörte Frodo das einst so vertraute Klopfen am Fenster seines Studierzimmers.

Freudig überrascht begrüßte er den alten Freund. Sie musterten einander gründlich.

„Na, alles klar?“ sagte Gandalf. „Du hast dich überhaupt nicht verändert, Frodo!“

„Du auch nicht“, antwortete Frodo, aber im Stillen fand er, dass Gandalf doch um einiges älter und ein bisschen mitgenommen aussah. Er setzte ihm mit Fragen zu, wie es ihm gehe und was in der weiten Welt los sei, und bald waren sie tief im Gespräch und gingen noch lange nicht schlafen.

(Aus: Der Schatten der Vergangenheit / Die Gefährten, Buch 1, von J.R.R. Tolkien)


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