Ein Kind im Mittwinter
von Cúthalion


Kapitel 3
Der Griff zum Messer

Als sie die Küche erreichte, stellte sie fest, dass Rory den Kessel tatsächlich über das Feuer gehängt hatte und jetzt neben dem Tisch stand. Das Messer war verschwunden… aber Lily war zu klug, um sich in Sicherheit zu wiegen. Er war noch immer gefährlich, er war immer noch viel größer und starker als sie… und sie war schwanger. Instinktiv spreizte sie beide Hände über ihrem Bauch. Rory bemerkte die Geste, und für einen Sekundenbruchteil begegnete sein flackernder Blick dem ihren. Aber er schwieg.

Der kleine Raum war fast völlig dunkel; alles, was Lily hören konnte, war das leise Sprudeln des kochenden Wassers im Kessel. Das Gesicht des Hobbits vor ihr war blass, seine Augen blutunterlaufen und wild.

„Du wirst sie retten,” sagte er plötzlich. Es war ein Befehl, keine Bitte. „Ich hab schon eine Frau verloren, ich werde nicht noch eine verlieren. Und…” Er schluckte krampfhaft. „--- du wirst keinen Fehler machen, Lily Beutlin. Wenn Rubinie stirbt, oder das Kind…”

Lily sah, dass ein Muskel in seinem Mundwinkel zuckte. Sie wollte Mitleid für ihn empfinden, aber alles, was sie innerlich fühlte, war eine eisige Furcht – für Rubinie und das Kind, für Tulpe und sogar für diese elende Kreatur vor sich. Und für sich selbst. Mit einer gewaltigen Willensanstrengung stieß sie diese Furcht zurück in den Käfig tief in ihrem Herzen; es war keine Zeit dafür.

„Ich werde mein Bestes tun,” sagte sie, „aber ich werde Tulpes Hilfe brauchen. Und du, Rory Wurzelgräber, du bleibst draußen, bis wir dich rufen. Die Gegenwart eines Ehemanns im Geburtszimmer ist nicht sehr hilfreich – um das mindeste zu sagen.”

Sie konnte nur beten, dass sie ihn richtig eingeschätzt hatte. Es gab Väter, die ihre Frauen niemals allein gelassen hätten, egal aus welchen Gründen, und andere, die schon vor dem bloßen Gedanken an blutige Laken und die anderen, weniger appetitlichen Begleiterscheinungen einer Geburt zurückschreckten. Wenn ich nicht sorgfältig genug arbeite, dann gibt es sogar noch mehr Blut als sonst, dachte sie und unterdrückte einen Schauder, und wenn er sieht, dass ich Rubinie den Bauch aufschneide…

„Du solltest gemeinsam mit Rollo warten,” bemerkte sie, während sie einen Krug mit kochenden Wasser aus dem Kessel füllte, „Es ist höchste Zeit, dass du damit aufhörst, dich wie ein verzweifelter Narr aufzuführen und dir auch Gedanken um seine Gefühle machst. Erst lässt du ihn zum Zeugen deiner sinnlosen Wut werden – wie verständlich auch immer – und dann schickst du ihn den Bühl nach Beutelsend hinauf, voller Angst, dass sein Vater möglicherweise den Lehrling der Hebamme umbringt, wenn er nicht rechtzeitig mit mir zurück kommt. Und jetzt sitzt der arme Junge in seinem Zimmer und wartet im Stillen darauf, dass seine Welt untergeht. Was glaubst du wohl, was seine Mutter zu all dem sagen würde?”

Sie wandte sich zur Tür; eine Hand legte sich schwer auf ihre Schulter und zwang sie dazu, stehen zu bleiben. Sie hielt den Atem an.

„Du gehst und rettest Rubinie und das Baby,” grollte Rory, „und ich sorge mich um Rollo.”

„Sehr schön,” gab Lily zurück; sie rang mit einem neuen Anfall von Zorn, der ihre Stimme zittern ließ. „In etwas einer halben Stunde wirst du wieder Vater sein… aber du hast Recht, du solltest wirklich damit anfangen, dir um dein anderes Kind Sorgen zu machen.”

Ihre Blicke begegneten sich und sie milderte ihren Ton.

„Und mach ihm keine Angst,” sagte sie, „Eru weiß, er ist sowieso schon verängstigt genug.”

Sie verließ das Zimmer und ging den Korridor hinunter. Die ganze Zeit wartete sie heimlich auf die Berührung ---

--- einer Hand auf ihrer Schulter, wie in jenen alten, verstörenden Träumen, eine grausame Hand, die sie zurück zerrte, eine verschwitzte Handfläche, die sie niederdrückte… nein, es war Wahnsinn, sich diesen Erinnerungen zu überlassen. Das war lange vorüber.

Sie biss sich auf die Lippen, rang um Fassung und wartete darauf, dass Tulpe sie einließ. Dann seufzte sie tief, schloss die Tür, stieß den Riegel in die Eisenhalterung und lehnte sich von innen gegen das dicke Eichenholz.

Tulpe hatte beide Lampen und jede einzelne Kerze in den Leuchtern angezündet und wartete neben dem Bett, die Hände krampfhaft zusammen gepresst. Ihr Gesicht war beinahe so bleich wie das von Rubinie in den Kissen.

„Hast du ihr den ganzen Mohnsirup gegeben?” fragte Lily.

„Jeden einzelnen Tropfen,” erwiderte Tulpe. „Sie wird schon schläfrig.”

Lily setzte sich auf die Bettkante und nahm Rubinies kalte Finger in beide Hände.

„Du machst jetzt ein Nickerchen, Liebes, und wenn du aufwachst, dann hast du dein Baby,” sagte sie. „Mach dir keine Sorgen. Von nun an ist alles ganz leicht.”

Rubinies braune Augen waren bereits glasig und halb betäubt, aber sie versuchte, sich auf das Gesicht über ihr zu konzentrieren, und für einen Moment war ihr Blick wieder klar.

„Tut… tut mir Leid…” hauchte sie, “für all die Umstände…”

„Oh, nicht doch.” Lily lächelte. „Nächstes Mal klappt es besser, versprochen.”

Nächstes Mal sorge ich dafür, dass du rechtzeitig deine Angst verlierst, anstatt zuzulassen, dass dieser arme Narr sie mit seinen Befürchtungen noch anheizt. Um Erus Willen, ich hätte von Anfang an hier sein sollen, anstatt die ganze Sache allein Tulpe zu überlassen.

„Frau Lily?” Tulpes Stimme bebte. „Was wird Rory jetzt tun?”

„Nichts.” sagte Lily fest. „ich habe die Tür verriegelt, und er hat da draußen einen Sohn, der ihn beschäftigen sollte, bis wir hier fertig sind.”

„Bist du sicher, dass wir…”

„Wie ich schon sagte, uns bleibt keine Wahl.” Lily beugte sich über das Bett, zog die Laken und Decken zur Seite und schob Rubinies Nachthemd hoch, bis der riesige Bauch frei lag. Sie berührte den hervortretenden Nabel mit den Fingerspitzen und zog langsam eine gerade Linie bis hinunter zum lockigen Dreieck der Scham. Hier, dachte sie, genau hier.

Sie stand auf und ging zum Tisch hinüber. Tulpe hatte ihr schärfstes Messer auf einem Tablett zurecht gelegt, das mit einem sauberen, weißen Handtuch bedeckt war. Neben dem Messer warteten zwei kleine Klammern; Lily hatte sie schob vor Monaten bei Andi Hornbläser, dem Hobbinger Schmied bestellt, und sie hatte ihm eine sehr genau Zeichnung mitgeliefert, wie sie geformt sein sollten. Sie sah außerdem ihre feinste Nadel und den dünnen Faden, den sie immer benutzte, wenn sie eine kleine Geburtswunde schließen musste. Sie stellte fest, dass sie schwach lächelte; Tulpe mochte verängstigt sein, aber sie hatte ganz offensichtlich nicht den Kopf verloren, und sie hatte Lilys zahllose Lehrstunden über die Notwendigkeit von Reinlichkeit nicht vergessen.

Sie seifte ihre Hände ein und spülte sie in der großen Schüssel ab, die jetzt mit heißem Wasser gefüllt war.

„Reib Rubinies Haut unterhalb vom Nabel mit dem Alkohol aus der großen Flasche ein,” sagte sie, „und dann wasch dir auch die Hände. Du musst diese Klammern benutzen, sobald ich es dir sage.”

„Um… um w-was zu tun?”

Lily hob den Kopf und sah ihren Lehrling durchbohrend an. Tulpes Gesicht war kreideweiß und ihre Lippen zitterten.

„Tulpe.” Sie biss die Zähne zusammen, brachte es aber irgendwie fertig, dass ihre Stimme ruhig blieb. „Wag es bloß nicht, jetzt zusammenzuklappen – denn wenn du das tust, dann muss dir rechts und links eine herunterhauen, und dann darf ich mir die Hände gleich noch einmal waschen. Ich werde dir genau sagen, was du damit tun sollst. Und wir sollten es tun, bevor Rory völlig außer sich gerät und versucht, die Tür aufzubrechen.”

„Lily Beutlin!” Rorys Stimme von draußen, wie eine Bestätigung ihrer Ängste. „Was macht ihr da drinnen? Wieso ist die Tür verriegelt?”

„Um dich davon abzuhalten, dass du hier herum trampelst und mich davon abhältst, meine Arbeit anständig zu tun,” sagte Lily, ihre Stimme kalt und klar. „Jetzt geh und nach dir und Rollo einen Tee, und gib dem armen Jungen etwas zu Essen; er muss hungrig sein.”

Sie wandte sich wieder Rubinies Bauch zu und streckte die Hand nach dem Messer aus. Der schlanke Horngriff fühlte sich an ihrer Handfläche kühl und beruhigend an. Herrin der Sterne, betete sie, führ mir jetzt die Finger. Lass nicht zu, dass ich etwas vergesse. Lass mich keinen Fehler machen. Bitte.

„Lily Beutlin!” Das war nicht die Stimme eines Hobbits, sondern das tiefe Knurren eines wilden Tieres. „Mach diese Tür auf!”

Und halt ihn draußen fest, bis das Baby geboren ist, und ich verspreche, dass ich nie wieder versuche, die einsame Heldin zu spielen.

Sie schloss sekundenlang die Augen, dann holte sie tief Atem und machte den ersten Schnitt.


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