Das Vermächtnis (The Legacy)
von Anglachel, übersetzt von Cúthalion

4. Kapitel
Verhältnisse

Abends, Hochtag am 9. Tag des Halimath

Bilbo war sich sicher, dass jeder Bissen, den er an der Tafel nahm, bitter schmecken würde. Nachdem er sich von Rory getrennt hatte, war er hinaus zum Fluss gewandert, hatte einen abgelegenen Felsen gefunden und sich hingesetzt. Es war ein langer Nachmittag gewesen. Er wusste, dass er hungrig sein sollte, aber er war es nicht. Bilbo wusste, dass er nicht wie Rum war, aber in ,liederlich’ und ,pervers’ schien es eine Menge Raum zu geben, genug um Vorurteile über beides zu fördern.

Genau wie gestern saß er zur Rechten Gildas auf dem Ehrenplatz an der Tafel des großen Speisesaales. Die Art, wie diese Tafel gebaut war, hatte ihm immer gefallen; lang genug, um weit in den Raum hineinzureichen, aber auch breit, so dass Platz war für mehr als einen am Kopf- und am Fußende. Die Tradition, die bis zum Tiefgräber zurückreichte, verlangte, dass der Herr und die Herrin am Hochtag Seite an Seite am Kopfende der Tafel saßen. Ein Gast würde neben der Herrin sitzen, damit sie ihm auftun konnte. Die Tradition besagte auch, dass die erste Portion, die sie servierte, von ihrem eigenen Teller kam.

Gilda erlaubte einen stillen Küchenmädchen, ihr Gedeck vorzubereiten, dann hob sie sehr entschlossen einen Löffel mit breitem Stiel hoch. Sie stützte ihr zitterndes, rechtes Handgelenk mit der Linken und tauchte den Löffel in einen Berg püriertes Wurzelgemüse; ein wenig Butter tröpfelte von einer Vertiefung auf der Spitze an den Seiten hinunter. Der Löffel durchbrach den Rand und die gelbweiße Flüssigkeit floss über den blassorangefarbenen Brei. Jetzt schnitt der Löffel in die Seite, zuckte leicht nach oben und kleine Breiteilchen flogen hoch und fielen auf den Tisch. Bilbo hörte keinen Moment damit auf, Gilda anzulächeln. Er hatte bemerkt, wie ihre Lippen schmal wurden, als ihre Hand zuckte. Langsam bewegte sich der Löffel zu seinem Teller hinüber. Er wusste es besser, als ihn zu ihr hinüber zu schieben. Der Gemüsebrei konnte genauso gut in seinem Schoß enden wie in seinem Teller, wenn er ihr auf diese Weise die Würde nahm. Einen Moment später war der Löffel über seinem Teller und sie benutzte beide Hände, um ihn umzudrehen. Der zähe, von der Butter geschmeidige Brei löste sich und fiel mit einem leisen „Plopp“ auf seinen Teller. Gilda wandte sich an das Küchenmädchen und bedeutete ihr, den Teller des Gastes zu Ende zu füllen.

Ein Ausbruch von Gelächter brandete den Tisch hinauf. Am Fussende saß, wie die Tradition es verlangte, der Erbe des Herrn und entweder seine Frau oder das nächstältere Familienmitglied. Sara schlug auf den Tisch, schüttelte den Kopf über etwas, das sein Bruder Mac gerade gesagt hatte und schnappte zwischen jedem Lachanfall nach Luft. Esmie bedeckte den Mund mit einer Hand und kicherte mit. Mac saß rechts von ihr, genau wie Bilbo bei Gilda. Die beiden Brüder boten einen beeindruckenden Anblick. Durch ihr Tukerbe leichter gebaut als die meisten aus ihrer Brandybock-Sippe, waren sie immer noch große Männer und überragten die meisten Verwandten am Tisch um mehrfache Fingerbreite. Genau wie bei Frodo verlieh ihre schlanke Gestalt ihnen eine eher grazile Erscheinung, und die Hofarbeit fügte dem ziemlich eindrucksvolle Muskeln hinzu. Ihr Haar war kastanienbraun, mit roten Glanzlichtern durch die Sonne. Es waren die Gesichter, in denen ihre Verwandtschaft am deutlichsten zu Tage trat. Sie sahen beinahe aus wie Zwillinge. Ihre Gesichtshaut waren gerötet, obwohl Macs Farbe vom Wetter stammte, nicht aus dem Trinkhumpen. Aber ihr Lächeln war dasselbe, ebenso wie die Lachfältchen, und das lockige Haar fiel auf die selbe Weise über ein Auge.

Bilbo konnte gerade eben noch das obere Ende von Merrys Kopf und seine großen, braunen Augen sehen, während er zwischen Esmie und Sara auf ihrer Bank saß. Das Kind beobachtete gespannt, wie die Platten um den Tisch herumgereicht wurden und wie das Essen sich auf den Tellern seiner Eltern häufte. Ohne mit der lärmenden Geschichte innezuhalten, die er Mac gerade erzählte, brach Sara etwas Brot von einem Laib ab, stippte das Ende in ein wenig Soße und reichte es seinem Sohn zum Knabbern, während die Mahlzeit serviert wurde. Obwohl er mit dem linken Arm wild herumwedelte und in einer Sekunde den Küchenjungen und in der nächsten seinen Nachbarn bedrohte, ruhte Saras rechte Hand sanft auf Merrys Hinterkopf, und die Finger streichelten beruhigend sein Haar. Merry grub die Zähne mit Genuss in den soßendurchweichten Brotbrocken und hatte bald darauf jede Menge Soße im Gesicht. Esmie erwischte die schlimmste Tropferei mit einem Taschentuch und ließ den Rest für das Bad vor dem Schlafengehen übrig.

Bilbo richtete die Aufmerksamkeit auf seinen eigenen Teller. Ob ich ihn mag oder nicht, er hätschelt seine Kleinen, und er ist gut zu ihnen. Bilbo kratzte den Gemüsebrei zusammen und fand ihn nicht bitter, obwohl er keinen Appetit hatte. Er spülte den Bissen rasch mit ein wenig von Rorys ausgezeichnetem Wein herunter. Rory bearbeitete seinen eigenen Teller und schnitt sorgsam das Fleisch. Als er zufrieden war, legte er die mundgerechten Stücke auf Gildas Teller, damit sie es nicht nötig hatte, sich mit einem Messer herumzuschlagen. Bilbo wusste, dass sie niemandem sonst erlaubt hätte, das für sie zu tun. Rory verschaffte sich einen schnellen Überblick über das Gedeck seiner Frau, sah, dass nichts übrig war, mit dem sie nicht zurechtkam oder was ihre Würde ihm nicht zu berühren erlaubte, und wandte sich wieder seiner eigenen Mahlzeit zu. Wenn man es so betrachtete, schien Respektabilität etwas Schönes zu sein.

„Also, was habt ihr beide besprochen, während Ihr euch den ganzen Tag in Rorys Studierzimmer eingeschlossen habt? Wie ihr heute Nacht die Küche ausräubert, kein Zweifel.“

Bilbo setzte einen überaus mutwilligen Gesichtsausdruck auf und blinzelte Gilda zu. „Ganz genau, aber erzähl es nicht der Köchin, oder sie erwartet uns mit einem großen Holzlöffel. Oder mit einem Krückstock.“ Er schnippte ein wenig Karotte in seinen Mund und ließ seine Augen zwinkern. Wie er es gehofft hatte, lachte Gilda und gab ihm einen Klaps auf den Arm. Ein Blick auf Rory zeigte ihm einen wachsamen Gesichtsausdruck.

„Ich schwöre, Ihr seid schlimmere Lausejungen als mein Enkel.“ schalt sie.

„Merry oder Merle?“

„Frodo! Er mag nicht wirklich mein Enkel sein, aber er ist trotzdem einer. Und diese beiden anderen wären ganz genauso schlimm, wenn sie genauso groß wären.“

Bilbo wollte nicht über Frodo reden, nicht vor Rory. „Gilda, meine Liebste, ich bin ein schlechter Kerl. Ich habe dir noch gar keinen anständigen Besuch abgestattet.“ Sie gluckste und tätschelte seinen Arm.

„Ich werde schon ein paar Tage durchhalten. Du hast also noch Zeit.“

„Oh, du hast noch viel mehr als nur ein paar Tage. Du hast noch viele Jahre vor dir.“

Gilda fixierte ihn mit einem missbilligenden Blick. „Wann bist du ein Heiler geworden, Beutlin?“ fragte sie ihn. „Wie kannst du wissen, was mir bleibt? Ich bin ein Heiler, und ich weiß, dass mir nicht mehr so viele Tage bleiben. Du magst so lange leben wie Gerontius, aber ich werde es nicht.“ Ihre Finger bebten auf seinem Arm und ihre Augen forderten ihn heraus, ihr zu widersprechen.

„Nun, Gilda, ich nehme an, das wirst du nicht, obwohl ich wünschte, es wäre so.“ erwiderte er. Sie sahen einander eine Weile an, dann legte Rory eine Hand auf ihren Arm und drückte ihn. Bilbo hob ihre Hand hoch und tupfte einen raschen Kuss auf ihre Finger. „Aber, mein liebliches Mädchen, Tatsache bleibt, dass ich ein Flegel gewesen bin und darin versagt habe, dich anständig zu grüßen und dir meine Dienste anzubieten, Herrin des Schlosses und Königin dieses Reiches.“

„Bilbo Beutlin, du bist der unverbesserlichste Schwerenöter, den das Auenland je gesehen hat, und ich bin nicht sicher, wie ich deinem Zauber je widerstanden habe.“

„Du warst vorübergehend schwachsinnig, bist auf diesen holzköpfigen Narren hereingefallen und hast ihn geheiratet, bevor ich wieder etwas Verstand in dich hineinreden konnte, meine Liebste, wie du sehr wohl weißt, nachdem du für immer mein Herz gebrochen und mich für jedes andere Mädchen verdorben hast.“ erwiderte Bilbo leichthin und versenkte sich in den Braten auf seinem Teller. Und was, wenn ich härter gekämpft hätte? Wenn ich nicht so großzügig gewesen wäre in meiner Niederlage? Wenn es mir möglich gewesen wäre, dich umzustimmen? Er betrachtete seine beiden ältesten und liebsten Freunde und schalt sich selbst für solch unwürdige Gedanken. Er hob sein Glas in Richtung Rory und Gilda. „Auf Eure Gesundheit und Euer Glück, liebe Freunde. Möge beides lange andauern.“ Er sah, wie sie einander scheu anlächelten, dann küsste Rory sie auf die Wange.

„Schaut Euch die Turteltauben an!“ kam ein Ausruf vom anderen Ende des Tisches. Sara, der einen Arm um Esmie gelegt hatte (die jetzt Merry festhielt), hob sein Glas sehr hoch, schnell von Mac begleitet. „Ein Prosit auf die Turteltauben vom Brandyschloss!“ krähte er. Die Tafel fiel in den fröhlichen Ruf ein und prostete dem Herrn und der Herrin zu. Rory verbeugte sich von seinem Stuhl aus und drückte einen weiteren langen Kuss auf die Wange seiner Frau, begleitet von den Jubelrufen, dem Gejohle und dem Auf-den Tisch-Trommeln im Saal. Bald klang der Lärm ab zu dem üblichen Durcheinander von Gelächter, plaudernden Erwachsenen, weinenden Kindern, brüllenden Zwanzigern, herumgereichten Platten, dem Klirren und Klappern von Geschirr, dem Rücken von Stühlen und Bänken und sogar dem gelegentlich bellenden Hund.

Bilbo stellte sicher, dass sich immer eine Gabel oder ein Glas dicht vor seinen Lippen befand, damit er einen vollen Mund haben konnte und damit einen Grund, nicht zu reden. Seine Augen fanden Frodo am Tisch der Jüngeren heraus. Da war es, das Zeichen des Alten Tuk. Die Art, wie das Auge geschnitten war, eine Linie des Kinns, die Art, wie sich ein Lächeln auf seinem Gesicht formte, es war das selbe wie bei Sara und Mac. Das selbe wie bei Esmie, Pal und Rum. Frodos Farbe war die eines Beutlin, aber das schien keinen starken Unterschied zu machen. Es ist als ob Gerontius entschieden hätte, zurückzukehren, ein klein wenig zu jeder Zeit, und als ob er plötzlich in dieser Generation angekommen sei. Um das Auenland auf die Schwierigkeiten vorzubereiten. Bei diesem Gedanken unterdrückte Bilbo einen kleinen Schauder.

Er sah, wie Frodo zu einem der Zwanziger weiter den Tisch herunter gestekulierte und mit ihm sprach. Der Junge zog die gesamte Aufmerksamkeit auf sich, obwohl er der Jüngste am Tisch war. Bilbo lächelte ein wenig, dann zog er eine Grimasse und schaute auf seinen Teller hinunter. Warum lassen sie mich überhaupt in die Nähe des Jungen, wenn sie sich solche Sorgen um seinen Ruf machen? Der ist so zerbrechlich wie die Tugend eines Mädchens, aber vielleicht noch in Ordnung zu bringen. Meiner ist jenseits aller Widerherstellung. Er warf noch einen verstohlenen Blick auf seinen Jungen; plötzlich fühlte er sich selbst leicht dreckig. Er wollte nicht offen hinschauen, aus Furcht, Frodo schon mit einem Blick seiner Augen zu beschmutzen...

Das würde so nicht gehen. Sein Gespräch mit Rory hatte ihn völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Ich bin ohne guten Grund schwermütig. Ich habe aus meinem Leben gemacht, was es ist, und jetzt gibt es kein Zurück mehr. Wenn du ein Weib und Kinder gewollt hättest, Beutlin, du hättest sie haben können. Fang nicht an, dem hinterherzuseufzen, was du nicht wirklich haben möchtest. Diese Art zu denken wird niemanden auf die Zeiten vorbereiten, die auf uns zukommen. Hör mit dem Selbstmitleid auf und schau dem entgegen, was dir zufällt. Das Auenland braucht Anführer und Frodo muss respektabel sein.

Das war es, was zählte. Rory hatte Recht gehabt. Es war nicht seine eigene Ehrbarkeit, und was die Leute über Bilbo Beutlin dachten, worüber er sich Sorgen machen sollte. Das hatte er auch früher nicht getan, also warum jetzt damit anfangen? Es war nur die Ehrbarkeit des Jungen, auf die es ankam. Und wenn das hieß, dass er sich selbst verleugnete, dann sollte es so sein. Nicht, dass er seinen Jungen vernachlässigen würde, oh nein.

Bilbo machte sich eine geistige Notiz, darum zu bitten, sich bald Frodos Zimmer ansehen zu dürfen. Er wollte inspizieren, was der Junge besaß. Falls Sara das Kind bestahl... nun, es gab Wege, Geschenke so zu geben, dass man sie ihm nicht mehr wegnehmen konnte. Er würde den Zustand und die Anzahl seiner Kleidungsstücke feststellen müssen, ob er Bücher hatte und viel Papier, Federn und Tinte, ob er Spielzeug besaß und andere Dinge, die Jungen gern um sich hatten. Vielleicht war es zu gefährlich, Frodo bei sich zu behalten oder ihm seine allzu offene Aufmerksamkeit zuzuwenden, aber der Junge würde um nichts bitten. Bilbo nickte sich selbst zu und dankte dem Küchenmädchen für eine weitere Portion Braten. Sein Appetit kehrte ein klein wenig zurück.

Wieder wehte Gelächter zu seinem Tischende hinauf und er schaute in Saras Richtung. Der Bursche war jetzt deutlich angeheitert, nicht dass er es weit hatte bis dahin, und er hatte Esmie dicht an seine Seite gezogen. Merry war nirgendwo zu sehen. Saras Arm lag um ihren Nacken, und seine Fingerspitzen rieben und kneteten die Oberseite ihres Busens. Esmie schien seine lässige Fummelei nicht einmal zu bemerken, während sie mit Nassy Wühler, Macs Frau plauderte. Ihr Junge lag im Alter zwischen Merle und Merry. Er saß auf dem Schoß seiner Mama, ignorierte sämtliche Gespräche rings um sich her und aß mit großer Entschlossenheit. Nassy war eine kleine, einfache, anspruchslose Frau, die in Angst vor Gilda und in Ehrfurcht vor Esmie lebte.

Bilbo runzelte die Stirn. Wühler? War es nicht irgendein Wühler-Junge gewesen, der Frodo Saras Pfeife geklaut hatte? Bilbo schaute wieder über den Tisch der Jungen. Jetzt sahen die Zwanziger, die dort saßen, nicht mehr so ehrlich oder gesund aus. Ihre Robustheit wurde zu Grobheit und ihre gebräunten Gesichter wirkten rot angelaufen und gemein. Ein paar von Euch haben meinen Jungen schlecht behandelt. Bilbo wünschte sich, er wüsste besser, wer sie waren, damit er die Schuldigen herausfinden konnte. Dann bemerkte er, dass Frodo nicht mehr mit ihnen zusammen saß. Er durchsuchte den Raum, einmal und noch einmal. Kein Frodo. Bilbo war drauf und dran, sich zu entschuldigen und festzustellen, wo der Junge abgeblieben war, als er aus dem Augenwinkel einen gelben Fleck wahrnahm. Er stellte sich als die gelbe Zier an dem Kragen und den Manschetten von Frodos Hemd heraus. Der Junge stand hinter dem Fuß der zentralen Tafel , einen sehr schmuddeligen Merry in den Armen. Sein eigenes Hemd sah jetzt nicht besser als das Hemd des Kleinen aus; es schien, als hätte er ihn vom Fußboden unter der Bank aufgelesen. Der Kleine plapperte auf seinen großen Vetter ein, patschte ihm auf Schultern und Brust (wobei er Essensreste und Schmutz auf Frodo hinterließ) und war sehr zufrieden, der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit seines angebeteten Vetters zu sein.

Nicht, dass Frodo ihm tatsächlich viel Aufmerksamkeit widmete. Die Augen des Jungen hingen an Saras Arm, der um Esmies Nacken lag. Bilbo versuchte, Frodos Blick auf sich zu ziehen. Einen Moment später sah Frodo ihn an. Als Bilbo sicher war, dass er ihn wahrnahm, schaute er betont in die Richtung von Sara und Esmie, dann zurück zu Frodo und hob eine Augenbraue. Frodos Lippen wurden schmal, aber er nickte kaum merklich und ging mit Merry zum Tisch der Kinder zurück. Bilbo beobachtete, wie er sich neben Merle setzte und anfing, mit den Kleinen zu plaudern. Gleich darauf sah er, dass Frodo offenbar eine Geschichte erzählte, um sie zu unterhalten. Na, was das angeht, kommt er nach mir. dachte Bilbo zufrieden. Er nippte an seinem Wein und sah Frodo zu.

Ein Kribbeln im Rücken machte ihm klar, dass er ebenfalls beobachtet wurde. Er schaute langsam den Tisch entlang, bis seine Augen denen von Sara begegneten. Sara starrte ihn durchbohrend an, blickte über seine Schultern zu Frodo hinüber, der seine Geschichten erzählte, dann fing er Bilbos Blick wieder ein und grinste. Jeglicher Appetit, den Bilbo wiedergewonnen haben mochte, war dahin. Er starrte zu Sara zurück, bis der endlich die Augen senkte, aber das Grinsen schwand nicht aus seinem Gesicht. Statt dessen beugte er sich über Esmie und liebkoste ihr Ohr , während seine Hand weiter eine Brust hinunterglitt, die Fingerspitzen gerade so eben unter der Stoffkante. Bilbo sah, wie die Hand zudrückte, wie Esmie kicherte und den Kopf senkte, damit er sein Gesicht an ihrem Hals reiben konnte, sah, wie Sara noch einen verstohlenen Blick in seine Richtung warf.

„Verwandte, Freunde, allerbeste Hobbits aus dem überaus großzügigen Bockland!“ Bilbo war nicht völlig sicher, wie es kam, dass er plötzlich auf den Füßen stand, aber da war er nun, und jetzt musste er weitermachen. „Ich möchte Euch allen danken, und ganz besonders meinem Vetter Rorimac, dem Herrn von Bockland (Jubelgeschrei und Beifallsrufe), und seiner stets so freigiebigen Frau Menegilda, unserer geliebten Herrin von Bockland (beinahe noch lauterer Jubel), für ihre großzügige Gastfreundschaft in den letzten beiden Tagen.“ Bilbo trat von Tisch zurück und verbeugte sich formvollendet und feierlich vor Rory und Gilda. Rory schaute ziemlich verwirrt drein, und Gildas Starren enthielt einen Hauch von Misstrauen; sie waren allzu oft die Zielscheibe seiner Streiche gewesen, um sich völlig wohl zu fühlen, wenn der Verrückte Beutlin ihnen seine Aufmerksamkeit zuwandte.

Bilbo schaute sich im Raum um, ein fröhliches Grinsen im Gesicht, das sein Herz nicht erreichte,. Der Raum summte immer noch von Stimmen, war aber etwas ruhiger geworden, während die Verwandten und Besucher darauf warten, dass Bilbo irgendetwas Eigenartiges zu ihrem Vergnügen unternahm. Er sah, dass Sara ihn in beschwipster Verwirrung beobachtete und die Hand aus Esmies Bluse zog. Bilbo spürte eine Aufwallung von Zorn; er grinste noch breiter und zeigte dabei beinahe so viele Zähne wie Smaug. Sie haben Unrecht. Verdammt will ich sein, wenn ich mich demütigen und von meinem Jungen forttreiben lasse. Nicht von jemandem, der bei Tisch seine Frau begrapscht. Er ließ zu, dass der Zorn seine Scham verbrannte. Bilbo schaute an Sara und Esmie zum Kindertisch hinüber und streckte die Hand aus.

„Und ebenfalls meinen Dank an meine Vettern und all die anderen jungen Burschen und Mädel von Brandyschloss, die mich diese letzten paar Tage ziemlich auf Trab gehalten haben mit Wünschen nach Geschichten und Liedern. Ihr habt euch die ganze Mahlzeit über gut benommen, also denke ich, es ist Zeit für eine Belohnung, meint Ihr nicht?“ Die Kinder kreischten „Ja!“ und fingen an, herumzuhüpfen. Bilbos Zorn schwand angesichts ihrer unschuldigen Freude, und er klatschte in die Hände, um ein wenig Ruhe herzustellen. „Sehr schön, was sollen wir singen?“ rief er ihnen zu; er wusste, dass dies eine ganze Menge von den Erwachsenen verärgern würde, während es sämtliche Kinder entzückte. „Wie wär’s mit ,Bauer Blasebalgs Viecher’?“ Ein Freudenschrei kam vom anderen Ende des Raumes, und nicht wenig entsetztes Aufstöhnen von den Älteren. Die Zwanziger an der Seite schauten ziemlich erfreut drein, da dies bedeutete, dass sie die Erlaubnis hatten, jede Menge Lärm zu machen, denn wer würde zum Verrückten Beutlin schon Nein sagen?

Bauer Blasebalgs Viecher wollen mit zum Fest,

begann Bilbo, und Frodo führte die Kinder dabei an, die zweite Zeile zu schreien,

weshalb er sie niemals zu Hause lässt!

Es folgte ein allgemeines Chaos. Bilbo sang die Anfangszeilen und die Kinder wiederholten sie im Chor. Bald war der Speisesaal erfüllt von den Geräuschen der Kleinen, die die Rufe der Stalltiere nachahmten, die Bauer Blasebalg mit auf das Fest brachte. Nach anfänglichem Stöhnen machten die meisten Erwachsenen den Spaß mit. Seine Vettern Wilifred und Wilibard Bolger, die Söhne von Wilibold und Prisca, fügten ihre tiefen Ochsenfrosch-Stimmen dem „Oink!“ der Schweine und dem „Bääh!“ der Ziegen hinzu, sehr zum Entzücken der Kinder.

Bald rannten überall Kinder hin und her und sangen oder schrieen einfach herum. Bilbo sah, wie Frodo mit Merle sprach, und sie hüpfte den ganzen Weg vom Kindertisch zu Bilbo hinüber und streckte die Arme nach ihm aus, damit er sie hochhob. Er schwang sie auf seine Hüfte hinauf, ohne eine Note auszulassen, und die beiden sangen das Lied zusammen, bis ihnen die Tiere ausgingen. Als der Gesang aufhörte, erstarb der Aufruhr in der Halle langsam und die Eltern fingen an, ihren aufgeregten Nachwuchs zu beruhigen. Ein paar der Zwanziger veranstalteten einen Wettbewerb, wer mit der tiefsten Stimme grunzen konnte, während die Mädchen wie verrückt kicherten. Die Bolger-Brüder lehnten sich von ihren Plätzen an der Haupttafel nach hinten und boten Ratschläge und Beispiele an.

Bilbo, der Merle immer noch auf dem Arm hielt, näherte sich Gilda. Sie schüttelte den Kopf. „Ich hätte wissen sollen, dass du so etwas machst, du junger Unruhestifter!“ Aber sie lachte ein bisschen und Rory grinste.

„Ich entschuldige mich für die Aufregung, aber die Kinder sahen aus, als würden sie sich langweilen.“ sagte Bilbo zwinkernd.

„Die Kinder?“ rief Rory aus. „Du selber, oder etwa nicht? Du bist doch nicht glücklich, bis du der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit bist, je lauter desto besser!“ Bilbo schüttelte angesichts dieses Vorwurfs die Schultern und ließ Merle sich herunterlehnen, damit sie ihrer Oma einen Kuss geben konnte, bevor er ging, um sie Esmie zurückzubringen. Überall rings herum im Raum sammelten Eltern ihre Kinder ein und riefen Abschiedsworte, während sie sich auf den Weg nach Hause oder in ihre Räume machten. Ein paar hielten ihn auf dem Weg die Tafel hinunter auf, um ihn zu grüßen, Merle in die Wange zu kneifen und ihnen Gute Nacht zu wünschen.

Als er damit zu einem Ende kam, hatte Sara Merry von Frodo zurückgeholt und den Jungen auf seine Schultern gesetzt, wo er mit den Füßen stieß, seinen Papa an den Haaren zog und vor Begeisterung krähte, weil er der Größte im Saal war. Bilbo reichte Merle zu Esmie hinüber und schaute sich schnell nach Frodo um. Der Junge stand ein paar Fuß hinter Sara, halb im Schatten eines der Stützpfeiler verborgen. Er schenkte Bilbo ein breites Grinsen zum Dank dafür, dass er die Versammlung gesprengt hatte. Mac und Nassy gluckten ein paar Meter weiter über Berry und versuchten, das Kind zu beruhigen, damit sie es für die Heimfahrt einpacken konnten.

„Schön, Vetter Bilbo,“ dröhnte Sara, „das war wirklich sehr unterhaltsam. Wir werden eine höllisch harte Zeit haben, die beiden heute Nacht zur Ruhe und ins Bett zu bringen!“ Er hob und senkte die Schultern, um Merry zum Hüpfen zu bringen; der Junge kreischte und krallte sich fester in Saras Haar, obwohl das dem Mann nichts auszumachen schien. Es sah aus, als sei er während es Liedes ein wenig nüchterner geworden. „Ich hoffe bloß, dass du vielleicht noch etwas anderes singst, bevor du nach Hause gehst.“ fuhr Sara mit listigem Gesichtsausdruck fort. „Lieder für die Jungen sind schön und gut, aber manche von uns mögen erwachsenere Kost, etwas, das ein bisschen... voller oder runder ist.“ Saras Augen glitzerten bösartig. „Aber wie ich höre, amüsierst du dich mit Kindern, deshalb bist du mit einem guten Liebeslied nicht so vertraut. Du weißt schon, die Sorte, die ein einsamer junger Kerl singen würde, um sein hübsches Mädel zu umwerben.“

„Oh, ich kenne solche Lieder ziemlich gut, lieber Vetter.“ antwortete Bilbo glatt. „Ich habe mehr Erfahrung damit als du dir wahrscheinlich vorstellen kannst, aber das sind nicht immer die besten, um sie beim Abendessen zu singen. Die können einen ziemlich in Verlegenheit bringen, weißt du?“ Die Art, wie sich Bilbos Augenbrauen sträubten, hätte einem Zauberer zum Stolz gereicht, obwohl er einen leichten Ton beibehielt.

„Aber die Mahlzeit ist vorüber und der Abend ist noch nicht zu Ende! Ich denke , es wäre spaßig, zu hören, wie du dich an einem solchen Lied versuchst, Vetter.“ höhnte Sara.

„Eine Herausforderung, die ich nicht zurückweisen kann, Vetter,“ erwiderte Bilbo. „Hier ist eines, das ich mir ausgedacht habe, als ich heute Abend beim Essen saß.“ Und Bilbo begann zu singen:

Im einsamen Gasthof an der Straße zum Fluss
Lebt `ne Dame, so schwört man, die ist ein Genuss
´ne unglaubliche Schönheit, so sagte man mir
und ich sagte mir selbst: „Die angelst du dir!“

Die Laster des Wirts sind in aller Munde
liebt sein eigenes Bier zu jeglicher Stunde
kippt Krug über Krug sich in den Hals –
doch genug zu verkaufen bleibt ihm jedenfalls.

Ich stand wartend am Tor, bis er sturzbetrunken
anstatt in sein Bett zu Boden gesunken
Und während sein Schnarchen mich umdröhnte
Erblickt ich das Weib, das heiß ich ersehnte
Die schöne Dame mit dem feurigen Haar
Die mich zu begleiten höchst willig war

Und wir schlichen uns dorthin, wo niemand uns störte
Und wo die Schöne mir alsbald ganz gehörte
Der Wirt merkt es nicht, sie kredenzt ihm sein Bier
Bald schnarchte er wieder, und sie kam mit mir
Gemeinsam stahlen wir uns noch einmal fort
Zu fröhlicher Liebe an heimlichem Ort.

Ich fürchte, das ist alles, was ich zustande gebracht habe, während ich heute Abend hier saß. Ein paar mehr Mahlzeiten wie diese und ich bin sicher, es gäbe ein ziemlich hübsches Lied zu singen.“ schloss Bilbo munter. „Scheinbar war ich ungeheuer inspiriert, und ich bin sicher, ich finde noch mehr Inspiration, je länger ich bleibe.“ Er strahlte in Saras und Esmies schockierte Gesichter und stellte fest, dass Frodo genug Verstand besessen hatte, sich hinter der Säule außer Sichtweite zu ducken.

„Ich finde dieses Lied überhaupt nicht komisch, Bilbo.“ sagte Esmie endlich mit erstickter Stimme. Sie wandte sich ab und rauschte aus der Halle, Merle an sich gepresst. Sara starrte auf ihn herunter, das Gesicht endlich einmal von etwas anderem gerötet als vom Trinken.

„Ich glaube nicht, dass du noch einmal singen solltest.“ knurrte er. Seine Hände umklammerten Merrys Beine mit hartem Griff und das Kind quietschte ein wenig bei dem Gefühl. Sara schien es nicht zu merken. Merry fing an zu weinen. „Tatsächlich denke ich, alter Mann, dass du so bald wie möglich nach Hause gehen solltest.“ fuhr Sara in drohendem Tonfall fort und ignorierte Merrys Tränen.

Bilbo erlaubte sich, einiges von seiner kalten Wut zu zeigen. „Ich denke, du solltest besser lernen, nicht vor dem gesamten Schloss aus deiner Frau eine Dirne zu machen, du gedankenloser Junge. Und was das Nachhausegehen angeht, ich bin beim Herrn zu Gast, und nur sein Wohlwollen allein regiert diesen Smial. Jetzt schaff deine betrunkene Visage hier heraus, bevor du dich noch mehr zum Narren machst. Du bringst Schande über deinen Vater.“

Sara grollte tief unten in der Kehle, aber er tat, wie ihm geheißen und stampfte von dannen, einen weinenden Merry auf seinen Schultern. Bilbo beobachtete, wie er sich trollte. Aus dem Augenwinkel sah er eine kleine Bewegung, und er drehte sich um und entdeckte einen ziemlich bleichen Frodo neben seinem Ellbogen, der Saras Auszug ebenfalls mit ansah. Einen Moment später wandte Frodo sich ihm zu, um ihn anzuschauen. Bilbo wartete darauf, dass der Junge zuerst sprach.

„Hast du dir das wirklich bloß ausgedacht? War das nicht etwas, das du irgendwo gehört hast?“ fragte Frodo in gedämpftem Tonfall.

Bilbo grinste ziemlich boshaft. „Ganz spontan erfunden, mein Junge.“

„Das hättest du vor Esmie nicht sagen sollen!“ zischte Frodo mit einiger Hitze.

Bilbo ließ sein Grinsen fahren und seinen Zorn deutlich sehen. Frodo trat einen Schritt zurück, bestürzt über den Ausdruck auf Bilbos Gesicht. „Ich habe nicht mehr gesagt, als das Mädel hören musste. Du hast erst gestern Abend selbst gemeint, dass die Art, wie die beiden sich benehmen, unziemlich ist. Es ist nicht an dir, davon zu sprechen, aber als älterer Verwandter von beiden ist es an mir, das zu tun. Ich bezweifle, dass Sara genug Verstand hat, zu begreifen, aber ich möchte hoffen, dass Esmeralda sieht, was für ein Spektakel sie veranstaltet. Die beiden sollten sich besser glücklich schätzen, dass ich nicht getan habe, was ich eigentlich vorhatte und das Lied vor vollem Publikum gesungen habe.“

Frodo war entsetzt. „Das hättest du nicht!“

„Ganz sicher hätte ich das, und ganz sicher werde ich das, wenn sie sich nicht auf ihre Manieren besinnen und sich in der Öffentlichkeit ein bisschen respektabler aufführen!“ schoss Bilbo zurück. „Ich lasse nicht zu, dass dieser Trunkenbold mich verunglimpft und damit davonkommt.“

„Womit hat er dich verunglimpft, Onkel Bilbo?“ fragte Frodo verwirrt.

Bilbo wurde klar, dass Frodo den Wortwechsel vor dem Lied entweder nicht gehört oder nicht verstanden hatte. Idiot! Sei vorsichtig! Es nützt nichts, den Jungen in deine Kämpfe hineinzuziehen! Er holte tief Luft und gab seine Antwort mit Bedacht. „Nun, vielleicht war ,verunglimpfen’ das falsche Wort, Frodo. Ich hätte ,beleidigen’ sagen sollen, und es hat mich schwer beleidigt, mit ansehen zu müssen, wie er Esmie begrapscht, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wer dabei zuschaut... vor allem mit den vielen Kindern hier.“

Frodo zog ein Gesicht und starrte in die Richtung, in die Sara verschwunden war. „Also, das sehe ich genauso. Er sollte sich benehmen. Mac tu so etwas nicht, genauso wenig wie Onkel Rory. Es ist nicht so, dass er keine guten Vorbilder hat, oder dass er nicht gut erzogen wurde.“

Bilbo war leicht amüsiert über die tugendhafte Empörung des Jungen. Frodo warf ihm einen anklagenden Blick zu. „Und du hättest das nicht Esmie vorsingen sollen. Das war sehr rüde.“

„Ich bin ein alter Mann, ich habe das Recht, zu all euch Kindern rüde zu sein.“ erwiderte Bilbo trocken. „Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, Frodo... ich glaube, ich sollte mich zurückziehen.“ Er nickte ihm einen Gute-Nacht-Gruß zu und ging.


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